Philipp Porter

Es bleibt für immer ein Geheimnis


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Fendrich, soll ich Ihren Mann verständigen oder irgendjemand anderen aus Ihrer Familie?“

      Unter ständig neuen Weinkrämpfen brachte Frau Fendrich schließlich schluchzend hervor, dass ihr Mann schon seit Jahren verstorben sei und weitere Verwandte nicht in Berlin lebten. Ihre Tochter, Petra, wäre der einzige Mensch, den sie hier in Berlin noch hätte.

      Schimmer war klar, dass er die Frau in diesem Zustand nicht alleine lassen konnte. Er rannte in den Flur, in dem er beim Hereinkommen das Telefon gesehen hatte, und griff sich ein braunes Telefonregister, das direkt neben dem Apparat lag. Seite für Seite blätterte er es hastig durch. Ungefähr in der Mitte fand er, was er gesucht hatte. Er nahm den Hörer von der Gabel, tippte die Nummer ein, die hinter dem Namen Schröder stand, und wartete. Frau Fendrichs Schluchzen wurde heftiger und er hörte deutlich aus dem Wohnzimmer, dass sie bereits krampfhaft nach Atem rang.

      *

      Das Rufzeichen drang laut und fordernd durch die Leitung, so als wüsste das Telefon, dass es dringend war. Doch nach dem achten oder neunten Rufzeichen knallte Schimmer den Hörer auf die Gabel. „Verdammt …“, fluchte er vor sich hin, während er den Hörer wieder von der Gabel riss und diesmal die 112 wählte. „Immer, wenn so ein verfluchter Arzt gebraucht wird, ist der mit Sicherheit nicht da.“ Schimmer wünschte diesem Schröder, hinter dessen Namen Hausarzt stand, alles Schlechte für die Zukunft.

      Der Anruf in der Notrufzentrale wurde nach dem zweiten Rufzeichen angenommen, und Schimmer gab in kurzen Worten durch, um was es sich handelte. Als er wieder in das Wohnzimmer kam, lag Frau Fendrich vor dem Sessel auf dem Boden und rang verzweifelt nach Luft.

      „Scheiße, Scheiße, Scheiße …“, fluchte Schimmer, stürzte zu ihr hin und ließ sich auf die Knie fallen. Was sollte er nur tun? Er hatte keine Ahnung, was er in solch einem Fall unternehmen sollte. Die letzten Erste-Hilfe-Kurse hatte er mit den unterschiedlichsten Ausreden umschifft und sich keinen Gedanken darüber gemacht, dass er je einmal in die Situation geraten würde, einem Menschen helfen zu müssen.

      Aufgeregt und schüchtern zugleich knöpfte er Frau Fendrich die Bluse auf und hoffte dabei inständig, dass sie dadurch besser Luft bekommen würde. Doch sie rang von Sekunde zu Sekunde heftiger nach Atem, und Schimmer spürte instinktiv, dass hier schnellstens ärztliche Hilfe nötig war.

      „Was machst du denn da?“, rief Hofer, der plötzlich in der Wohnzimmertür stand und Schimmer fast zu Tode erschreckt hätte.

      „Blöde Frage. Nach was sieht es denn aus? Steh nicht so blöd herum, hilf mir lieber“, schrie Schimmer, der mit dem unerwarteten Auftauchen Hofers vollkommen die Fassung verloren hatte.

      Hofer kam ins Zimmer, kniete sich neben Schimmer auf den Boden und mit einem schnellen, geübten Griff überprüfte er den Puls und kontrollierte danach die Atmung von Frau Fendrich. Dann wuchtete er den Wohnzimmertisch zur Seite und zog Frau Fendrich im Rettungsgriff zur Couch, um sie mit beiden Beinen stützend in aufrechter Position zu fixieren. „Hat sie sich sehr über die Nachricht aufgeregt?“, fragte er, während er nochmals Puls und Atmung kontrollierte.

      „Ja, sehr sogar. Sie scheint die Einzige zu sein, die nichts von dem Absturz wusste. Petra Fendrich ist ihre Tochter, der Mann ist verstorben und weitere Angehörige leben nicht in Berlin“, antwortete Schimmer und verfolgte völlig irritiert Hofers routiniertes Vorgehen.

      „Die Frau hat einen Asthmaanfall. Hast du einen Arzt verständigt?“

      „Ja, den Notarzt, was denkst du denn“, erwiderte Schimmer trotzig, und im gleichen Moment hörte er auch schon das Signalhorn des Notarztwagens.

