Attila Heller

R.O.M.E.


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der Hand hatte, durch die U-Bahn der Linie 6 schmetterte. Ein paar Jungen, die sich im vorderen Bereich des muffligen Waggons befanden, schauten auf. Als sie Jakobs blutverschmierte Miene erblickten und die zerfetzte Kleidung an seinem Körper, wurden sie hektisch. Schnell rissen sie die Tür zum vorderen Abteil auf und verschwanden.

      Erst jetzt realisierte Jakob, was geschehen war. Er schaute an sich hinunter und bemerkte das Blut, welches die Jungen höchstwahrscheinlich soeben in Panik versetzt hatte. Die Explosion seines Wagens schien ihn schlimmer zugerichtet zu haben, als er zunächst angenommen hatte. Der Schmerz, vom Adrenalin in seinem Körper verdrängt, hätte ihn wenigstens ansatzweise ahnen lassen können, wie es wirklich um ihn und seine Gesundheit stand, doch spürte er ihn nicht und so blieb ihm lediglich die Möglichkeit einer visuellen Diagnose.

      Er krempelte einen Ärmel seines Hemdes hoch, indem er den Stoff dreimal umschlug und etwas zusammenquetschte. An seinem anderen Arm hing nur noch ein Kleidungsfetzen, den er symmetrisch zum gegenüberliegenden Ärmel auf selber Höhe abriss. Damit wischte er sich übers Gesicht. Er spürte sofort die aufgerissene Haut über seiner rechten Braue und das schmierige Blut, welches den hellen Stoff unverzüglich dunkelrot eingefärbt hatte. Unmittelbar unter seinem Brustkorb sah er zwei größere, schwarz umrandete Löcher in seinem Hemd, aus denen ein bisschen Blut tröpfelte. In einem der beiden klemmte ein kantiger, metallartiger Gegenstand, den Jakob als Bestandteil seines Autos identifizierte. Bis auf diese Verletzung unterhalb seines Bauchnabels schienen sich alle anderen Wunden auf Durchtrennungen oberer Hautschichten zu beschränken und stellten somit keine Gefahr dar. Teilweise hatte die Neubildung des empfindlichen Bindegewebes schon eingesetzt, das gut durchblutet und sauber in roter Farbe glänzte.

      Sorgen machte ihm einzig die Bauchwunde. Hier musste er schleunigst handeln, um den Fremdkörper zu entfernen und dann die Blutung zu stillen, damit der Heilungsprozess in Gang kam.

      Entschlossen packte er den Splitter am Schaft und zog ihn langsam heraus. Blut rieselte hervor und setzte zugleich die körpereigene Reinigung in Gang, wodurch Bakterien und Zelltrümmer aus der Wunde geschwemmt wurden. Das Loch in seinem Bauch fing schlagartig stärker zu bluten an und Jakob presste den grob abgetrennten Stoffrest seines Ärmels fest auf die offene Scharte. Zum ersten Mal fühlte er jetzt so etwas wie Schmerz, der seinen Leib zu peinigen versuchte. Mannhaft stemmte er sich gegen diesen Zustand, zwang sich in eine aufrechte Sitzposition und schaute mit stoischem Blick zum Fenster hinaus.

      Die U-Bahn hatte mittlerweile den Tunnelschacht verlassen und schlängelte sich oberirdisch ratternd über die auf Stahlträgern befestigten Gleise. Zu beiden Seiten standen mehrstöckige Altbauten, die grau und verlassen vor sich hin vegetierten und den Verlauf der Bahnlinie bestimmten. Viele der Fenster waren mit Brettern vernagelt und nur aus wenigen drang etwas Licht auf die Straße, die, gefüllt mit parkenden Autos, die eiserne Konstruktion begleitete. Das Rattern des Zuges nahm an Intensität zu, weil der Waggon an Geschwindigkeit verlor, bis er letztendlich in einer Station zum Stehen kam.

      Jakob schaute über den leergefegten Bahnsteig. Keine Menschenseele war zu sehen und außer Schmierereien an den Wänden fiel ihm nichts weiter auf. Es war ein trostloser Ort, dreckig und abgewirtschaftet und keinesfalls wert, noch länger in Augenschein genommen zu werden. Das Signal zur Abfahrt ertönte und gemächlich setzte sich die Bahn wieder in Bewegung, als er es zum ersten Mal sah. Verdutzt klebte er an der Scheibe und verfolgte das immer kleiner werdende Plakat, bis es hinter einem Vorsprung in der Wand der hellen Bahnhofshalle verschwunden war.

