Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


Скачать книгу

Tim zur gleichen Zeit am gleichen Ort war und man mich für Stunden lahmgelegt hatte. So sehr sich alles in mir dagegen sträubt, so habe ich doch nicht das Gefühl, dass sie diese Chance ungenutzt verstreichen ließen.

      Mit aller Macht versuche ich die Gedanken in ruhigere Gewässer zu lenken, um nicht völlig auszurasten.

      Ich muss zur Schule gehen. Nur dort habe ich die nötige Ablenkung und kann vielleicht mit Ellen darüber sprechen. Vielleicht sieht sie einige Zusammenhänge, die mir verborgen bleiben.

      Erik ist schon angezogen und hat eine Tasse Kaffee in der Hand, als ich mit einem um den Körper geschlungenen Handtuch an ihm vorbeigehe. Er sieht mir ins Gesicht, seinen Kopf etwas zur Seite geneigt und ich versuche ihm ein Lächeln zu schenken.

      „Hey, mein Schatz! Es ist echt besser, du bleibst heute hier. Wenn du willst, bleibe ich auch“, ruft er mir hinterher.

      „Nein, wir gehen. Beide! Ich komme klar! Gar kein Problem“, antworte ich ihm und mache einen auf zuversichtlich. „Aber du kannst schon fahren. Ich nehme den Bus! Es reicht, wenn ich zu spät komme … wegen meinem Scheiß“, knurre ich den letzten Satz viel leiser als die anderen. Erik soll ihn gar nicht hören.

      „Vergiss es! Und es ist nicht nur dein Scheiß! Du gehörst zu mir und somit ist es auch mein Scheiß“, antwortet der zornig, an der Tür zum Schlafzimmer auftauchend.

      Ich ziehe mich schnell an und verzichte auf den Tee, den Erik mir gemacht hat.

      „Bitte Schatz!“, drängt er, dass ich mich eben hinsetzen soll und wenigstens etwas trinke und das Brot esse, das er mir mit Käse schön auf einem Teller angerichtet hat.

      Ich kann seinem beunruhigten Blick nicht standhalten und trinke einige Schlucke und greife mir das Brot. „Ich esse es nachher.“

      „Dann nimm doch bitte den Tee auch mit. Du kannst ihn im Auto trinken.“

      Erik möchte, dass ich im Auto esse und trinke? Oh Mann! In seinem wertvollen Mustang. Dann ist ihm das wirklich wichtig.

      Ich bemühe mich, nicht einen kleinen Krümel oder Tropfen zu verlieren und er schenkt mir ein Lächeln. „Die Tasse nehme ich heute Abend wieder mit hoch. Ich bin beruhigter, wenn du was gegessen hast. Du bist schrecklich blass. Hätte ich gewusst, dass dich die SMSen von Tim so aufregen, dann hätte ich sie gelöscht.“ Erik wirkt betreten, als er hinzufügt: „Ich weiß nun, dass du ihn nicht willst. Ich habe es an deinem Blick gesehen und an deiner Reaktion auf seine letzte SMS. Es tut mir leid, Schatz, dass ich dir da nicht mehr vertraut habe“, raunt er leise.

      Einen Moment bin ich wie vor den Kopf gestoßen. Erik war sich immer noch nicht sicher, dass Tim für mich nicht mehr existiert? Unglaublich!

      „Ich hasse ihn! Und wenn er nicht aufhört, mein Leben aufzumischen und sich weiter einredet, dass wir noch irgendetwas miteinander zu tun haben, dann werde ich noch zum Mörder“, brumme ich wütend. Aber was mich am meisten gegen Tim aufbringt ist die Tatsache, dass er mir die letzte SMS überhaupt geschickt hat. Warum musste er mir schreiben, dass er da war und dass er mich berühren konnte, ohne dass ich das mitbekam. Warum? Wüsste ich das nicht, dann würde es mir besser gehen … viel besser. Wie weit will er noch gehen?

      „Bevor du zum Mörder wirst, werde ich das erledigen“, knurrt Erik.

      „Du darfst gar nichts. Nicht mal den kleinen Finger ausstrecken. Ich will dich auf keinen Fall wegen dem verlieren.“

      Der Mustang hält an der Schule und ich sehe Erik an. „Versprich mir hoch und heilig, dass du nichts gegen ihn unternimmst? Bitte!“, raune ich flehend. Ich fühle eine unsagbare Bedrohung durch Tim, der Erik aus dem Weg haben will. Da bin ich mir sicher.

      „Das kann ich nicht“, antwortet Erik und ich sehe an seinem ernsten Gesicht, dass ich da wirklich zu viel von ihm verlange. „Wenn er dir zu nahekommt, ist es aus mit ihm.“

      Ich beuge mich zu ihm rüber und küsse ihn. „Ich liebe dich und will dich nicht verlieren. Denk da einfach immer dran“, sage ich, bevor ich aussteige und die Autotür zufallen lasse.

