Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Es gibt so viel anderes, über das ich mir den Kopf zerbrechen muss … morgen!

      Liebe und Sehnsucht

      Als mich der Wecker am nächsten Morgen aus dem Schlaf reißt, ist Erik schon wach und hält das Handy von Tim in der Hand.

      „Guten Morgen“, sage ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

      Er sieht mich an und murmelt: „Guten Morgen“. Dann beugt er sich zu mir rüber und küsst mich verhalten.

      „Brauchst du das Passwort?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Nein, ich wusste es noch. Er hat dir viel geschrieben. Unglaublich! Der schnallt einfach nicht, dass du mit mir zusammen bist“, knurrt er aufgebracht. „Ich glaube, ich muss dem echt welche in die Fresse hauen, damit das mal bis in sein Gehirn geht.“

      Seine Wut verunsichert mich. „Nein, das tust du nicht. Das will er vielleicht nur. Dann kann er dich anzeigen und die knasten dich wieder ein. Was hat er denn geschrieben?“

      Erik reicht mir das Handy und ich gehe auf die erste SMS von der Liste. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die von meinem Geburtstag wirklich gelöscht hatte. Aber die, die sich öffnet, ist mir fremd. „Carolin, bitte verzeih mir doch! Ich will dich nie wieder zwingen, aber überreden darf ich dich doch noch.“ Tim hatte einen Zwinkersmilie dahinter gesetzt. Ich öffne die nächste: „Mein Herz ruft nach dir. Ich will nicht mehr hier sein. Wenn ich doch nur nicht ausgerastet wäre, dann hätte ich noch deine Freundschaft. Ich brauche dich! I miss you so! Meine Sonne …“

      Ich schlucke und sehe Erik an, der mich beobachtet. Will er meine Reaktion testen?

      Die nächste klingt schon aggressiver: „Mir ist egal, was alle sagen. Du gehörst zu mir! Du wirst das schon noch begreifen.“

      Noch eine. „Julian, der Verräter. Er soll nicht so tun! Ich weiß, dass er auch mit dir ins Bett gehen will. Er soll mir nicht blöd kommen. Ich werde mich von ihm nicht aufhalten lassen.“

      Ich schlucke schwer. In mir beginnt etwas zu brodeln.

      Die zweitletzte. „Weißt du noch? Mit mir in Alfhausen, in Wolfsburg oder auf einer einsamen Insel. Das sind deine Optionen. Ich habe von dir geträumt. Du liebst mich! Das weiß ich! Du hast es mir gesagt. Ich werde dich holen. Bald!“

      Wieder sehe ich Erik an und setze mich auf, weil mir die Luft wegbleibt. Ich öffne die letzte. Sie wurde am letzten Sonntag geschrieben.

      „Du warst mir so nah. Ich war in deinem Zimmer, konnte dich ansehen … berühren. Ich liebe dich! Sie haben dich wieder gehen lassen. Aber sie stellen sich mir nicht in den Weg. Ich werde wiederkommen. Ich werde eine neue Telefonnummer haben, damit der Typ mich nicht mehr erreicht. Du gehörst mir! Schon immer! Er wird daran nichts ändern. Du bist meine Frau!“

      „Durchgeknallt!“, presse ich hervor. Meine Gedanken überschlagen sich. War er in der Nacht auch dort gewesen, wo sie mich hin verschleppt hatten?

      Mein Kopfkino sieht mich in dem Krankenhausbett, von einem Mittel betäubt und festgeschnallt, Tim an meiner Seite …

      Ich spüre regelrecht, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht und mir wird schwindelig.

      Er konnte mich anfassen …, oh Mann!

      Ich will nicht darüber nachdenken, was er noch tun konnte, ohne dass ich es mitbekam. Mir wird schlecht.

      Ich werfe das Handy auf die Bettdecke und springe aus dem Bett. Schnell renne ich zur Toilette, weil sich gerade mein Magen aufbäumt.

      Erik springt erschrocken mit mir aus dem Bett und eilt hinter mir her. „Carolin, was ist? Oh nicht! Bitte nicht!“, raunt er aufgebracht, als er mich vor der Toilette findet. Ich zittere am ganzen Körper und schaffe es kaum, mich hochzuhieven und meinen rebellierenden Magen sich über der Toilettenschüssel austoben zu lassen.

      Er kniet neben mir nieder und ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und halte mich an ihm fest.

      „Bitte, Schatz! Beruhige dich. Es ist alles gut!“, versucht er mich zu beruhigen.

