Hans-Otto Kaufmann

Talare klaut man nicht


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schnupperte in die kalte

      Februarluft hinaus. "Es kann Frost geben heute Nacht", murmelte sie ihrer Sangesschwester Dorothea Brinkerhoff zu.

      Vorsichtig schritten sie zum Parkplatz, der auf einem freien Grundstück neben dem

      Pfarrhaus völlig im Dunkeln lag.

      "Hoffentlich wird es nicht glatt auf den Straßen. Wir sollten zusehen, dass wir loskom-

      men, Dorle."

      Sich unterhakend tasteten sie sich langsam weiter Richtung Auto.

      "Ach, 'Befiehl du deine Wege' ist doch ein himmlischer Choral, nicht wahr, Dorle? Ich

      singe den Bach-Satz immer wieder zu gerne."

      "Mir geht es genauso, Hanne, die Melodien gehen mir manchmal die ganze Nacht nicht

      aus dem Kopf."

      Sie hatten das Auto erreicht, Frau Feldmann schloss die Fahrertür auf, klemmte sich hin-

      ter das Steuer, lehnte sich zur Beifahrertür hinüber, entriegelte und ließ ihre langjährige

      Chorfreundin einsteigen.

      "Wenn nur der Tenor nicht manchmal so unrein singen würde, dann wäre es noch schö-

      ner. Aber wir vom Alt, wir tun schon, was wir können, nicht wahr?"

      Frau Brinkerhoff ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.

      "Schnall dich bitte an."

      Das klickende Geräusch nahm die Fahrerin zum Anlass, den Anlasser zu betätigen.

      "Du hast wirklich noch ein gutes Gehör, Hanne. Ich bin immer so mit meiner Stimme

      beschäftigt, dass ich gar nicht mitkriege, was die anderen singen."

      Der Motor heulte auf.

      "Mach dir nichts draus, Dorle", antwortete Frau Feldmann, die eine Schwäche für

      humorvoll-lakonische Bemerkungen hatte. "Wir werden alle älter. Aber du weißt ja, der

      Kirchenchorsänger geht so lange zur Probe, bis die Stimme bricht."

      Ihre Nachbarin prustete los, während Frau Feldmann wuchtig den Rückwärtsgang rein-

      krachte.

      "Für mich, Dorle, ist jeder Auftritt eine neue Herausforderung. Solange ich noch klar-

      komme, bin ich mit von der Partie."

      "Und wenn wir die Höhe im Alt nicht mehr schaffen, werden wir eben Tenoretten",

      ergänzte Frau Brinkerhoff.

      "Soweit ist es noch lange nicht, Dorle."

      Langsam fuhren sie vom Parkplatz herunter, winkten ohne erkennbare Reaktion anderen

      Choristen zu, die ebenfalls zu ihren Autos strebten, und bogen bedächtig in die

      Hauptstraße ein.

      Gemeinsam mit dem Pastorensohn hatte Chorleiter Wedelhand das Klavier in die Ecke

      geschoben und seine eigenen Noten in die Umhängetasche gesteckt. Er überflog und sor-

      tierte einige Restexemplare, die er schnell in den Notenschrank legte.

      "Kleinen Augenblick noch, wir können gleich starten", sagte er zu seinen zwei

      Mitfahrerinnen, Agnes Ackermann und Hedwig Holzner, die er, wie es seine

      Gewohnheit war, nach der Probe nach Hause brachte.

      "Geht schon mal zum Auto vor, ich komme sofort."

      Die beiden Damen nickten kurz und verschwanden im Dunkel der Winternacht.

      "Haben sie schon die Lieder für den Gottesdienst?", fragte aufgeregt Werner Paselmann

      den Pastor, der es sich zusammen mit seiner Frau und seinen beiden ältesten Kindern

      nicht nehmen ließ, auch im Chor mitzusingen.

      "Aber natürlich, das hätte ich fast vergessen", erwiderte er.

      "Willst du sie denn jetzt noch haben? Es ist schon spät."

      "Dann kann ich heute schon alles vorbereiten, Herr Pastor."

      "Na gut, wie du willst. Ich hole sie sofort aus meinem Amtszimmer. Die müssen dort auf

      dem Schreibtisch liegen."

      Pastor Hans-Heinrich Knothe verschwand im Nebenraum.

      Nachdem Chorleiter Wedelhand alle Chorbücher und Kopien ordentlich im

      Notenschrank verstaut hatte, schloss er ab und gab der Pastorenfrau, den Kindern und

      seinen Tenorsängern kurz die Hand.

      "So, dann werde ich mal starten. Lest euch in einer ruhigen Minute wenigstens die Texte

      der Choräle durch, dann könnt ihr euch besser auf die Noten konzentrieren", konnte er

      sich nicht verkneifen, ihnen noch zuzurufen, bevor er zu seinem Auto lief.

      "Ja, ja, ja, immer die Tenöre."

      Norbert Leisesang fühlte sich sanft auf den Sängerschlips getreten.

      "Der soll froh sein, dass er überhaupt noch welche hat", stimmte ihm sein Sangesbruder

      Siegfried Kussow zu.

      "Andere Dirigenten können von Glück reden, wenn sie Tenoretten finden."

      Ungeduldig wartete Werner Paselmann auf den Liederzettel und zog es daher vor, kei-

      nen Kommentar abzugeben

      Im Gemeideraum war auch fünf Minuten später noch keine Ruhe eingekehrt. Auf

      Wunsch von Frau Knothe hatten die Sänger und die Pfarrerskinder begonnen, die Stühle

      an den Wänden zu stapeln, damit vor dem morgigen Großereignis noch einmal gründ-

      lich durchgefegt werden konnte. Mit Besen und Kehrblech bewaffnet kam die Pfarrfrau

      aus der Sakristei und machte sich an die Arbeit.

      Als die letzten Stühle an der Seite standen, schaute man ihrem Putzeifer interessiert zu,

      studierte die Terminübersicht an der Pinnwand oder mit Händen in den Taschen die

      bekannten Bilder an den Wänden.

      Auf einem großformatigen Farbposter waren aus der Vogelperspektive ein sommerli-

      ches Getreidefeld und ein Bauer mit einer Sense zu sehen. Am unteren Bildrand stand in

      goldenen Lettern:

      DU WIRST DICH NÄHREN VON DEINER HÄNDE ARBEIT, WOHL DIR, DU HAST'S GUT.

      Psalm 128,2

      Gereizt machte Frau Knothe Druck.

      "Hans-Wilhelm, Miriam, aus dem Weg bitte! Geht schon mal vor in die Küche. Ich

      komme sofort nach."

      "Was liegt denn jetzt noch an?", nörgelte ihr Sohn.

      "Ihr wisst genau, dass wir noch das Geschirr für den Stehkaffee zurechtstellen müssen."

      "Macht das nicht der Frauenkreis?"

      "Nein. Das macht nicht der Frauenkreis."

      "Kommen die morgen gar nicht?"

      "Doch, aber ich habe sie erst für zehn Uhr bestellt. Sie bringen die belegten Brötchen

      mit."

      "Aber Mama, morgen früh ist doch auch noch Zeit!"

      "Nein. Das wird sofort erledigt. Was du heute kannst besorgen, das..."

      "..verschieb' getrost auf morgen", variierte