Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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nachts immer eingehängt wurde, heute funktionslos am Türrahmen.

      „Mutter?“, rief sie unmittelbar nach dem Eintreten bei noch geöffneter Tür. „Bist du zu Hause?“

      Ihr Rufen blieb unbeantwortet. Im Gehen ließ sie das Schlüsselbund in die Handtasche gleiten und legte diese achtlos auf dem Garderobenschränkchen ab.

      „Mutter?“

      Die Tür zur Küche stand weit auf. Sie warf einen kurzen Blick hinein, doch der Raum war leer. Ohne einen Augenblick inne zu halten ging sie weiter zur ebenfalls weit geöffneten Wohnzimmertür. Sie trat ein, ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten und wurde dann jäh vom furchtbaren Anblick, der sich ihr bot, überrascht.

      „Oh nein!“, entfuhr es ihr.

      Erika Lange lag bäuchlings in der Mitte des Wohnzimmers auf dem Boden, den Kopf inmitten eines großen Flecks auf dem Teppich, der von ihrem Blut stammen musste. Ihr Hinterkopf wies eine große verkrustete Wunde auf.

      „Vielleicht lebt sie noch, vielleicht ist sie nur bewusstlos!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich muss den Puls fühlen!“

      Sie hatte das Gefühl, dass sie gleich die Besinnung verlieren würde. Ihre Beine drohten ihr den Gehorsam zu verweigern. Ihr Herz raste. Sie riss sich jedoch zusammen und stürzte mit zwei oder drei Schritten zur Mutter und ging dann sofort in die Hocke, um den Puls zu fühlen. Der Arm war kalt, unnatürlich kalt. Erika Lange war tot.

      Von panischem Entsetzen erfasst sprang Nina auf, immer wieder „oh nein“ rufend, und rannte durch den Flur aus der Wohnung ins Treppenhaus. Sie musste raus, nur raus, ganz schnell raus! Sie musste Hilfe holen, sofort Hilfe herbei rufen! Die Polizei!

      Hinter ihr fiel die Wohnungstür ins Schloss.

      Sie musste telefonieren! Die Wohnungstür war zu, die Schlüssel aber waren in der Handtasche, und die Handtasche war in der Wohnung!

      Spontan und ohne bewussten Entschluss rannte sie zur gegenüber liegenden Wohnung auf derselben Etage, drückte unzählige Male mit dem Handballen auf den Klingelknopf und schlug zuletzt mit der flachen Hand immer und immer wieder gegen die Tür.

      „Machen Sie auf, bitte! Machen Sie bitte auf! Helfen Sie mir, ich brauche Hilfe! Bitte!“

      In ihrer Aufregung, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Ungeduld bemerkte sie nicht, dass jemand durch den Türspion sah. Unmittelbar darauf wurde die Tür geöffnet und ein junger, unrasierter Mann in Nachtzeug erschien. Nina kannte ihn vom Sehen, und er sie. Mehrfach waren sie sich im Treppenhaus begegnet.

      „Bitte helfen Sie mir!“, flehte Nina. „Meine Mutter ist tot. Meine Mutter, Erika Lange, ist tot! Sie liegt auf dem Boden, und da ist ganz viel Blut! Ich glaube Sie ist umgebracht worden! Wir müssen die Polizei rufen!“, prasselte es aus ihr heraus.

      „Ihre Mutter ist tot, die Frau Lange?“ Der junge Mann benötigte einen Moment, um die Situation zu erfassen. Zunächst sprach nur Ungläubigkeit aus seiner Miene.

      „Ermordet, sagen Sie?“

      „Ja, ich sage es doch, wir müssen die Polizei rufen!“

      „Kommen Sie herein! Sie können mein Telefon benutzen.“

      Der junge Mann trat zur Seite und ließ Nina an sich vorbei eintreten.

      „Bitte gehen Sie geradeaus durch bis in mein Wohnzimmer. Dort befindet sich mein Telefon. Es müsste auf dem Tisch liegen.“

      Nina hastete weiter. Der Nachbar sah ihr für einen Augenblick unschlüssig nach, folgte ihr dann jedoch zögernd. Mitten auf dem Wohnzimmertisch liegend fand sie das Telefon, so wie es der Nachbar beschrieben hatte. Am ganzen Körper bebend nahm sie es zur Hand, um die Notrufnummer zu wählen. Obwohl nur drei Ziffern einzutippen waren, drückte sie in ihrer Aufregung zwischendurch eine falsche Nummertaste, sodass sie den Versuch abbrechen und neu beginnen musste. Beide Hände am Gerät presste sie das Mobilteil fest an ihr Ohr.

      „Polizeinotruf Dortmund, guten Tag!“, hörte sie eine freundliche, aber formelle Männerstimme sagen.

