Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


Скачать книгу

Stirn wieder verschwindet.

      Nach dem Essen hilft er mir abzuwaschen. Wir wollen es uns gerade auf dem Sofa gemütlich machen, als sein Handy klingelt und er den Anruf entgegennimmt. Das Gespräch ist kurz und als er zu mir ans Sofa kommt, raunt er: „Das war Daniel! Ich soll mit ihm noch mal etwas nachschauen fahren. Soll ich dich mit zur Villa nehmen? Dann kannst du Ellen ein wenig Gesellschaft leisten, bis wir wieder zurück sind.“

      Kurz finde ich die Idee gut. Doch dann erwidere ich, dass ich besser zu Hause bleibe und etwas für die Fahrschule lerne. Schließlich möchte ich bei den nächsten Fragebögen nicht mehr so dumm dastehen.

      Erik sieht mich beunruhigt an und brummt: „Okay, aber Ellen, Daniel und ich haben einen Schlüssel. Du machst niemandem sonst die Tür unten auf, verstanden?“

      „Okay!“, sagte ich nur und finde diese Anordnung wieder einmal ein wenig übertrieben. Aber ich sage nichts und begleite ihn zur Tür.

      Er küsst mich. „Dann bis später, mein kleiner Streber.“

      „Ja, bis später! Wenn es bei dir spät wird, findest du mich da …“ Ich zeige hinter mich zur Schlafzimmertür.

      „In Ordnung! Aber du weißt ja, ich finde dich sowieso. Immer und überall!“ Er küsst mich noch einmal und geht.

      Ich frage lieber nicht, was er mit Daniel vorhat. Wenn ich darüber etwas wissen soll, dann würde er es mir von sich aus sagen.

      Ich gehe in die Küche zurück und koche mir einen Tee. Die Musik leiser drehend, setze ich mich mit dem Fragenbuch auf das Sofa und beginne die erste Frage zu lesen und versuche sie zu beantworten. Mit einer Schablone kann ich gleich darauf meine Antworten kontrollieren. Aber ich hatte nur eine Antwort für richtig gehalten und zwei waren es letztendlich. Ich versuche mir das zu merken und nehme mir die nächste Frage vor.

      Drei Seiten später lege ich das Buch neben mich und nehme meine Teetasse in die Hand. Der Tee ist nicht mehr heiß und ich trinke die halbe Tasse leer, in Gedanken an das versunken, was Ellen mir über Werner erzählt hatte.

      Dass er so arrogant und von sich eingenommen ist hatte ich nicht erwartet. Aber es ist eigentlich nicht verwunderlich. Er weiß, dass er gut aussieht und die Mädels auf ihn stehen. Und er ist noch jung. Auch gerade mal achtzehn.

      Ich versuche mir vorzustellen, wie Erik ausgesehen haben könnte, als er achtzehn war. Wie er seine Haare da wohl trug? Vielleicht schulterlang, wie zu der Zeit, als ich ihm das erste Mal begegnete und er sie komplett aus dem Gesicht nach hinten gekämmt trug.

      Wie immer bin ich fasziniert von der Entwicklung meiner Liebe zu ihm. Ich muss daran denken, wie ich ihm das erste Mal in Daniels Auto begegnete. Seine arrogante Art mochte ich gar nicht, und noch viel weniger den Blick, den er Daniel zugeworfen hatte, als wäre ja wohl klar, wer als nächstes auf seiner Speisekarte steht. Mir war er sofort unsympathisch und hätte mir da jemand gesagt, dass er meine große Liebe wird, ich hätte den für völlig verrückt gehalten.

      Sky and Sand von den Kalkbrennern läuft an und ich drücke an der Fernbedienung die Musik etwas lauter.

      Eriks Stimme rauscht durch meinen Kopf, wie er mir beim Abendessen meine geschriebenen Worte aufgesagt hatte, kein einziges Wort vergessend und es auf seine Weise kommentierend. Er ist nicht mehr der Erik von vor vier Monaten … und ich bin bei weitem nicht mehr die gleiche Carolin.

      Von einem Geräusch aufgeschreckt sehe ich von meiner Tasse auf, in die ich völlig versunken gestarrt hatte. Mein Handy bettelt in meiner Schultasche um Aufmerksamkeit und ich hole es heraus.

      Es zeigt einen Anruf von Julian an und ich nehme mit unruhig schlagendem Herzen an.

      „Hi!“ Noch immer geht etwas in mir auf Habachtstellung, wenn ich mit ihm zu tun habe.

      „Hallo Carolin! Ich sollte dich anrufen?“, höre ich Julian fragen und mir fällt ein, dass ich Michaela gebeten hatte, ihm das auszurichten.