      Erik steigt auch aus und ich sehe ihn beunruhigt an. Seine Hand greift nach meinem Arm, als ich auf seine Höhe komme und er zieht mich vor seine Füße. „Ich liebe dich auch und werde brav sein, wenn du über meine Frage nachdenkst, die ich dir gestern gestellt habe.“

      Mir stockt der Atem. Was soll ich ihm antworten? Ich hatte damit gerechnet, dass der Anfall bei Anbruch eines neuen Tages vorbei ist. Aber Eriks Augen funkeln mir entgegen, wie an dem Tag, als ich mit ihm auch hier stand und er mich gerade aus der Schule getragen hatte. Da leuchteten seine Augen auch so, weil er sich sicher war, dass er mich in der Hand hat und mir keine Chance bleibt, mich letztendlich gegen das, was er will, zu wehren.

      „Ich denke darüber nach“, sage ich leise und gebe ihm einen schnellen Kuss. „Und jetzt muss ich mich beeilen. Wir kommen heute beide hoffnungslos zu spät!“, versuche ich das Thema zu wechseln.

      Erik raunt: „Ist wohl so. Und ich freue mich auf heute Abend. Bleib bitte immer bei Ellen, ja? Keine Alleingänge!“

      „Keine Alleingänge, versprochen.“ Mich von ihm loseisend, gehe ich einen Schritt zurück und er steigt in den Mustang ein, lässt den Motor aufbrummen und fährt die Straße hinunter.

      Ich sehe ihm unschlüssig hinterher und bin überrascht, dass er immer noch seine Frage beantwortet haben will. Was für ein Verrückter. Aber ich liebe ihn für diese Verrücktheit, die ein wenig meine dunkle Welt erhellt.

      In der Klasse entschuldige ich mich bei unserer Klassenlehrerin mit der Ausrede, dass es in der Nacht im Haus einen Stromausfall gegeben hatte und der Radiowecker darum heute Morgen nicht zur richtigen Zeit ansprang. Zu meiner Überraschung winkt sie mich nur zu meinem Platz und macht mit dem Unterricht weiter.

      Ich werfe mich neben Ellen, die mich unsicher ansieht und der scheinbar sofort klar ist, dass etwas nicht stimmt. Ich nicke ihr nur zu und mache eine beschwichtigende Handbewegung.

      „Pause!“, sagt sie mit stummer Lippenbewegung und ich kann mich schon auf eine Ellen Inquisition gefasst machen.

      So zieht sie mich auch gleich nach dem Klingeln vom Stuhl, bevor ich überhaupt meine Schulsachen zusammengepackt habe, und wir gehen nach draußen. Es ist ein dunkler, trüber, aber milder Dezembertag und wir laufen über den Schulhof hinter das Schulgebäude. Dort sind wir ungestört.

      „Was ist los! Du siehst total fertig aus und warum bist du heute so spät?“, fragt Ellen, noch bevor ich meine Zigarette angezündet habe.

      Ich sehe sie unschlüssig an und sie raunt: „Das mit dem Radiowecker war doch völliger Quatsch, oder?“

      Nickend ziehe ich an meiner Zigarette und entschließe mich dazu, Ellen einzuweihen. Sie hatte schon viele Geheimnisse für mich verwahrt und ich muss mit jemandem über meine Angst sprechen, die an mir seit dem Morgen nagt.

      „Erik und Daniel haben gestern bei Tims Wohnung nachgesehen, ob er wieder da ist. Daniel meinte, ihn gesehen zu haben“, beginne ich.

      „Ja, aber er hat sich wohl geirrt“, wirft Ellen ein.

      Ich nicke unschlüssig und erkläre ihr: „Daraufhin haben wir heute Morgen das Handy von Tim gecheckt, auf das er einige SMSen geschickt hatte. Eine war vom letzten Wochenende, als wir im Hyde Park waren.“ Ich ziehe an meiner Zigarette, weil das, was ich jetzt sagen muss, mir unendlich schwerfällt und Ellen sieht mich beunruhigt an. Sie weiß nur zu gut, dass es immer einen Grund gibt, wenn ich so herumstottere. Weil ich nicht weiterrede, versucht sie mir ungeduldig auf die Sprünge zu helfen. „Von dem Wochenende, wo die Ärsche uns in den Knast gebracht haben und du entführt wurdest. Okay, … weiter!“

      „Er war auch da. In dem Haus, in das sie mich brachten …“ Meine Stimme wird etwas zittrig und ich versuche mich zusammenreißen. „Und er war im selben Zimmer und konnte mich berühren. So schrieb er zumindest. Ich weiß davon nichts, weil sie mich ausgeknipst hatten. Ellen …“ Ich werfe mich an ihren Hals und sie ist erschüttert von meiner Reaktion. „Ich weiß nicht, was er mit mir