      „Hast du das gesehen, Andrej?“

      Doch diesen schien das nicht wirklich zu interessieren. Er saß immer noch, zu Boden schauend, auf seinem Platz und gab keinen Laut von sich. Weder Jakobs Verletzungen noch das Plakat an der Haltestelle konnten irgendeine emotionale Regung bei ihm erzeugen.

      „Das warst du, stimmts?“ Aber Andrej hüllte sich weiter in Schweigen. „Ich glaub es ja nicht.“

      Auf dem Bild, welches Jakob an sich hatte vorbeihuschen sehen, waren verschiedene Spieler der Sturmvögel, dem Team des Serienmeisters aus Berlin, abgebildet. Unter ihnen auch Andrej, der in der Mitte zwischen seinen neuen Kollegen den bräunlichen Basketball fest umklammerte. Stolz grüßte er als zukünftiger Profi all die Menschen, denen das Plakat ins Auge sprang, dort auf dem Bahnhof und wo es sonst noch aufgestellt war.

      „Wieso hast du mir nichts verraten?“, bohrte Jakob nach und auf einmal löste Andrej seinen starren Blick, hob den Kopf und sah seinen ihm gegenübersitzenden Freund verbittert in die Augen.

      „Wieso hast du nichts gesagt?“

      Jakob schob sich auf dem Sitz zurecht.

      „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

      „Den Mythos, Jakob. “

      Die Blicke der zwei Freunde trafen sich.

      „Es gibt ihn, stimmst? Und du bist der lebende Beweis!“

      Nun war es Jakob, der in sich gekehrt auf der Bank saß und kein Sterbenswörtchen mehr sprach. Von jetzt auf gleich hatten die zwei Freunde ihre Rollen getauscht und Andrej, als Terrier getarnt, verbiss sich mehr und mehr in seine Frage.

      „Ist es nicht so?“

      Sein Tonfall wurde lauter und barscher, kein Lallen oder Verschlucken einzelner Wortteile mehr, die Zeugnis davon ablegen könnten, dass er in den vergangenen Stunden die halbe Bar des Clubs leergesoffen hatte. Er vermittelte den Eindruck, hellwach und bei vollem Verstand zu sein.

      „Antworte mir!“, befahl er.

      Jakob zuckte mit den Schultern.

      „Du hast mich schon verstanden.“

      Jakob spuckte etwas Blut auf den Boden und holte tief Luft. Mit versteinerter Miene, die die Nachhaltigkeit seiner Worte unterstützen sollte, wandte er sich Andrej zu.

      „Vergiss, was du heute Nacht gesehen hast!“

      Irritiert runzelte dieser die Stirn. Das war nicht die Art Antwort, die er sich von seinem Kumpel erhofft hatte.

      „Vergiss, was du heute Nacht gesehen hast“, wiederholte Jakob kalt, eindringlich und ohne Ansatz jeglicher Gefühle. „Versprich mir das!“

      Andrej zögerte. Das war ein großes Opfer, welches Jakob da von ihm verlangte, und eigentlich konnte er der Anweisung nicht nachkommen, viel zu aufregend war diese Geschichte, als dass er einen Mantel des Schweigens darüber breiten wollte. Dennoch nickte er zustimmend.

      Zufrieden legte Jakob seinen hämmernden Kopf an die dünn gepolsterte Lehne des Sitzes und schloss seine Augen. Dies schien ihm die sicherste Möglichkeit zu sein, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen.

      „Weck mich, wenn wir da sind.“

      ***

      Das Mobiltelefon klingelte lautlos und machte sich, wenn überhaupt, nur in regelmäßigen Abständen durch Vibrieren bemerkbar. Ein gutgekleideter Mann Mitte vierzig nahm ab.

      „Ja.“

      „Hallo, Max“, sprach eine tiefe Stimme, ähnlich der eines Weihnachtsmannes in einem der überfüllten Kaufhäuser in dieser winterlichen Jahreszeit. „Wie lautet der Status?“

      „Negativ.“

      „Wie darf ich das verstehen?“

      „So, wie ich es gesagt habe. Der Auftrag ist nicht erfüllt.“

      „Warum denn das?“

      „Nun, nennen wir es mal menschliche Sympathie.“

      „Du verarschst mich, oder?“

      „Nein, keinesfalls.“

      Max nahm das Handy in die andere Hand und blickte zwinkernd um sich. Das Blaulicht der Rettungsfahrzeuge traf ihn mit voller Breitseite mitten ins Gesicht und er beschloss, von den grellen und gehässigen Blitzen gestört, die dunkle Gasse mit der grauen Pipeline aufzusuchen. Während er telefonierend an den Menschen vorbeiging, bemerkte er über seinem Kopf eine kleine silberschwarze Kugel, die in der Luft schwebte. Diese