Attila Heller

R.O.M.E.


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möchte mir ein Beispiel an Mrs. Raichand nehmen und gern die Frage, Professor Friedmann, die im Übrigen noch nicht komplett beantwortet wurde, vervollständigen.“

      Des Professors Laune baumelte jetzt am seidenen Faden. Das Gesicht, von Zornesröte übergossen, zeugte von einem akut bedrohten Gemütszustand, einem brodelnden Vulkan kurz vor einer heftigen Eruption. Doch zu Andrejs und vermutlich aller Verwunderung sagte der Professor im duldenden Ton eines Großvaters: „Bitte Lemmon, die Bühne gehört Ihnen."

      Erleichtert ging Jakob sein Vorhaben an. Beobachtet von Friedmanns Blicken, richtete er sich auf. Der ganze Saal starrte ihn an, wieder einmal. Er wartete, er wartete so lange, bis jeder im Raum das Verlangen verspürte, seine Antwort wissen zu wollen. Die Spannung stieg allmählich ins Unermessliche, ein Psychospiel ganz im Stile des Professors, nur dass die Bühne diesmal ihm gehörte.

      „Meine Aussage bedarf keines Kommentars.“

      Ein Raunen ging durch den Saal. Mit dieser Art Antwort hatte keiner gerechnet, auch Andrej nicht. Dieser schaute zu Jakob auf. Was hatte der soeben von sich gelassen?

      „Lemmon, es reicht“, hallte es durch den Saal.

      Die Studenten zuckten zusammen. Jakob jedoch, unbeirrt von Friedmanns neuerlichem Anfall, hob seinen Arm. Er deutete mit der Hand auf eine Fläche vor ihm an der Wand. Regungslos verweilte er in dieser Stellung in der obersten Reihe. Die ersten Studenten begannen zögerlich ihre Blicke von ihm zu lösen und folgten still seinen Anweisungen. Auch Friedmann drehte zaghaft seinen Kopf und schaute auf die in der Wand verankerte Kreidetafel. Der alte Professor wusste ganz genau, welche Botschaft über seinem Haupt prangerte, und dennoch musste er die ins harte Mauerwerk gemeißelten Buchstaben lesen: „R.O.M.E.“

      Die Zeit stand still. Dem Professor fehlten die Worte. Zum ersten Mal schien er als Verlierer vom Platz gehen zu müssen. Die Republic of Modern Europe war das Endziel dieser Elite-Universität und Jakob hatte dies eindrucksvoll und ohne ein einziges Wort zu gebrauchen erläutert.

      „Mr. Lemmon, eine blendende Vorstellung.“

      Jakob grüßte und fügte hinzu.

      „Moderne Demokratie.“

      Damit war nun allen Anwesenden im Hörsaal klar, was er meinte. Das Ziel der Theodor-von-Meye-Universität war es, die Eliteschüler auf allen wichtigen Ebenen der Gesellschaft zu integrieren, ihren Einfluss zu nutzen und so die perfekte, die moderne Demokratie der R.O.M.E. am Leben zu halten.

      Professor Friedmann strich sich mit der Hand von der linken Wange aus über sein Doppelkinn, er dachte intensiv nach. Dann begann er etwas mit weißer Kreide an die Tafel zu skizzieren. Dabei fauchte er: „Hat noch jemand von Ihnen etwas zu sagen?“

      Niemand wagte es.

      „Klasse. Dann können wir ja abschließend mit unserem eigentlichen Lehrstoff weitermachen und ach …“, fügte er leise hinzu, „Mr. Lemmon und Mrs. Raichand, Sie beide sehe ich später noch in meinem Büro, verstanden!“

      5. Kapitel

      „Setzt euch.“

      Jakob und Neraj nahmen auf der grünfarbigen, fleckigen und abgewetzten Couch neben dem geöffneten Fenster Platz. Unzählige Risse durchzogen das Leder. Wie vielen Studenten dieses Möbelstück schon eine Sitzgelegenheit geboten hatte, ließ sich in Zahlen nicht feststellen. Aber es müssen viele gewesen sein, sehr viele, dachte Jakob.

      Der Professor nahm drei Tassen von dem Wandregal.

      „Tee?“

      Jakob und Neraj stutzten und schauten sich an. Das Schweigen im Raum deutete Friedmann letztendlich als ein unmissverständliches Nein.

      „Dann eben nicht.“

      Er platzierte zwei Porzellantassen zurück an ihre Stelle. Das Wasser im Kocher brodelte bereits und Friedmann nahm den Behälter von der Heizspirale. Er öffnete einen Flügel des kleinen Hängeschränkchens direkt über der Spüle und fand die Blechdose mit dem Zucker. Etwas konsterniert schielte er hinein.

