Attila Heller

R.O.M.E.


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bedächtig einen der beiden Türflügel. Dicht gefolgt von Andrej, trat er ein. Auf der Suche nach zwei leeren Plätzen spukten sie auf Zehenspitzen die hintere Reihe entlang. Ihre Mienen waren dabei kalt und regungslos, fast wie die Visagen zweier Berufsverbrecher vor dem Clou ihres Lebens. Doch in Wirklichkeit versteckte sich dahinter ihre bloße Angst vor einer öffentlichen Demütigung.

      „Guten Tag, die Herren!“ Professor Friedmann hatte die beiden Nachzügler längst ausgemacht und vergeudete keinen Gedanken daran, sie sich ungeschoren setzen zu lassen. „Es freut uns alle sehr und insbesondere mich, dass Mr. Lemmon und sein Kompagnon Mr. Nikolajew sich die Ehre geben, der Vorlesung beizuwohnen.“

      Andrej rollte mit seinen Augen. Er war genervt von den ständig übertriebenen Inszenierungen des Professors. Konnte der sie nicht einfach ignorieren und in Ruhe lassen?

      „Es ist ja nicht so, dass Pünktlichkeit eine Tugend wäre, auf die ich oder unsere Schule besonderen Wert legen“, erklärte Friedmann mit trügerischem Unterton, „doch nun sind Sie ja glücklicherweise angekommen, sitzen bequem und haben bestimmt auch nichts dagegen einzuwenden, mich tatkräftig zu unterstützen, oder?“

      Professor Emmerich Friedmann war ein Lehrmeister der Rhetorik. Er verstand es wie kein anderer, über einen simplen Satz seitenlange Aufsätze zu verfassen. Wenn er erst einmal aufblühte, von irgendetwas begeistert war und die Aussicht bekam, seinen Senf dazuzugeben, brachen alle Dämme.

      „Also, sie zwei Helden“, sagte Friedmann ruhig, „kann mir einer von ihnen den Sinn und Zweck oder, besser noch, das Endziel dieser Universität erklären? Sie vielleicht, Mr. Nikolajew?“

      Andrej schaute zu Jakob, dann an die Decke und letztlich mit zuckenden Achseln in Friedmanns Gesicht. Er hätte antworten können, tat es aber nicht. Er wollte dem primitiven Spielchen Friedmanns keine Nahrung geben und entschloss sich prompt zu schweigen. An ihm sollte sich der Professor nicht ergötzen können.

      „Gut, dann beantwortet eben Mr. Lemmon meine Frage.“

      Jakob stöhnte. Beobachtet von annähernd vierhundert Augenpaaren, überlegte er angestrengt, sodass seine Stirn in Falten stand. Schließlich rang er sich zu einer Antwort durch und legte los.

      „Der eigentliche Sinn unserer Universität“, begann er, „besteht darin, besonderen Talenten die Möglichkeit zu geben, unter optimalen Bedingungen und unter der Vormundschaft des Staates ihre Gabe zu perfektionieren.“

      „Zum Beispiel?“, fragte der Professor nach.

      „Zum Beispiel Andrej. Ich kenne keinen Zweiten, der so exzellent den Ball behandelt wie er!“

      „Der einfache Grund dafür könnte ihr Desinteresse am Basketball sein, Mr. Lemmon. Aber Sie haben durchaus Recht. Fahren Sie doch bitte fort.“

      „Das Endziel ist, unsere Fähigkeiten zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Unsere Universität kann somit für jeden Einzelnen von uns das Sprungbrett in eine frohe und erfolgreiche Zukunft sein.“

      Jakob griente. Von seinem aufmunternden Schlusssatz angetan, fühlte er sich schon auf der sicheren Seite, als der Professor tief Luft holte, die flache Hand auf das Pult knallte und so einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugte.

      „Falsch, Ihre Aussage ist falsch, Lemmon.“ Friedmann ließ jetzt die Förmlichkeiten außer Acht. „Die Theodor-von-Meye-Universität kann nicht nur das Sprungbrett sein, sie ist es bereits. Alle, die hier in diesem Hörsaal sitzen, haben sich bereits entschieden und sind gesprungen. Ja, sie sind alle ausnahmslos gesprungen, gesprungen in die Mitgliedschaft der Future Group of Europe!“

      Friedmann war erbost. Er streckte seinen kleinen linken Finger senkrecht in die Höhe und verweilte in dieser Stellung.

      „Schauen Sie sich diesen meinen Ring genauestens an. Ist das nicht der gleiche silbermatte Ring, mit demselben kantigen Wappen, den Sie auch tragen?“

      Der Professor starrte fanatisch auf einen Studenten in der ersten Reihe, ein Bauernopfer, das schnellstmöglich mit dem Kopf zustimmend zu nicken begann.