      „Ja, Lange, Nina Lange, es ist ein Mord passiert. Meine Mutter ist ermordet worden. Bitte schicken Sie ganz schnell einen Einsatzwagen!“, sprudelte es auch ihr heraus.

      „Bitte nennen Sie mir noch einmal Ihren Namen und Ihre Anschrift sowie den Tatort“, forderte die Stimme.

      „Nina Lange, ich wohne in der Bochumer Straße 52, der Mord ist aber in der Lortzingstraße 7 passiert.“

      „Wie heißt Ihre Mutter?“

      „Erika Lange, meine Mutter heißt Erika Lange.“

      „Sind Sie noch am Tatort und sind Sie allein?“

      „Ich rufe von einer Nachbarwohnung aus an, ich bin hier zusammen mit dem Nachbarn.“

      „Frau Lange, der Einsatzwagen ist schon unterwegs. Bitte warten Sie sein Eintreffen ab! Er müsste in wenigen Minuten bei Ihnen erscheinen. Halten Sie sich bitte vom Tatort fern! Auf Wiederhören.“

      „Auf Wiederhören.“

      Wie nach einer körperlichen Anstrengung, die zu einer totalen Erschöpfung geführt hatte, ließ sie sich in den ihr nächststehenden Sessel fallen. Als ob alle Dämme brachen wurde sie von einem Weinkrampf erfasst und sackte vornüber in sich zusammen. Hilflos trat der Nachbar von hinten an sie heran und legte seine Hand auf ihre Schulter.

      23 – Vermisst

      „Frau Hemmersbach, ist die Frau Lange immer noch nicht erschienen?"

      Der städtische Baudezernent Dr. von Braunefeld füllte die Türöffnung zwischen seinem Büro und dem Vorzimmer mit seinem massigen Körper fast vollständig aus. Den Blick auf den leeren Drehstuhl am von Frau Lange, seiner Büroleiterin, zum Dienstschluss des Vortages sorgfältig aufgeräumt hinterlassenen Arbeitsplatz gerichtet, fügte er eine weitere Frage an, ohne die Antwort seiner jungen Schreibkraft Franziska Hemmersbach abzuwarten.

      „Hat sie sich wenigstens inzwischen gemeldet?"

      „Nein, Herr Dr. von Braunefeld. Hat sie nicht. Sie geht auch nicht ans Telefon. Heute morgen früh habe ich sie schon mehrfach zu erreichen versucht, aber es sprang jeweils nur ihr Anrufbeantworter an. Sie ist wohl nicht zu Hause. Dass sie nicht kommt, ohne zumindest etwas von sich hören zu lassen, kennt man gar nicht von ihr. Soll ich es noch einmal versuchen?"

      Für einen Augenblick wurde die Stille nur dadurch unterbrochen, dass Dr. von Braunefeld die Atemluft zweimal betont geräuschvoll durch die Nase einsog, wobei er seinen Mund extrem spitzte. Sodann senkte er den Blick auf den Boden, wobei er den Eindruck tiefen Nachdenkens erweckte. Unvermittelt jedoch unterbrach der die Stille und erlöste seine Schreibkraft aus der ihr unangenehmen Wartehaltung.

      „Nein, wir warten den Ablauf des Vormittags ab. Wenn sich bis zum Mittag noch immer nichts Neues ergeben haben sollte, müssen wir uns darum kümmern. Ich denke aber, dass sie entweder in Kürze erscheinen wird oder wir etwas von ihr hören werden.“

      Er hatte sich bereits abgewendet, um sich zurück in sein Büro zu begeben, als er plötzlich innehielt und sich auf dem Absatz drehte, seinen Kopf für einen Augenblick in den Nacken warf und seine Bürokraft noch einmal ansprach.

      „Stellen Sie bitte auf zehn Uhr Kaffee und Tee auf meinem Besprechungstisch bereit. Ich erwarte fünf Personen.“

      „Ja, ich sorge dafür, dass alles rechtzeitig auf dem Tisch stehen wird", beeilte sich Frau Hemmersbach zu antworten, offensichtlich sehr darauf bedacht, Engagement, Pflichtbewusstsein und Verlässlichkeit auszustrahlen.

      „Ach ja, Frau Endrulat, die Leiterin des Umweltamtes, wird ebenfalls am Gespräch teilnehmen. Sie trinkt ihren Kaffee ausschließlich mit Zucker. Vergessen Sie also bitte nicht, auch hierfür zu sorgen!"

      24 – Eine Sache für die Polizei

      Wenige Minuten nach Eingang des Notrufs erschien der erste Einsatzwagen der Polizei vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Erika Lange ihre Eigentumswohnung besaß, kurz darauf gefolgt von zwei weiteren, denen wiederum Augenblicke später ein Notarzt- und ein Krankenwagen folgten,