      „Ja …“, sage ich und habe plötzlich Angst, mit ihm über das zu sprechen, was mir am Wochenende widerfahren war.

      „Was kann ich für dich tun?“, fragt er.

      Ich muss ihm nun aber antworten und er soll wissen, dass ich jetzt auch dem gleichen Verein angehöre, wie er und Tim.

      „Julian, am Wochenende haben mich diese Al Kimiyaer entführt.“

      „Ach, echt?“, fragt er, ohne aber eine angemessene Anteilnahme zu zeigen. „Aber sie ließen dich wieder gehen, oder?“

      „Ja!“, knurre ich aufgebracht über seine lapidare Art. „Da war so ein Typ, der hat mir einiges erklärt und ich habe ihnen zugesagt, dass ich jetzt auch zu ihnen gehöre und mit ihnen in Kontakt bleibe.“

      Einige Zeit ist die Leitung wie tot. Dann höre ich Julian raunen: „Einfach so?“

      Ich schlucke. „Ne, nicht wirklich. Sie hatten Erik, Daniel und Ellen in die JVA inhaftieren lassen und das war der Deal, um sie wieder frei zu bekommen … mit dem Anwalt, der auch dich vertreten hat.“

      „Scheiße! Die machen wirklich ernst!“, knurrt Julian leise und mir stockt der Atem.

      „Was meinst du damit?“

      Julian reagiert mit einer Gegenfrage. „Was haben sie dir alles erzählt? Von Tim und mir … meine ich.“

      Ich beginne ihm die Worte wiederzugeben, die in meinem Kopf hängen geblieben sind. „…sie lassen mir zwei bis drei Jahre Zeit“, schließe ich meinen Bericht. „Und sie machen meinen weiteren Lebensverlauf davon abhängig, was du ihnen liefern wirst. Bis dahin ist es für sie scheinbar in Ordnung, dass ich mit Erik zusammen bin. Bloß gegen Tim werden sie nichts unternehmen. Ihm lassen sie freie Hand“, füge ich zum Schluss hinzu.

      Julian lacht auf. „Das ist typisch! Ich soll den Karren aus dem Dreck ziehen und wenn ich das nicht schnell schaffe, dann zerstören sie dein und mein Leben. Und Tim lassen sie einfach schon mal damit anfangen, obwohl sie so tun, als wäre alles noch eine freie Entscheidung von uns.“

      Dass er so redet verunsichert mich. Ich hatte gedacht, dass er hinter dieser Sache steht, für die diese Leute alles tun wollen.

      „Meinst du denn, du kannst ihnen geben, was sie wollen?“, frage ich kleinlaut.

      „Keine Ahnung! Was weiß denn ich?“, braust er auf. „Ich arbeite daran. Aber versprechen kann ich nichts. Ich bin kein Kari Mantei und kein Kurt Gräbler. Und selbst die beiden haben das niemals geschafft. Oder warum liegen die beide mausetot in einem Grab?“

      Er hat so recht und ich spüre den Druck, der auf ihm lastet.

      „Julian, uns wird schon etwas einfallen. Sie lassen uns schließlich noch ein wenig Zeit“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.

      „Sie lassen uns Zeit? Sie haben nur beschlossen, Tim den Vortritt zu geben. Frei nach dem Motto, ist eigentlich egal, welches Kind als erstes auf die Welt kommt. Carolin! Tim ist jetzt irgendwann mit seiner Tour fertig und ich weiß, dass er erst mal, bis auf die eine oder andere Veranstaltung, nichts auf dem Plan hat. Er hat also eine Menge Zeit! An Geldmangel leidet er auch nicht und ich bin mir sicher, wenn er erst einmal alles ins Rollen gebracht hat, dann bin ich auch dran. Ich denke, sie werden dann nicht mehr länger warten, und sie wollen die beiden Kinder! Diese Freidenker werden von Leuten unterstützt, denen die Zeit wegläuft. Und die Kinder müssen geboren werden, heranwachsen und selbst ein Kind zeugen, das heranwachsen muss. Und dann muss sich erst einmal herausstellen, ob es wirklich Kurt Gräbler mit all seinem Wissen verkörpert. Natürlich hoffen sie darauf, dass ich schneller etwas Brauchbares liefere. Aber seit sie mich in der Psychiatrie durch die Mangel gedreht haben, träume ich nicht mehr von Alchemie und Kurt Gräbler. Ich verliere irgendwie den Bezug zu allem, und das macht mir Angst.“

      Seine Worte versetzen mich in Panik. Sie machen mir klar, dass da gerade eine Hoffnung in mir verpufft.

      „Mir geht es auch so. Er scheint sich langsam in Luft aufgelöst zu haben. Oder er ist irgendwohin verschwunden. Kann das denn? Nach so vielen Jahren?“