      Dass er selbst so stoisch ist, zeigt mir, dass er die letzte SMS wohl gar nicht geschnallt hat. Sonst würde er nicht so ruhig bleiben können. Oder ihm war nicht der Gedanke gekommen, der mir mit Urgewalt einen Schrecken eingejagt hat, und der mich fast wieder in einen Zusammenbruch stürzt.

      Er hebt mich hoch und trägt mich zum Bett zurück. Mich auf das Bett legend, schiebt er sich neben mich und wirft die Decke über uns. „Komm, beruhig dich!“ Er legt seine Arme um mich und hält mich einfach nur fest.

      Langsam höre ich auf zu zittern und versuche zu verdrängen, was sich in meinem Kopf als Film immer wieder abspielen will.

      „So ist gut. Ich bleibe bei dir. Er wird dir nichts tun, dafür sorge ich.“

      Es ist schon fast sieben, als ich mich soweit beruhigt habe, dass ich nicht mehr zittere und mein Magen nicht mehr das Nichts in sich loswerden will.

      Langsam setze ich mich auf und Erik sieht mich beunruhigt an. „Ich denke, es ist besser, du bleibst heute zu Hause.“

      Den Kopf schüttelnd, setze ich mich auf die Bettkante und versenke mein Gesicht in meinen Händen. Das Entsetzen über Tims SMSen und weil er in der Nacht bei den Al Kimiyaern gewesen sein könnte, als sie mich festhielten, will einfach nicht weichen.

      Erik schiebt sich neben mich und legt seinen Arm um meine Schulter. Leise und eindringlich flüstert er mit dumpfer Stimme: „Er wird dich nicht angerührt haben. Das wüsstest du. Glaub mir! Und du kannst nicht schwanger werden. Ich bin so froh darüber.“

      Ich sehe ihn verdattert an. Also weiß er, was Tim damit meinte, als er schrieb, dass er mich gesehen hat und berühren konnte.

      „Oder hast du mir etwas verschwiegen?“, raunt Erik leise.

      „Nein, ich schwöre dir, dass Tim dagewesen sein soll, davon weiß ich nichts. Ich bin irgendwann wach geworden und dieser Typ war da. Ich konnte ihn nur hören und nicht sehen, und er hat nichts von Tim gesagt. Und er hat mich nicht angepackt. Das hätten die nicht zugelassen“, sage ich mit einer falschen Überzeugung, die Erik in Sicherheit wiegen soll. Er soll keine Minute denken, dass Tim die Möglichkeit genutzt haben könnte. „Ich wüsste das sonst“, füge ich noch hinzu, seinen Wortlaut wiederholend. Aber mir ist klar, dass ich nichts weiß und das schreckliche Gefühl, dass Tim mich erneut für sich gehabt haben könnte, muss ich verdrängen, sowie die Wut, die mit diesem Gedanken in mir hochkriecht.

      „Ich hasse den Typ. Verdammt! Er soll mich endlich in Ruhe lassen!“, heule ich resigniert auf.

      Erik sagt nichts und ich stehe auf. Die Tränen, die sich über mein Gesicht stehlen, wische ich brüsk weg. „Ich gehe duschen. Ich muss zur Schule und heute Nachmittag in die Fahrschule. Mir geht es gut.“ Gedankenfetzen, die aus meinem Mund dringen und heile Welt suggerieren sollen.

      Erik steht auch auf und greift nach meinem Arm. Er zieht mich erneut an sich und streicht mir meine Haare aus dem Gesicht.

      „Du bist ganz durcheinander. Er hat dich nicht angefasst. Ganz bestimmt nicht. Das wüsstest du!“, redet er mir und sich noch einmal ein.

      „Ich weiß!“, antworte ich und lehne mich an ihn.

      „Ich liebe dich! Das ist wichtig. Daran sollst du immer denken. Egal, was dir passiert. Vergiss das nie und verliere das nie aus dem Blick“, höre ich Erik an meinem Ohr raunen und bin entsetzt. Wo er sonst schon bei einem Telefongespräch abdreht, scheint er mir gerade klarmachen zu wollen, dass, egal was mir passiert, er mich liebt und egal was ich ertragen muss, ich daran denken soll.

      „Ich muss duschen“, raune ich, löse mich aus seinem Griff und gehe ins Badezimmer.

      Das heiße Wasser tut mir gut und vertreibt den Schock darüber, dass ich vielleicht Tim ausgeliefert war. Ich suche in meinem Kopf und meinen Gefühlen nach einem