Attila Heller

R.O.M.E.


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milde Temperaturen über der Stadt. An jeder beliebigen Straßenecke konnte man Menschen sehen, die, nur mit Strickjacke und Jeans bekleidet, ihre Weihnachtseinkäufe tätigten. Sie schlenderten, ihre Einkaufsbeutel fest umklammert, durch die überfüllten Passagen und spähten getrieben durch die Schaufenster der Läden, immer auf der Suche nach dem perfekten Geschenk. Die zahlreichen Alleen im Zentrum der City dufteten nach köstlichen hartgebrannten Mandeln und herb gerösteten Maronen. Lichterketten hingen in den Linden und wechselten ständig blinkend die Farben zwischen Violett, Grün, Rot und Gelb. Aus jedem Geschäft drang, schier nie endend, eine andere Weihnachtsmelodie auf die Fußgängerwege, unterstützt und getrieben vom Konsummissbrauch der Bevölkerung. Autos bahnten sich lärmend und hupend ihren Weg durch die bunten Massen, dicht gereiht, Stoßstange an Stoßstange klebend, im Schritttempo vorwärtsschleichend.

      Mitten in diesem Gemenge, an der U-Bahn-Haltestelle Neue Wache, nicht weit vom historischen Reichstag und dem Brandenburger Tor gelegen, zweigte eine kleine Gasse ab. Unauffällig und eher schwach beleuchtet, passte sie so gar nicht in das Bild der umliegenden Einkaufsmeilen. Zu beiden Seiten ließen die Wände der mehrstöckigen Geschäfts- und Wohnkomplexe nur einen Hauch an Licht auf die gepflasterte Straße zu und jeder, der hier vorbeiging, ignorierte diesen unscheinbaren Seitenarm im Zentrum der stark pulsierenden Metropole. Ein perfekter Standort für die zukünftige Elite des Landes: zentral, voll im Geschehen und gut zu erreichen. Aber dennoch war man unter sich und effektiv isoliert.

      Der kleine Durchgang namens Theodor-von-Meye-Gasse verlief etliche Meter zwischen den umliegenden Bauwerken hindurch, bevor er im rechten Winkel abknickte und hinter einer hohen Fassade, unsichtbar von der Hauptstraße aus, im Schatten verschwand. Erst jetzt teilte das Gässchen seine wahre Identität mit, den eigentlichen Grund seiner Existenz. Im Schutze der vielen Häuser lag ein etwa anderthalb Hektar großes, von einem Zaun umringtes Anwesen. Die Schule der Future Group of Europe, oder offiziell, wie im alten Stadtarchiv erwähnt: die Theodor-von-Meye-Universität.

      Wie eine Oase ragte der Campuskomplex hervor, umringt von einer Mauer aus Stahl, Glas und Beton. Viele Bäume und Büsche verzierten die offen gestalteten Grünflächen und vermittelten so den Anschein einer grünen Lunge zwischen den dunklen Hinterhöfen der benachbarten Häuser. Der einzige öffentliche Zugang zur Universität verlief über die kleine Gasse, vorbei an einem Pförtner, entlang der wehenden Fahnen der Mitglieder des Neuen Europas – die Gründer und Förderer dieser Eliteschule – bis hin zum Aufgang des Hauptgebäudes. Vor den Treppen, die zum dreitürigen Eingangsbereich führten, posierte die protzige Bronzestatue Theodor von Meyes. Von der grünen Patina des Kupfers überwuchert, gezeichnet von Wind und Wetter, sah sie eher mitgenommen und heruntergekommen aus als ehrenhaft oder respekteinflößend. Die vielen Studenten beachteten sie kaum, nur dann, wenn sie eine Gelegenheit suchten, ihre Schulbücher oder ihren Kaffee abzustellen.

      Auch Jakob und Andrej ignorierten die Statue. Im Eiltempo rannten sie an ihr vorbei, ohne einen einzigen Blick zu verschenken.

      „Los Jakob, beeil dich gefälligst mal.“

      „Du hast gut reden, Alter. Anstatt vorwegzulaufen könntest du mal mit anpacken“, flehte dieser außer Atem.

      Außer seinem Rucksack, der schon halb an seiner Schulter heruntergerutscht war, hatte er noch einige Bücher und Papierrollen unter seinem Arm klemmen. Er stolperte hastig die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen mit einem Mal und verlor dabei die ganze Ladung.

      „Verdammt!“

      Vom Gepolter gestoppt, drehte sich Andrej um und schaute hämisch lächelnd auf seinen Freund, der auf der Treppe kniete und seine Sachen zusammenkramte.

      „Grins nicht so, sondern hilf mir mal.“

      „Wieso packst du das Zeug nicht in deinen Rucksack?“

      Andrej stieg zwei Stufen zurück und las einige Bücher über Kunstgeschichte und abstrakte Kunst vom Boden auf. Er schaute skeptisch auf die Literatur.