      „Heute müssen wohl zwei Würfel reichen.“

      Er nahm die letzten beiden Zuckerstücke heraus und ließ sie in seine Tasse mit dem Granulat fallen.

      „Ihr trinkt beide keinen Tee?“

      „Nicht so gerne.“

      „Und du?“

      Jakob schüttelte seinen Kopf.

      „Wollt ihr dann etwas anderes haben? Ein Wasser?“

      „Warum eigentlich nicht?“, entgegnete Neraj und stupste roh ihren wortkargen Platznachbarn mit dem Ellenbogen an. Aufdringlich fragte sie: „Willst du auch ein Wasser?“

      Jakob schüttelte erneut seinen Kopf.

      „Nein, ich möchte nichts, danke.“

      „Okay, bekommt halt nur Neraj ein Wasser.“ Friedmann bückte sich und holte ein Fläschchen Mineralwasser hervor. Er öffnete den Verschluss gekonnt an der Tischkante und reichte seiner Schülerin die Flasche.

      „Noch ein Glas?“, fragte er.

      „Geht schon“, sagte Neraj und nahm einen Schluck.

      „Hatte ich mir schon gedacht, ist uncool, stimmts?“

      Sie musste schmunzeln und der Professor wandte sich wieder seinem Heißgetränk zu. Er nahm die weiße Tasse mit dem Goldrand in seine linke Hand und den Behälter in seine rechte. Vorsichtig goss er das dampfende kochende Wasser auf. Aus der Brusttasche seines Polohemdes zauberte er einen kleinen Löffel hervor, mit dem er gemächlich wie in Zeitlupe das Wasser, den Zucker und das Granulat umrührte. Schnell wandelte sich das schwache Rosa in ein kräftiges, leckeres Rot. Friedmann nahm eine Kostprobe. Er schlürfte ein paar Tropfen vom Rand der Tasse und stellte diese sofort zurück auf den Untersetzer.

      „Heiß“, sagte er und drehte sich dabei um. Er suchte mit seinem Körper jetzt Halt an der Spüle. Halb sitzend und halb stehend, lehnte er an dieser und schaute zu Jakob und Neraj hinüber, die sich ein wenig unbehaglich fühlten. Trotz seiner Bemühungen, ungeniert und höflich zu wirken, wollte das Eis zwischen ihm und seinen zwei Schülern auf dem Sofa nicht brechen. Er umklammerte seine Tasse und rührte ohne Ziel darin herum, überlegend, wie er fortfahren sollte.

      „Also gut“, mutmaßte er letztlich, in sich gekehrt. „Ich habe absolut keinen Schimmer, was da zwischen euch beiden läuft. Aber eure kleine Vorstellung eben im Hörsaal war jedenfalls hoch interessant.“

      Jakob horchte auf.

      „Das sehen Sie falsch, Professor. Zwischen mir und Neraj läuft überhaupt nichts! Das können Sie umgehend wieder von Ihrer Festplatte löschen.“

      „Ach komm schon, Schatz.“ Neraj nahm Jakobs Hand.

      „Kannst du das lassen!“, empörte sich dieser, es ärgerte ihn bereits ungeheuer, dass die halbe Schule dachte, er und Neraj wären ein Paar. Doch nun hatte es diese Schlange auch noch geschafft, dem Professor dies Lügenmärchen aufzutafeln, ganz frei nach dem Leitspruch: Was sich neckt, das liebt sich. Doch damit konnte er nicht leben. Er konnte immer noch für sich selbst sprechen und musste die Sache klarstellen, Friedmann von der falschen Fährte abbringen.

      „Hören Sie, es tut mir leid, dass wir vorhin Ihre Vorlesung geschmissen haben. Es hatte sich am Ende aufgeschaukelt in der Hitze des Gefechtes. Es wird niemals wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen.“

      Friedmann nippte an seiner Tasse.

      „Kein Problem, Jakob, wirklich nicht.“

      Er nahm erneut einen Schluck.

      „Ich empfand es als belebend und total überzeugend. Nerajs Vergleich mit den Diamanten und deine Ausführungen waren Gold wert, genau richtig, um all den Schülern vor Beginn der Semesterferien ihre Bedeutung ins Gedächtnis zu rufen. Die Studenten dieser Universität sind die Zukunft der Republik, diese Verantwortung kann man nicht oft genug rekapitulieren.