      *

      Frau Fendrich rang noch immer krampfhaft nach Atem, als der Notarzt, von Schimmer geführt, das Zimmer betrat. „Schnell, Herr Doktor. Die Frau hat einen akuten Asthmaanfall und ich kann kein Medikament bei ihr finden“, rief Hofer, der sichtlich erleichtert war, dass er dem Arzt seinen Platz überlassen konnte. Zwei Sanitäter schleppten eine Trage in das Zimmer, und zu dritt bemühte sich nun das Notarztteam um Frau Fendrich. Schimmer und Hofer standen im Hintergrund und sahen den Männern, die anscheinend um das Leben der Frau kämpften, angespannt zu.

      *

      „Das war höchste Zeit“, sagte der Arzt zu Hofer, während er seine Instrumente in einen silberfarbenen Arztkoffer packte. „Eine Minute später und die Frau hätte nicht überlebt. Sie hat zwar ein Medaillon an ihrem Hals, das darauf hinweist, dass sie Asthmatikerin ist, aber wie Sie schon festgestellt haben, hatte sie kein Medikament dabei.“ Der Notarzt hielt Schimmer und Hofer einen kleinen goldenen Anhänger entgegen, auf dem in geschwungenen Buchstaben S O S eingraviert war. Schimmer starrte entgeistert darauf. Ihm war klar, dass er einen gravierenden Fehler begangen hatte. Er hätte Frau Fendrich noch behutsamer erklären müssen, was mit ihrer Tochter passiert war, und er hätte sie fragen müssen, ob ein Angehöriger im Haus war, und vor allem, ob sie krank war.

      „Ich habe es nicht gewusst …“, stotterte er und starrte dabei wie hypnotisiert auf das Medaillon.

      „Schon gut“, gab der Arzt freundlich zurück und klopfte Schimmer dabei auf die Schulter. „Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Selbst wenn Sie festgestellt hätten, dass die Frau Asthmatikerin ist, hätten Sie erst einmal ihr Medikament im Haus finden müssen. Wie schon gesagt, sie hatte nichts bei sich.“

      „Wo bringen Sie die Frau hin?“, fragte Schimmer und schaute Frau Fendrich, die jetzt von den beiden Sanitätern aus dem Zimmer getragen wurde, fürsorglich nach.

      „In das Martin-Luther-Krankenhaus. Es ist nicht weit von hier.“

      „Sie hat keine Angehörigen, müssen Sie wissen. Ich denke, sie benötigt seelischen Beistand. Sie ist zusammengebrochen, nachdem ich ihr mitteilte, dass ihre Tochter bei einem Unfall verstorben ist.“

      „Gut, ich werde es weitergeben“, antwortete der Arzt freundlich, nickte Schimmer und Hofer zu und ging seinen Kollegen nach.

      *

      Schimmer und Hofer standen stumm im Wohnzimmer und schauten sich an. Jeder wusste, dass jetzt Worte fehl am Platz waren. Hofer deutete nach einiger Zeit mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung Tür, und Schimmer stimmte mit einem ebenso kurzen Nicken zu.

      „Mein lieber Mann, das war wirklich knapp“, sagte Hofer, während Schimmer die Haustür zuzog, den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür verschloss.

      „Ja, da hast du recht. Die Frau hatte ziemliches Glück, dass der Notarztwagen so schnell zur Stelle war.“

      „Es scheint so, dass die vornehme Gesellschaft die Information über den Absturz nur unter sich verbreitet hat. Für den lieben Herrn Weidmann und seine Freunde zählt eine kleine Angestellte eben nicht.“

      „Ja, stimmt. Und ich Idiot hab mich auf die Situation nicht eingestellt.“

      „Tja, da siehst du mal wieder, wie das soziale Gefälle funktioniert. Die einen wissen alles und die anderen nichts. Komm, lass uns fahren“, sagte Hofer und ging zum Wagen.

      Schimmer schaute zum Schneemann hinüber, der mit seinen schwarzen Eierkohlenaugen und der krummen Karottennase in dem Schubkarren stand und stumm in seine Richtung blickte. Wahrscheinlich hatte ihn Petra Fendrich mit ihrer Mutter gebaut, dachte er und ließ sich die letzten Worte Hofers nochmals durch den Kopf gehen. Hin und wieder hatte sein Kollege doch die passenden Worte parat, die es auf den Punkt brachten: Das soziale Gefälle war hier wirklich sehr deutlich zu erkennen. Die laute Hupe ihres Wagens riss ihn aus seinen Gedanken.

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