      „Ich frag mich immer noch, wie du bloß an diese Schule gekommen bist?“

      „Warum nicht?“, erwiderte Jakob. „Unsere Universität bietet das komplette Studienprogramm: Medizin, Wirtschaft, Sport, Architektur, Kommunikationstechnik und eben auch Kunst, wenn du das noch nicht bemerkt haben solltest.“

      Andrej lachte.

      „Und außerdem solltest du lieber die Klappe halten. Die Frage lautet doch, wieso du mit deinem Notendurchschnitt überhaupt noch hier bist?“

      Andrej schluckte, denn Jakob hatte Recht. Nur seinem außerordentlichen Talent hatte er es zu verdanken, hier auf dieser Schule zu sein. An seiner Gelehrtheit konnte es nicht liegen, denn besonders befähigt fühlte er sich nicht, eher war er allzeit am Kämpfen um bessere Noten und abhängig von der Gnade der Mentoren, die immer öfters zwei Augen zudrücken mussten, damit er das Semester einigermaßen überlebte. Nachdenklich hob er den letzten Band auf.

      „Erinnere mich bloß nicht daran.“

      „Tue ich aber!“

      Jakob und Andrej grienten sich an.

      „Komm, lass uns gehen. Wir sind eh schon spät dran.“

      Andrej nickte und beide flitzten durch den Eingang ins Hauptgebäude. Sie wussten ganz genau, weswegen der Staat ihnen die Möglichkeit gab, an dieser Eliteschule zu studieren. Die Theodor-von-Meye-Universität diente nicht dem Zweck, auf jedermanns Hochzeit den perfekten Walzer zu tanzen, sondern bot einzig und allein die Möglichkeit, der Bestmögliche auf einem ganz speziellen Gebiet zu sein. Und das waren Andrej und Jakob zweifellos. Einmal im Kreise der Future Group of Europe aufgenommen, waren ihre Laufbahnen im System bereits vorprogrammiert. Alles andere war nur eine unwichtige Zugabe, die eben Allgemeinwissen verlangte.

      Schnellen Schrittes gingen sie den ellenlangen und mit zahlreichen Bildern alter Studenten vollgehängten Flur entlang. Alles Studenten, die es in der Gesellschaft zu Ruhm und Ansehen gebracht hatten und diese nachhaltig beeinflussten. Frühere Eliteschüler, die in diesen Räumen die Schulbank gedrückt hatten und nun als Pioniere an der Wand hingen. Ihre wichtigste Aufgabe in diesen Gemäuern bestand darin, das Ego der aktuellen Ge neration zu impfen. Die Schüler sollten zu ihren Idolen aufschauen und den Wunsch entwickeln, durch Fleiß, Solidarität und Gehorsam genauso erfolgreich zu sein wie diese. Auch sie sollten ihren angestammten Platz in der Gesellschaft einnehmen und eines schönen Tages selbst als Foto im hellgrauen Gang dieser Universität hängen.

      „Ich will nicht auf so ein Schwarzweißfoto“, sagte Jakob energisch, dabei die einzelnen Männer und Frauen auf den Lichtbildern betrachtend. „Und du?“

      „Nein, aber mit einer Statue könnte ich eventuell leben.“

      „Vielleicht …“, Jakob überlegte. „Vielleicht widme ich dir eines meiner nächsten Projekte: ein lebensgroßes Denkmal im Stile Michelangelos aus Marmor. Andrej der Starke.“

      „Nur zu, tue dir keinen Zwang an. Nur zieh mir bitte was drüber, wenigstens einen Slip. Du weißt schon, warum. Wir wollen doch niemanden ernsthaft in erregbare Verlegenheit bringen.“ Andrej kicherte und Jakob war beeindruckt. Spielte dieser Kunstbanause etwa auf die weltberühmte Statue des jungen Davids an, die in der Galleria dell’Accademia mitten in Florenz stand?

      Schließlich erreichten sie den riesengroßen Hörsaal der Universität. Wie bei einem zentral gelegenen Bahnhof im Knoten der öffentlichen Verkehrsbetriebe gingen von diesem Raum alle Korridore aus. Er war der Mittelpunkt der Eliteschule. Das gesamte Leben innerhalb dieser Mauern spielte sich in seinem Bereich ab. Die schräg aufsteigenden Ränge glichen dem Innenraum eines alten, antiken Kolosseums und gestatteten den Studenten eine perfekte Sicht auf die Tafel, die Leinwand und den Imperator höchstpersönlich. Die Akustik war beispiellos und sicherlich einzigartig für solch einen großen, circa fünfhundert Personen fassenden Saal wie diesen. Abgerundet wurde der architektonische Meisterbau von einer protzigen Glaskuppel, die alle anderen Bauten des Campus im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten stellte.

      Jakob und Andrej hielten abrupt vor der geschlossenen durchsichtigen Flügeltür an. Sie lugten wortlos in den Saal. Die gesamte Elite hatte sich versammelt,