      „Sie alle tragen diesen Ring und haben sich demzufolge praktisch wie auch symbolisch an dieses System gebunden. Unser Staat bietet Ihnen, den Besten der Besten, eine ideale Grundlage, um in Ihrem Leben erfolgreich zu sein. Es wird von Ihnen nur verlangt, an dieser Gesellschaft teilzunehmen und sie in Verbundenheit mit dem System zu formen.“

      Emmerich nahm Fahrt auf und war im Begriff, sich völlig in Rage zu reden, als ihn eine Studentin aus dem Konzept brachte. Sie meldete sich, dabei heftig mit den Fingerkuppen schnipsend.

      „Was ist denn, Mrs. Raichand?“, sagte der Professor hitzig.

      „Ich wollte gerne einen Beitrag zur letzten Fragestellung leisten, wenn es recht ist?“

      Friedmann überlegte, kniff seine Augen zusammen und betrachtete die junge Dame in der vorletzten Reihe. Er war auf der Suche nach dem Haken an der Sache. Seit er an dieser Universität dozierte, hatte es noch kein Student gewagt, ihn in seinen Anfällen zu unterbrechen.

      „Mrs. Raichand, ich hoffe für Sie sehr, dass Ihr Beitrag gut überlegt und eine echte Bereicherung für uns alle ist.“

      „Oh, das glaube ich schon. Denn ich möchte den Sinn dieser Universität gerne mit einer Ihrer fabelhaften früheren Ausführungen vergleichen, Professor Friedmann.“

      Jetzt hatte sie den Professor tatsächlich am Haken. Von Neugier getrieben, welche seiner Aussagen sie zitieren würde, stimmte er bereitwillig, fast schon unbeherrscht wie ein Kind vor einem Haufen Süßigkeiten zu.

      „Laut Ihnen, Professor, können die Studenten unserer Universität mit der kubischen Modifikation des Kohlenstoffs verglichen werden, einem Diamanten. Die Aufgabe und somit der Sinn unserer Schule besteht einzig darin, diese wertvollen Kristalle zu finden, sie zu formen und weiter zu härten. Es spielt dabei keine Rolle, welcher Herkunft er ist, welchen sozialen Status er hat oder welche herausragende Eigenschaft der Diamant, also der Student, sonst noch besitzt. Er muss aber in der Lage sein, durch seine Fähigkeiten den Grundgedanken des Staates zu leben und diesen auch festentschlossen in die Gesellschaft weiterzutragen.“

      Friedmann verblieb mit geschlossenen Augen an seinem Pult, seine Arme stützten den schweren Körper und er ließ die Worte auf sich wirken. Er genoss das würdevolle Gefühl, vor Schülern der Universität zitiert worden zu sein.

      „Exzellent und wirklich hervorragend, Mrs. Raichand. Daran könnte sich manch anderer ein Beispiel nehmen.“ Emmerich schaute dabei zu Jakob und Andrej hinauf.

      Neraj Raichand nickte, setzte sich hin und suchte dabei energisch den Blickkontakt mit Jakob Lemmon. Der saß nur eine Bank von ihr entfernt in der obersten Reihe und beugte sich vor. Ihre Blicke trafen einander. Schlagartig wandelte sich ihr süßes Lächeln in ein spöttisches, dreckiges Grinsen. Sie öffnete ihren Mund ein wenig, drückte die kleine, spitze Zunge heraus und formte gleichzeitig den Daumen und den Zeigefinger ihrer linken Hand zu einem eindeutigen Zeichen und hielt es sich vor die Stirn.

      „So ne Schlange“, ärgerte sich Andrej.

      „Lass es nur gut sein“, beruhigte Jakob seinen entrüsteten Banknachbarn und gab ihm damit zu verstehen, dass alles in bester Ordnung sei. Er meldete sich.

      „Was hast du jetzt schon wieder vor? Spinnst du?“

      „Bleib locker.“

      „Dem Professor wird das gar nicht gefallen.“

      „Dem Professor vielleicht nicht, aber mir.“

      Friedmann wollte gerade im Lehrplan weitermachen, als er Jakobs erhobenen Arm entdeckte. Er traute seinen Augen kaum. Was war denn heute nur los mit diesen Studenten? Der nächste, der sich innerhalb kürzester Zeit anmaßte, ihn, den Gefürchtetsten aller Professoren, zu unterbrechen.

      „Lemmon, wir haben weitaus Wichtigeres vor uns als Ihre albernen Spielchen. Was um alles in der Welt wollen Sie denn jetzt noch“, Friedmann schnaufte.

      „Ich möchte mir nur ein Beispiel nehmen“, sprach Jakob trocken.