Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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noch? Da hat er mich angequatscht und nach deinem Namen gefragt. Ich fand, dass ihn der nichts angeht. Aber er ließ nicht locker und meinte, dass du doch bestimmt die Maddisheim bist“, erwidert sie. „Und dann hat er gesagt, dass er noch nie so ein hübsches Mädchen gesehen hätte und ich habe ihm erklärt, dass er keine Chance hat, weil du einen Freund hast. Da hat er nur gelacht und gesagt, dass das Mädchen, das ihm widerstehen kann, erst noch geboren werden muss. Poor! Ich fand den so ätzend!“

      Ich sehe sie erstaunt an. So gesehen kann ich ihre Abneigung verstehen und auch ihr Misstrauen ihm gegenüber. Aber meinen Namen kann er auch irgendwo aufgeschnappt oder auf dem Anwesenheitszettel gelesen haben und mir ist völlig egal, woher er den weiß. Was mir nicht egal ist, ist allerdings der Umstand, dass sie mir nicht mehr vertraut. Werner ist hübsch … und nett. Aber das war´s auch schon.

      „Gut!“, sage ich. „Du bist doch schon mal klar Nummer eins, die kein Problem hat, ihm zu widerstehen und glaub mir … ich bin Nummer zwei. Aber deswegen muss ich weder unfreundlich sein noch so tun, als wäre er nicht da. Wir können ganz normal mit ihm umgehen, wie mit jedem jungen Mann, der uns nicht interessiert. Du tust so, als wäre er eine Bedrohung! Ist doch klar, dass er wer weiß was von sich denkt.“

      Den Blick, den Ellen mir zuwirft, kann ich nicht deuten. Aber als wir durch den Gang der Schule gehen, nickt sie plötzlich und meint: „Eigentlich hast du recht. Er muss denken, ich sehe ihn als Konkurrenz für Erik an.“

      „Genau! Und glaub mir: Eine Konkurrenz für Erik muss erst mal geboren werden und nichts anderes.“

      Wir biegen in die Klasse ein, wo uns die anderen Mädels empfangen, als wären wir zwei verschollene Kinder. Jetzt, wo es kalt und ungemütlich draußen ist, warten sie nicht mehr vor der Schule auf uns und wir sehen uns meistens erst in der Klasse.

      Ich ziehe meine Jacke aus und werfe sie über den Stuhl, als Michaela neben mir erscheint. „Julian ruft dich heute Abend an. Ist das okay?“

      „Natürlich!“, sage ich, obwohl mich bei dem Gedanken an ihn immer noch ein seltsam beunruhigendes Gefühl beschleicht. Aber ich will ihm erzählen, was mir am Wochenende passiert ist und seine Meinung dazu hören.

      Die Lehrerin kommt in den Raum und legt einen Packen Zettel auf den Tisch.

      Wir setzen uns hin und sie begrüßt uns: „Guten Morgen!“

      Wir antworten brav und sie schenkt uns ein Lächeln. „Ich habe eure Briefe wieder mitgebracht und war überrascht. Es heißt doch, dass eure Generation nicht nur keine Fantasie mehr hat, sondern auch des Schreibens nicht mehr fähig ist. Ich muss dem wirklich widersprechen. Ich habe ganz tolle Briefe von euch bekommen. Ich habe sie benote, was nicht ganz einfach war. Ich muss gestehen, meine Benotung ist durch den Aspekt, wie weit mich ein Brief berührt hat und wie weit er mir eine Bedeutung wiederspiegelte, ausgefallen. Natürlich sind Briefe etwas Persönliches und ich werde keinen vorlesen. Aber ich werde euch sagen, welches die Besten waren und wenn ihr wollt, könnt ihr diejenigen Fragen, ob sie ihn euch lesen lassen.“

      Sie beginnt die Briefe zu verteilen und bleibt vor Nicole, einem übergewichtigen, pausbäckigen Mädchen stehen. „Nicole, du hast von mir eine eins bekommen. Wirklich gut!“, raunt die Lehrerin. Sie verteilt weiter und auch Ellen bekommt ihren Brief. Aber erst bei Sabine bleibt sie stehen. „Sabine, auch du hast klar eine eins verdient. Wundervoll geschrieben. Und so gefühlvoll!“

      Die letzten Briefe werden verteilt und ich werde nervös. Als sie sich vor meinem Tisch aufbaut und mir meinen Brief hinhält, kann ich sie kaum ansehen, weil mir mein herzergreifendes Liebesgeplänkel für Erik plötzlich peinlich ist.

