Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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zu spät geworden und sie hatte deshalb nicht mehr anzurufen versucht.

      „Vielleicht aber habe ich das Läuten überhört und Mutti hat zudem nicht auf den Anrufbeantworter sprechen können, eben weil er ausgeschaltet gewesen ist.“

      Oder der Fremde hatte sich nicht mehr gemeldet, vielleicht weil Alex die Bilder doch schon früher beseitigt hatte und ihm plötzlich ein Druckmittel fehlte.

      Oder gab es eine weitere Erklärung dafür, dass sich ihre Mutter nicht telefonisch gemeldet hatte? Nina spürte, wie ihr bei diesem Gedanken ein kalter Schauer den Rücken hinunter lief. Hatte ihre Mutter vielleicht doch Kontakt mit dem Erpresser gehabt?

      Dann aber war es möglich, dass ihr etwas zugestoßen war!

      Beunruhigt griff sie das Mobilteil ihres Telefons, wählte hastig die Rufnummer ihrer Mutter und presste es bange hoffend an ihr Ohr. Alex hatte sie zu dieser frühen Stunde noch nicht anrufen dürfen, ihre Mutter aber würde normalerweise schon aufgestanden sein und sich für die Arbeit vorbereiten.

      Viermal erklang das Rufzeichen, dann s sprang der Anrufbeantworter ihrer Mutter an.

      „Guten Tag! Sie sind verbunden mit dem Anschluss...“

      Nina trennte die Verbindung, ohne das Ende der Ansage abzuwarten und von der Möglichkeit, eine eigene Nachricht zu hinterlassen, Gebrauch zu machen.

      Enttäuscht und beunruhigter als zuvor starrte sie einen Augenblick lang unschlüssig auf das in ihrer Hand liegende Telefon. Ihre Mutter war werktags eine Frühaufsteherin, weil sie ihren Dienst sehr früh aufzunehmen pflegte, aber es war noch viel zu früh, als dass sie das Haus schon verlassen haben konnte, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Erst recht würde sie noch nicht im Büro angekommen und somit auch nicht an ihrer Arbeitsstätte telefonisch erreichbar sein. Üblicherweise zumindest.

      Ebenso hastig wie zuvor die Nummer des Festnetzanschlusses ihrer Mutter wählte sie deren Handynummer. Nach kurzem Warten wurde sie von der freundlichen, aber elektronisch eingespielten Frauenstimme des Mobilfunkanbieters davon unterrichtet, dass der Anschlussinhaber derzeit nicht erreichbar sei.

      Nina hatte nichts Anderes erwartet und war dennoch enttäuscht.

      Es blieb ihr noch der Versuch, es doch im Büro ihrer Mutter zu versuchen. Wenige Augenblicke und einen nicht erfüllten Gesprächswunsch später wusste sie, dass auch die kleine Hoffnung, ihre Mutter auf diesem Wege erreichen zu können, unbegründet gewesen war.

      Sie spürte, wie ihre Beunruhigung und Sorge in Panik umzuschlagen drohten.

      „Ganz ruhig, Nina“, versuchte sie, leise vor sich hin sprechend, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Es ist nichts passiert, es ist alles in Ordnung, es lässt sich alles erklären. Ich bin nur übersensibilisiert!“

      Sie zwang sich zu einem mehrmaligen tiefen Durchatmen, bevor sie erneut die Festnetznummer ihrer Mutter wählte. Wie zuvor war es nur der Anrufbeantworter, der auf ihren Gesprächswunsch reagierte. Diesmal unterbrach sie die Verbindung nicht, ließ die Ansage ungeduldig passieren, um dann anders als noch kurz zuvor eine Nachricht auf den Speicherchip zu sprechen.

      „Hallo Mama, ich bin´s, Nina. Warum nimmst du nicht ab? Melde dich doch bitte! Ich mache mir Sorgen um dich! Ich wollte dir eigentlich erzählen, dass die Bilder aus dem Netz sind. Das ist bestimmt Alex gewesen. Bitte ruf zurück, sobald du kannst!“

      „Ich muss hinfahren und nachschauen, was los ist!“, schoss es ihr durch den Kopf, noch während sie die Verbindung trennte. Irgendetwas stimmte nicht!

      Ohne Rücksicht darauf, dass sie sich noch nicht im Bad für den Tag zurecht gemacht hatte, griff sie hastig ihre Jacke von der Garderobe, steckte das auf dem Garderobenschränkchen liegende Schlüsselbund, an welchem sich auch die Autoschlüssel befanden, ein und schlüpfte in ihre bänderlosen Schuhe, die sie aus Bequemlichkeit neben statt in den Schuhschrank gestellt hatte. Schon eilig unterwegs zur Wohnungstür mühte sie sich, die Schuhe vollständig anzuziehen und die herunter getretenen Kanten aufrecht zu stellen.

