Attila Heller

R.O.M.E.


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bist ein außerordentlicher Idiot, ging er hart mit sich ins Gericht. Vor wenigen Stunden hat man dich noch umlegen wollen und jetzt sitzt du im Flieger nach Wien mit drei Typen, denen du nicht einmal vertraust. Hast dich einfach mit dem Hinwies auf die NSD abspeisen lassen, ohne auch nur einmal einen Dienstausweis oder etwas Ähnliches zu verlangen, wie ein eingeschüchterter, blauäugiger Grundschüler, der, bedroht von der Schülermiliz, beklommen mitgeht. Selbst ins Auto der drei Primaten bist du einfach so eingestiegen, blind vor Dummheit. Ein niederschmetterndes Fazit.

      In sich gekehrt und verstimmt, wie er war, fröstelte es ihn. Er hoffte, dass ihm seine Naivität nicht den Kopf kosten würde. Auf der anderen Seite jedoch, so erwog er ruhig und sachlich, lebte er noch. Sein Kopf saß fest wie eh und je auf seinen Schultern, sein Herz trommelte kräftig in seiner Brust und keinerlei Gedärme baumelten ihm aus der Bauchdecke. Auch hatte es nicht den Anschein, dass er als aufgequollene Wasserleiche auf dem Grund irgendeines Sees zwischen Elbe und Donau mit zig kiloschweren Ketten an den Fußgelenken enden würde. Wenn es also dieselben Personen wären, die ihn bereits letzte Nacht hatten beseitigen wollen, folgerte er, hätten die es wohl längst getan. Und insgeheim baute er auf die ehrbare Eigenschaft der Aufrichtigkeit. Seine Begleiter würden ihn schon sicher beim NSD abliefern, so hoffte er, und ließ den Blick einmal quer über die Sitzreihen schweifen. Aber dennoch, sicher ist sicher, die strengen Anweisungen des Flugpersonals waren ein Klacks, verglichen mit seinen Sorgen.

      Heimlich kramte er sein Mobiltelefon aus der Tasche und schaltete es, die linke Schulter abgewandt, in der kleinen Lücke zwischen Sitz und Bordwand ein. Geschickt tippte er mit kurzen Schlägen eine Nachricht und legte diese im Verteiler ab, bevor er sie an seine Freunde mit einem einzigen Befehl versandte. Im allerschlimmsten Fall wusste jetzt wenigstens eine Handvoll Studenten, wo man beginnen könnte, nach ihm und seinen Überresten zu suchen, falls er sich doch geirrt hatte und nicht mehr auftauchen sollte.

      Ein Ruck ging durchs Flugzeug und Jakob nahm, dabei sein Telefon zurück in die Hosentasche schiebend, senkrecht auf seinem Sitz Platz. Der Pilot hatte das Flugzeug soeben sicher auf der Landebahn aufgesetzt und die Geschwindigkeit seines Vogels nach unten geschraubt, sodass es jeden Passagier ein wenig aus der Sitzschale hob. Schließlich kam das Flugzeug sicher und wohlbehalten zum Stehen.

      Erleichtert schaute Jakob aus dem kleinen Loch neben sich, das Fenster war gerade mal so groß wie eine Wassermelone. Er hatte wieder festen und in diesem Fall grauen Betonboden unter seinen Füßen, der das gesamte Rollfeld ausschmückte und von gleichmäßig angeordneten Rillen durchzogen schien. Ihm fielen die endlosen dicken, tiefschwarz gefärbten Streifen ins Auge, die kreuz und quer ineinanderflossen und so dem weiten Rollfeld ein Muster verliehen, das sich ungleich über das gesamte Flughafenareal ausbreitete. Der Abrieb von wahrscheinlich tausenden Flugzeugen, die hier in den letzten Jahren gelandet waren, um letztlich wieder vollbeladen und vollbetankt weiterzufliegen.

      Jakob schloss die Augen und blickte gedankenvoll durch eine Scheibe. Er sah im Zeitraffer den Flughafen, einem gigantischen Bienenstock ähnlich, in dem trotz des unumgänglichen Durcheinanders das Ergebnis einer einwandfreien Logistik überraschte. Tower, Fluglotsen und Betankungsfahrzeuge. Signalfarben, Treppen und Autobusse. Koffer, Taschen, Stress und Gewusel, Menschen, so weit das Auge reichte. Jakob wünschte sich die befreiende Ruhe seines Einsiedlerateliers zurück. In seine Eindrücke platzte das urplötzlich sich wieder meldende Leben an Bord. Seine Begleiter lösten die Gurte und standen auf, bereit, den Airbus schnellstmöglich zu verlassen.

      Das Gleiche verlangten sie nun auch von Jakob, der sich durch die schroffen Anweisungen, die ihm keine Entscheidungsfreiheit ließen, zurück in die Vergangenheit katapultiert fühlte. Er erinnerte sich an ein Tafelbild in einer Vorlesung aus dem ersten Semester seines Studiums. Nach und nach kroch dieses Bild aus den hintersten und entlegensten Winkeln seines Hirns hervor und wurde vor sein inneres Auge projiziert: Danach befand sich der Hauptsitz des Nationalen Sicherheitsdienstes in der Rue Linois im fünfzehnten Arrondissement von Paris. Genau so hatte es Professor Friedmann an der Kreidetafel skizziert, ohne auch nur in einer Randnotiz die Stadt Wien zu erwähnen.

