Attila Heller

R.O.M.E.


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seiner Zigarette. Es würde eine lange Nacht werden. Dann traten er und Yves aus dem Zimmer, die Türe schnappte zu und zurück blieben ein glühender Zigarettenstängel und ein aufgeklapptes Notebook, auf dem das Pop-up-Fenster immer noch hell leuchtete, nur mit einem Unterschied: Eine weitere Stadt hatte sich soeben mit dem Status „in Ausführung“ in die Liste eingereiht.

      7. Kapitel

      Das grüne Licht der Ampel schimmerte auf die furchige, von endlosen Teerklumpen zusammengehaltene Straße und wies den wenigen Kraftfahrern, die aus dem Stadtzentrum Richtung Norden fuhren, freie Fahrt. Der Kreuzungsbereich, geräumig gestaltet, war unterteilt in jeweils zwei Fahrbahnen in beide Richtungen und zwei äußere Spuren zum Rechts- beziehungsweise Linksabbiegen. Ein kleiner Tross an Autos überquerte diese in gleichmäßigem Tempo. Den Abschluss bildeten zwei aufsehenerregende Mittelklasse-Limousinen, die Seite an Seite auf den beiden mittleren Spuren synchron vorankrochen. Aus dem dunkleren der Sportwagen drangen dumpfe Bässe nach draußen, hörbar und spürbar für alle, die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Beide Fahrzeuge waren tiefergelegt und hatten einiges an Optik zu bieten, Carbon & Chrome, so weit das Auge reichte.

      Mit einem Mal heulten die Motoren auf, hunderte von Newtonmeter prügelten schlagartig auf die Kurbelwellen ein und ließen die Wagen wie Geschosse nach vorne schnellen. Mit einem heftigen, ohrenbetäubenden Getöse fegten die zwei Kontrahenten über den Asphalt. Die Ampel hatte bereits die Farbe geändert und war im Begriff, von Orange augenblicklich weiter auf Rot zu wechseln, als der Fahrer des weißen Wagens, abgeschreckt von den möglichen Folgen eines Verkehrsdeliktes, abrupt von seinem Vorhaben abließ und voll in die Eisen stieg. Der Glanz seiner hell aufflammenden Rückleuchten übertraf den der inzwischen auf Dunkelrot stehenden Ampel um einiges. Mit quietschenden Reifen kam er kurz hinter der Haltelinie zum Stehen, während der andere Wagen triumphierend an ihm vorbeizog und die Kreuzung passierte. Im selben Moment zuckte das Blitzlicht des an der Straßenecke festgemachten Kontrollkastens auf, eine stählerne Box, die an einem dünnen Pfosten in den Fußweg eingelassen war.

      Idiot, dachte Jakob und schüttelte gehässig seinen Kopf. Noch so ein bekloppter Rowdy, dokumentiert, archiviert und freigegeben für die erbarmungslose Hetzjagd der gefürchteten Justiz des Landes, die einem Stamm launischer Kannibalen ähnelte.

      Jakob rieb sich die Nase und stellte die Musik lauter. Im Rundfunk spielte der Programmleiter einen durch Einsatz einer Bassdrum neu aufgelegten Oldie im Viervierteltakt ab, was schon eher etwas für ihn war als jenes Gehämmer von eben. Seine Blicke richteten sich auf den Kasten mit der kleinen Kamera. Eigentlich, meinte er jetzt, hätte er es einfach mal tun sollen: sein Hirn ausschalten, voll auf Durchzug, und mit allem, was sein Baby hergab, über die Kreuzung brettern, den Moment auskosten und diesen Affen im schwarzen Importwagen in die Schranken weisen.

      Doch sein Leben nach Herzenslust zu leben, mal Spaß zu haben, ohne immer an die Folgen zu denken, hatte Jakob längst verlernt. Dabei wären die etwaigen Folgen ein Witz gewesen. Die Behörden hätten die Bilder ausgewertet und festgestellt, dass sie ihm nichts anlasten könnten oder vielmehr dürften. Als Ringträger und zukünftige Persönlichkeit des Landes war er mit dem Status „Unantastbar“ versehen und somit für einen einfachen Beamten schon jetzt eine Nummer zu groß. An und für sich genoss er das auch, seine Immunität, die gewisse Freiheiten erlaubte, ihn aber auf der anderen Seite unweigerlich zum Diener des Ganzen machte. Denn am Staat und an seiner Berufung hegte er keinerlei Zweifel.

      Grün. Jakob schaltete in den ersten Gang und gab Gas. Er überquerte die Kreuzung und beschleunigte sein Auto in der stolzen Manier eines Rennfahrers in Nullkommanix auf über neunzig Stundenkilometer. Er hatte sich dazu durchgerungen und pfiff auf die Folgen, welche Folgen denn auch?