      „Carolin! Unschlagbar! Ich habe einen Tag gebraucht, um mich von deinem Brief zu erholen. Wer immer der ist, dem du ihn geschrieben hast, er muss dir wirklich sehr viel bedeuten. Dich möchte ich gerne bitten, ihn vorzulesen. Ich möchte dich bitten, kann es aber nicht. Ich denke, es steckt so viel Herzblut da drinnen, dass mir nicht zusteht, dich zu bitten, alle daran teilhaben zu lassen.“

      Ihre Worte verunsichern mich und ich spüre die Blicke, die wie Brenneisen auf mich gerichtet sind.

      „Och, bitte!“, raunt Andrea mit einem Augenaufschlag, der sich gewaschen hat. Und auch Ellen knufft mich. „Ach komm! Stell dich nicht so an. Wir werden es auch keinem weitererzählen.“ Sie grinst frech.

      Jedes meiner Mädchen scheint vor Neugierde zu platzen und bittet mich, bis ich raune: „Meinetwegen. Aber ich lese das nicht vor!“

      Die Augen der Lehrerin leuchten auf und sie sagt: „Das übernehme ich gerne.“

      Sie nimmt mir den Zettel wieder aus der Hand und ich sehe Ellen unglücklich an.

      Die schenkt mir ein schadenfrohes Grinsen und fragt: „Für wen war der noch mal?“

      Frau Greiner stellt sich an ihren Schreibtisch und atmet ein paar Mal tief ein.

      „Mein lieber Schatz“, liest sie vor.

      Mir wird in diesem Moment klar, dass ich besser doch nicht will, dass mein Brief vorgelesen wird. Aber nun ist es zu spät.

      „Ich schreibe dir diese Worte, weil du der Einzige bist, der sie verdient.

      Sie erzählen von Gefühlen, die ich nie vorher kannte, so unglaublich tief in mich hineinreichend, so schmerzhaft, wenn ich denke, sie werden nicht erwidert … und so süß, wenn du sie mit mir teilst. Ich will diese Gefühle ein Leben lang.“

      Sie lässt ihre Augen durch die Klasse gleiten, die alle stumm dasitzen.

      „Sie erzählen von Liebe, die mich wie ein Nebel durchdringt und wenn ich an dein Gesicht denke, spüre ich eine Wärme in mir aufsteigen, die alle Kälte des Lebens verjagt. Wenn ich daran denke, wie du mich in deinen Armen hältst und unsere Körper verschmelzen lässt, wird diese Wärme zur Hitze, die selbst die Antarktis schmelzen kann und wenn du mich an dich ziehst, damit keiner mir zu nahekommt, spüre ich, dass wir zusammengehören. Ich will diese Liebe ein Leben lang.“

      Wieder macht sie eine Pause und schluckt. Und ich schlucke auch und werde in meinem Stuhl immer kleiner und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

      Frau Greiner beginnt weiterzulesen. „Und sie erzählen von dem Schmerz, wenn wir uns dem Leben nicht gewachsen fühlen, das uns immer wieder mit Problemen überhäuft. Dieser Schmerz versucht das Gefühl und die Liebe zu mindern und mich von dir fernzuhalten. Aber er kann mich verbrennen, er kann mich zerstückeln oder mich quälen, bis ich ohnmächtig werde … aber er wird nie die Kraft aufbringen, mich von dir zu trennen … denn das wäre ein Schmerz, der mit nichts vergleichbar mich vernichten würde.

      Ich liebe dich mehr als mein Leben, mehr als meine Freiheit, mehr als irgendetwas auf dieser Welt.

      Bitte lass mich zu dir! Dein Schatz.“

      Die Lehrerin sieht mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.

      „Wunderschön!“, haucht sie ergriffen und in der Klasse scheint alles Leben ausgelöscht zu sein. Erst als sie sich durch die Klasse bewegt und mir den Brief reicht, erwachen die ersten.

      „Oh Mann! Ist der für Erik?“, fragt Ellen neben mir und wischt sich betreten über das Gesicht.

      „Poor, ich heul gleich“, meint Andrea und ihre braunen Augen sehen mich aus einem rotwangigen Gesicht an. Ich höre Gemurmel von denen, die das Bestätigen möchten und ich muss gestehen, dass auch ich ziemlich ergriffen bin, zumal ich weiß, wann und warum ich diese Zeilen schrieb.

      „Der letzte Satz, Bitte lass mich zu dir, gibt nach so einem Text so viel gedanklichen Spielraum. Unglaublich!“, sagt Frau Greiner. „Ich muss gestehen, ich würde gerne wissen wie das Ganze weitergehen würde, wenn es weiterginge.“

      „Das ist bestimmt weitergegangen! Carolin hat den Brief an meinen Bruder geschrieben. Der hat ihr bestimmt zurückgeschrieben!“, meint Ellen stolz darüber, dass ihr eigener Bruder für so etwas der Anlass war.

      Alle Augen richten sich auf mich. Ich nicke vorsichtig. „Aber das ist persönlich. Die Antwort darauf kann ich keinem