      Sie hatte keinen festen Stellplatz für ihren Kleinwagen, heute aber nur einen kurzen Weg zu ihm zurück zu legen, da sie gestern in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung einen freien Platz am Straßenrand gefunden hatte. Hastig stieg sie ein, ließ den Motor an, wendete das Fahrzeug und bog unmittelbar darauf in die weiter stadteinwärts führende Hauptstraße ein.

      Der Berufsverkehr hatte bereits begonnen, in jeweils längeren Kolonnen quälten sich die Autos in die Stadt.

      „Wenn man es mal richtig eilig hat, ist der Verkehr am dichtesten“, stellte sie fast resignierend fest.

      Ein Lastwagen blockierte die rechte der beiden stadteinwärts führenden Spuren. Er wurde gerade zur Belieferung eines Lebensmittelmarktes entladen. Nina musste nach links einfädeln, was ihr nur mit Verzögerung gelang, um gleich darauf nach rechts abzubiegen. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr; sie war schon eine Viertelstunde unterwegs, ohne dass sie bereits in die Nähe der mütterlichen Wohnung gelangt war.

      Sie fuhr sehr nahe auf das voraus fahrende Fahrzeug auf, dass nach ihrer Einschätzung unangemessen langsam fuhr.

      „Nun fahr doch, das klappt doch noch!“, rief sie laut aus, als eine Fußgängerampel auf gelb sprang und ihr Vordermann sogleich bremste und dann anhielt. Sie hupte und gestikulierte, was dieser aber nur mit einem Blick in den Rückspiegel und einem Verständnislosigkeit ausdrückenden Kopfschütteln quittierte. Es hatte den Anschein, dass er betont langsam reagierte, als die Weiterfahrt bald darauf freigegeben war.

      „Na endlich!“, seufzte Nina erleichtert, als der Vordermann in eine Seitenstraße abbog, und trat das Gaspedal durch, sodass ihr Wagen auf eine deutlich überhöhte Geschwindigkeit beschleunigte. Die Straße war nicht allzu breit und hatte nur je eine Spur in jede Richtung. Beide Seitenränder waren dicht mit Autos zugestellt. Sie ignorierte die Gefahr, dass jemand zwischen den Autos hindurch auf die Straße treten oder jemand unbedacht eine Autotür aufstoßen konnte, und sie wurde von einem solchen Pech verschont. Sie kam ohne Zwischenfälle voran.

      Kurz nach halb sieben Uhr bog sie in die Nebenstraße ein, an der das Mehrfamilienhaus lag, in dem die Mutter eine Eigentumswohnung besaß. Sie fand sogleich einen Parkplatz direkt vor dem Haus, sodass sie kurz darauf die stets nur locker ins Schloss gerastete und deshalb unverriegelte Haustür passieren und die Treppe zur ersten Etage betreten konnte. Ihre Schritte auf den steinernen Stufen hallten durch das ganze Treppenhaus, während sie eilig empor stieg. Heute aber nahm sie keine Notiz von dem Widerhall, den sie sonst bei jedem Besuch der Mutter als Ursache für die kalte Atmosphäre des Treppenhauses erkannt und deshalb als unangenehm empfunden hatte. Daran änderte nichts, dass sich das Treppenhaus ansonsten, wie das gesamte Gebäude, in einem baulich sehr gepflegten Zustand befand. Sekunden später stand sie vor der Wohnungstür der Mutter und schellte.

      Während sie wartete und auf aus der Wohnung dringende Trittgeräusche horchte, registrierte sie beiläufig, dass die Tageszeitung, die der Bote wie regelmäßig zu früher Stunde in die Zeitschriftenrolle unter dem Briefkasten gesteckt hatte, noch nicht in die Wohnung geholt worden war. Dies war ungewöhnlich, hatte ihre Mutter doch schon immer die Angewohnheit gehabt, sich während ihres ersten Morgenkaffees über die Tagesneuheiten zu informieren.

      Ohne Erika Lange genügend Zeit gelassen zu haben, die Wohnungstür zu erreichen und zu öffnen, schellte sie erneut, dann ein drittes und viertes Mal. Die bange Ungewissheit, das mehr und mehr von ihr Besitz ergreifende ungute Gefühl zerrten an ihren Nerven. Was war mit ihrer Mutter? Warum machte sie nicht auf? Warum hatte sie die Zeitung noch nicht herein geholt? War sie etwa nicht zu Hause? Hoffentlich war ihr nichts passiert!

      Die Wohnungstür blieb verschlossen, kein Geräusch drang aus der Wohnung heraus an ihre Ohren. Hastig strich sie den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter, nahm diese in beide Hände und öffnete den Verschluss mit Daumen und Zeigefinger. Schnell griff sie nach kurzem Schütteln, mit dem sie den Inhalt der Tasche suchend durcheinander warf, hinein und holte ihr Schlüsselbund heraus. Gegenseitig hatten sie sich in der Vergangenheit Wohnungsschlüssel ausgehändigt, um einander im Bedarfsfall jeweils den Zutritt zur Wohnung zu ermöglichen. Jetzt war ein Bedarfsfall!

      Nervös ging sie die Schlüssel durch, bis sie den für die Wohnungstür passenden