Philipp Porter

Es bleibt für immer ein Geheimnis


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nur nachdenklich aus dem Seitenfenster zu Wendsteins Haus. „Seltsam …“, murmelte er und kaute dabei an seinem rechten Daumennagel herum.

      „Was ist seltsam?“, fragte Schimmer, der mit Hofers Bemerkung nicht viel anfangen konnte.

      „Na ja. Es möchte keiner wissen, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Ist doch merkwürdig, oder? Würdest du nicht fragen, was passiert ist, wenn deine Frau bei dem Absturz umgekommen wäre?“

      „Natürlich, sicher. Aber Weidmann hat so etwas Ähnliches gefragt, und ich nehme an, dass er seine Informationen über den Absturz weitergegeben hat.“

      „Ja, schon. Aber es gibt doch immer noch Fragen. Ich kann dir nur sagen, das stinkt gewaltig“, sagte Hofer bestimmt, kurbelte das Seitenfenster einen Spalt weit nach unten und schnippte seine Kippe hinaus. Danach ließ er sich in den Sitz sinken und schloss die Augen.

      Schimmer schaute Hofer, der offensichtlich innerhalb von nur wenigen Sekunden einschlafen konnte, von der Seite an und gab ihm insgeheim recht. Seltsam war das Verhalten der Angehörigen schon. Aber sie hatten nur den Auftrag, die Hinterbliebenen zu unterrichten, und dies und nichts anderes würde er tun.

      *

      Die Wohnung von Petra Fendrich befand sich in einem abgelegenen Haus, das in Schmargendorf in der Kleingärtenkolonie lag. Schon von der Straße aus konnte Schimmer erkennen, dass es einen direkten Zugang in ein Waldgrundstück gab, und er fragte sich, ob Petra Fendrich einen Schrebergarten hatte. Er stellte den Wagen am Straßenrand ab, stieg aus und schaute sich auf dem verwilderten Gelände um.

      Das Anwesen passte nun gar nicht zu den prächtigen Villen, die er in den vergangenen Stunden gesehen hatte, und stand in solch einem krassen Gegensatz dazu, dass es im Ansatz schon einige Fragen aufwarf.

      Eine kleine, halb verwitterte und mit Brettern zugestellte Laube stand vor einem alten, vermoderten Zaun, der das Grundstück zu den anderen Gärten hin abgrenzte. Kartoffelkraut lag aufgetürmt in einer Ecke und bildete mit anderen Gartenabfällen einen riesigen, schneebedeckten Haufen, der vermutlich schon einige Zeit vor sich hingammelte. Die Rabatten waren schon lange nicht mehr bepflanzt worden und große Büschel verwitterten Grases wuchsen aus ihnen hervor. Das gesamte Grundstück war verwildert und heruntergekommen.

      Einige Meter von dem Haus entfernt war ein verrosteter alter Schubkarren abgestellt, in dem ein kleiner Schneemann stand. Seine schwarzen Eierkohlenaugen starrten Schimmer stumm an, und er musste über die krumme, lange Karottennase, die der Schneemann hatte, schmunzeln. Er dachte dabei an seine Kindheit und an die schönen Stunden, die er in ihrem Schrebergarten mit seiner jüngeren Schwester verlebt hatte.

      „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

      Schimmer fuhr erschrocken herum, da er die Frau, die nur drei Schritte hinter ihm stand, nicht bemerkt hatte. Er war von ihrem plötzlichen Auftauchen völlig überrascht.

      „Ich, ich möchte zu Frau Fendrich, Petra Fendrich“, sagte er daher nur und suchte die Umgebung mit schnellen Blicken ab, um herauszufinden, von wo die Frau plötzlich gekommen war.

      Neugierig, mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen sah ihn die Frau an. „Jetzt wird’s schwierig“, sagte sie, und das Lächeln ging in ein Lachen über. „Meinen Sie meine Tochter oder meinen Sie mich?“ Schimmer schaute wohl etwas irritiert und daher sprach die Frau lachend weiter: „Sie müssen wissen, dass meine Tochter auch Petra heißt.“

      „Oh, das wusste ich nicht“, sagte Schimmer, und langsam stieg ein Unbehagen in ihm auf, das ihm einen flauen Magen bescherte. Ihm wurde klar, dass Petra Fendrichs Mutter von dem Tod ihrer Tochter noch nichts wusste, und im gleichen Augenblick verfluchte er sich, da er auf die Situation nicht vorbereitet war. „Frau Fendrich …“, begann er daher langsam und rang förmlich nach den passenden Worten. „Mein Name ist Schimmer und ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Tochter unterhalten.“

      „Weshalb?“, fragte Frau Fendrich zurück und schaute Schimmer dabei mit einem eindringlichen und zugleich fragenden Blick an.