      Jakob taumelte benommen. Bedrängt von dem Wunsch die Flucht zu ergreifen, schaute er langsam zu einem der Hünen vor ihm im Gang auf, bis er in dessen dreckig grinsendes und widerwärtiges Gesicht blickte.

      „Los, den NSD lässt man nicht warten!“

      10. Kapitel

      „Petru, was machst du da?“

      „Nichts, Mutter.“

      „Du sollst mich nicht anlügen!“, schimpfte Violeta und zog dabei den dürftigen Fetzen beiseite, der die schmale Ecke vom restlichen Wohnraum der alten Hütte abtrennte.

      „Das hab ich nicht!“

      „Und was ist das?“, mit ihrem Finger zeigte Petrus Mutter auf das Schnitzmesser in seiner linken Hand. Er hockte auf der abgenutzten Matratze und vor seinen Füßen türmte sich gefährlich nahe am offenen Feuer einer Kerze ein Häufen abgehobelter Späne. Seine andere Hand versteckte er geschickt unter der Wolldecke, die zerknautscht auf seinem Schlaflager lag.

      „Wir haben bald Weihnachten“, erklärte er schüchtern.

      Violetas versteinerte Miene wandelte sich sogleich in ein gütiges Lächeln. Gerührt und mit Schuldgefühlen im Bauch, stand sie vor ihrem zehnjährigen Jungen, der sie mit seinen kaffeebraunen Augen ansah. Er ist so ein lieber, hilfsbereiter Bursche, erkannte sie erneut, und trotzdem ertappte sie sich zunehmend dabei, ihren über alles geliebten Petru gegenüber, der eine liebevollere Mutter als sie verdient hätte, unduldsam zu sein.

      In Violetas Seele stieg der Drang auf, einfach loszuheulen. Eine kleine Träne kullerte ihr über die Wange und benetzte die aschfahle Haut ihres schönen Gesichtes.

      „Ich hab dich lieb“, sagte sie schließlich und zog dabei sanft den Vorhang zu, der Petrus bescheidenes Reich absteckte.

      Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit. Sie hoffte, dass ihr Sohn ihre Liebe spüren könnte und dass er sie ebenfalls liebte, wenn man das als ihr Kind denn überhaupt konnte. Ihre Unzulänglichkeiten ließen sie daran zweifeln, jedoch die Tatsache, dass ihr Sohn heimlich an einem Geschenk arbeitete, schenkte ihr neue Hoffnung.

      „Ich hab dich auch sehr lieb“, flüsterte Petru durch den dürftigen Raumteiler hindurch und trat damit eine für ihn unerwartete Gefühlslawine seiner Mutter los. Ergriffen und überwältigt, sackte diese plötzlich in sich zusammen und ließ, mitten im Raum kauernd, ihren Tränen mit einer Mischung aus Schuld-, Glücks- und Mitgefühl freien Lauf.

      Irritiert linste der Kleine durch seinen Spion, einen Riss im schmutzigen und vom Küchengeruch stinkenden Vorhang, genau auf seiner Augenhöhe. Er beobachtet seine Mutter, die mit Heulkrämpfen kämpfte und sich irgendwie in einer Ecke der armseligen Hütte mit Arbeit abzulenken versuchte, was um diese Jahreszeit äußerst schwierig war. Denn hier oben, gefangen in Eis und Schnee, waren die Wintermonate mit ihrer Einsamkeit und Finsternis, Langeweile und Kälte eine physische Hölle für sie. Selbst das bevorstehende Fest brachte nur wenig Abwechslung. In vier Tagen würde alles vorbei sein und der Gedanke an die kommenden Wochen, gar Monate, reichte aus, um Violeta in ein riesiges, tiefschwarzes Loch mit messerscharfen Zähnen fallen zu lassen, das jeden Funken Hoffnung im Keim erstickte. Sie konnte das archaische Leben hier, ohne Strom und Wasser und den Komfort eines richtigen Bades, kaum noch aushalten.

      Für ihren Mann, einen Bergbauern, der seine Familie mit dem Böttchern von Fässern, einem seltenen und aussterbenden Handwerk, über Wasser hielt, hatte sie ihr altes Leben aufgegeben und es gegen ein erbärmliches neues getauscht, welches sie schleichend aufzufressen drohte. Kartoffeln ernten und Stall ausmisten waren an die Stelle von Kinobesuchen und Essengehen getreten.

      Violeta stoppte vor dem Kamin und starrte in das Feuer. Sie legte vorsichtig ein dickes Holzscheit nach, verzückt von den knisternden Flammen, die sofort danach griffen und es verschlangen. Sie musste stark sein und durfte nicht in den Flammen ihres Lebens zugrunde gehen. Ihr Mann Dumitru hing nicht an dem kleinen Berghof und eines Tages würden sie es sich leisten können: ein besseres Leben.

      Petru wiederum sah das Leben mit