      Nach einigen hundert Metern verließ er die Hauptstraße und bog an einem trostlos wirkenden Aufgang einer U-Bahn-Station ab. Er machte sich nicht erst die Mühe zu bremsen, sondern schlitterte wie auf einer vereisten Fahrbahn um die Ecke. Sein Wagen lag wie ein Stein auf der Straße und zog die Blicke einiger junger Leute auf sich, die gerade den Tunnel heraufkamen. Jakob schaltete runter und beschleunigte wieder. Er fuhr schneller und bretterte nun regelrecht über das alte Fabrikgelände, auf dem er sich mittlerweile befand. Die enorme Beschleunigung seines Boliden drückte ihn immer tiefer in den Sitz, der ihn fast zu verschlingen drohte. Er konzentrierte sich, denn die vielen schmutzigen Lagerhäuser standen, verlassen und düster, bedrohlich nahe an der Strecke, die durch einen alten Drahtzaun auf der anderen Seite zusätzlich begrenzt war. Gefesselt vom Rausch der Geschwindigkeit, erreichte er das Ende der Straße. Abrupt zügelte er sein Tempo und blieb vor einer grauen Pipeline, die ihm buchstäblich den Weg abschnitt, stehen. Behutsam ließ er den Wagen über den Absatz des Bordsteins rollen und folgte einer schmalen, mit zahlreichen Steinen gepflasterten Gasse, die sich zwischen der Pipeline und einer Mauer auftat. Nach wenigen Augenblicken hatte er die kleine Straße passiert und stand nun vor einem hell erleuchteten Backsteingebäude, dem Glaswerk 21. Er war am Ziel und parkte seinen Schlitten direkt neben einem alten Bekannten, einem schwarzen Japaner.

      ***

      Das Glaswerk 21 war der angesagteste Club der Stadt, eine uralte Fabrik, umgewandelt zu einem ultramodernen und noblen Schuppen. Die riesige Halle war vor wenigen Jahren bis auf die Grundmauern entkernt und anschließend vollständig saniert worden. Ein gelungener Akt, stellte Jakob immer wieder fest, denn er mochte diese radikal erneuernde Art von Kunst. Die stämmigen Mauern erstrahlten dunkelrot und über dem Eingang hing eine riesengroße, aus Edelstahl gestaltete und beleuchtete „21“, die im alten Ziegelwerk verankert worden war. Attraktiv hohe Glasfassaden begrenzten den Bau und ließen auf den ursprünglichen Zweck dieses Gebäudes, eine Glasfabrik, schließen. Doch die Öfen glühten schon lange nicht mehr. Alles, was jetzt noch vor Hitze dahinschmolz, waren die zahlreichen, brechend vollen Tanzflächen im Kern der einstigen Fertigungshalle am Rande Berlins.

      Jakob riegelte mit der Fernbedienung seinen Wagen ab und ging einmal quer über die Straße. Am Eingang wartete schon eine Horde angetrunkener Typen, einer angetrunkener als der andere, die an den Türstehern, drei Türmen mit Schultern doppelt so breit wie normal, nicht vorbeikamen.

      Jakob schon. Er quetschte sich an dem pöbelnden Mob entlang, der ihn böse und lautstark zu beschimpfen begann. Die Stimmung sank rapide. Ein Kerl mit tief hängender Hose, Kapuzenpulli und Basecap packte ihn am Arm und zischelte wütend: „Hinten anstellen, Arschloch!“

      Jakob sah auf seinen Arm. Eine kräftige Hand mit einer schlangenförmigen Tätowierung hatte sich um seinen Bizeps gewickelt und hinderte ihn daran, weiterzugehen. Er erkannte auf Anhieb die Klaue, es war dieselbe Hand, die er zuvor am Lenkrad in dem schwarzen Wagen neben sich gesehen hatte. Welch interessante Fügung des Schicksals, dachte er, und mit todernster Miene blickte er sein Gegenüber an. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, mischte sich einer der drei Riesen ein.

      „Gibt es ein Problem?“, wollte der Türsteher wissen und während er die beiden fixierte, bemerkte der den matt glänzenden Ring an Jakobs linkem Finger und begann gleich, die Streithähne zu trennen, indem er sich energisch wie zielstrebig dazwischenschob. „Alles cool, alles cool, okay?“ Dabei schaute er zu dem Typen mit dem Kapuzenpulli.

      Zögerlich wich dieser einen Schritt zurück und vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Hose. Der Türsteher wiederum gebrauchte keine Worte mehr, um zu verstehen zu geben, dass Jakob ihm folgen sollte und der schnaufende Kappenträger nicht. Ohne ein Nachspiel folgte Jakob den mit Muskeln bepackten Fleischklops ins Innere des Partytempels. Sein Status als Ringträger hatte ihn mal wieder zum Gewinner gemacht.

      Schon der Glastunnel hielt all den Erwartungen stand und war den Eintritt vollends wert. Lang sich hinziehend, bildete er die Aorta des gesamten Clubs und verband dessen Bereiche miteinander, das Erdgeschoss und das Stockwerk darüber. Jakob lief durch die Röhre und begutachtete das Panzerglas. Gebogen wölbte es sich über seinem Kopf und ließ, je nach Abschnitt, freien Blick auf hunderte Beine, die sich über ihm auf den Tanzflächen tummelten. Platzangst wäre hier fehl am Ort. Es war ein bedrückendes Gefühl, unter den Unmengen von Lederschuhen und Sneakern hindurchzulaufen, zumal der Boden, mit einer Art Spiegelglas versehen, das Gewusel prima reflektierte. Unterschiedlichste ebenfalls aus Sicherheitsglas bestehende Schiebetüren verbanden die Räume mit einem