      „Ich denke, wir sollten dies besser in Ihrem Haus besprechen“, gab Schimmer zurück und deutete dabei in Richtung Haustür. Er war bereits einen Schritt gegangen, als er bemerkte, dass Frau Fendrich sich nicht vom Fleck rührte.

      „Mal schön langsam, junger Mann. So einfach kommen Sie mir nicht in die Wohnung“, sagte Frau Fendrich und trat einen halben Schritt zurück. Ihr Blick verriet Argwohn, gepaart mit Misstrauen.

      Schimmer verstand nicht, was dies nun sollte. Hatte er es heute nur mit verqueren Leuten zu tun? Doch plötzlich schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. „Oh … Verzeihen Sie … Tut mir leid …“, stotterte er und zog dabei seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke. „Schimmer, LKA Berlin.“ Durch das plötzliche Auftauchen von Frau Fendrich hatte er vollkommen vergessen, sich auszuweisen, und es war daher wohl auch kein Wunder, dass er nicht ohne Weiteres in das Haus gebeten wurde.

      „Polizei? Ist etwas passiert? Ist etwas … es ist etwas mit Petra!“

      Schimmer sah Frau Fendrich mit einem – so hoffte er jedenfalls – nichtssagenden Ausdruck in den Augen an. „Können wir das im Haus besprechen?“, fragte er nochmals und deutete dabei mit offener Hand in Richtung Haustür.

      Frau Fendrich nickte stumm. Sie drehte sich ab und ging einige Schritte in Richtung Haus, ehe sie stehen blieb und sich zu Schimmer herumdrehte. „Ja, sicher. Ich gehe voraus. Bitte kommen Sie“, kam es dünn über ihre Lippen.

      Schimmer wusste, dass die Frau mit dem Schlimmsten rechnete, aber den Gedanken dennoch mit aller Kraft verdrängte. Es war ein Zwiespalt, der innerhalb von nur wenigen Sekunden in jedem Menschen vonstattenging und meist mit dem Gedanken endete, dass etwas Schlimmes, Endgültiges passiert war. Ein Polizist brachte in der Regel keine guten Nachrichten, und wenn ein Familienmitglied auf Reisen war, schon gar keine.

      Im Haus wurde er in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer geführt, dessen Möbel ihn an die Sechzigerjahre erinnerten und denen glichen, die auch seine Eltern besessen hatten. Frau Fendrich bot ihm an, sich an den Esszimmertisch zu setzen, und nahm aus dem Wohnzimmerschrank einen goldfarbenen, verzierten Aschenbecher heraus. Den Aschenbecher stellte sie vor Schimmer auf den Tisch und trat einen Schritt weit in den Raum zurück.

      „Was ist mit Petra?“, fragte sie mit stockendem Atem.

      Verwundert sah Schimmer auf den Aschenbecher und danach zu Frau Fendrich. Sie stand starr im Raum und versuchte krampfhaft ihre zittrigen Hände ruhig zu halten. Schimmer stand auf, nahm Frau Fendrich vorsichtig in den Arm und führte sie zu einem großen Ohrensessel, der in einer Ecke des Wohnzimmers direkt neben einer Stehlampe stand.

      „Frau Fendrich, nehmen Sie bitte Platz“, sagte er behutsam und legte dabei seine Hand sanft auf ihre Schulter. Sie sah ihn aus wässrigen Augen an, nickte stumm und setzte sich. Schimmer ging zum Tisch zurück, nahm sich einen der Stühle und stellte ihn dicht vor dem Sessel ab. Er setzte sich, nahm Frau Fendrichs zittrige Hände in die seinen und begann leise und einfühlsam: „Frau Fendrich, Sie machen sich Sorgen, dass ich hier bei Ihnen bin, und ich würde Ihnen gerne helfen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich dies kann. Ich muss Ihnen etwas mitteilen, das sehr schwer für Sie sein wird, und ich möchte, dass Sie sich nicht zu sehr aufregen.“ Frau Fendrich nickte stumm und senkte den Blick. „Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie und Ihre Familie. Ihre Tochter, Petra, sie ist heute Morgen mit einem Flugzeug kurz vor Salzburg abgestürzt. Sie kam mit den anderen Passagieren und den beiden Piloten ums Leben.“

      Frau Fendrich sah Schimmer mit fassungslosen, leeren Augen an, zog ihre Hände zurück und verkrampfte sie in ihrem Schoß, bis die Knöchel weiß hervortraten. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, die kurze Zeit später in dicken Tropfen über beide Wangen rollten.

      „Nein, bitte, sagen Sie, dass es nicht wahr ist, bitte …“, schluchzte sie und drückte dabei die gefalteten Hände gegen ihren Mund. Der gesamte Körper wurde allmählich von krampfartigen Anfällen geschüttelt, und Schimmer bekam es mit der Angst zu tun. Er sprang auf,