Ben Brandl

LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS


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Selbst ausgebildete Tänzerinnen, träumen meist weiter davon, einmal auch hoffen zu dürfen, von einem Prinz Siegfried erlöst zu werden, wenigstens eine der anderen Prinzessinnen zu verkörpern oder bei den vier kleinen Schwänchen mittanzen zu dürfen. Wenn es nicht reicht, bleibt man halt in der Gruppe. Hauptsache ‚auf Spitze stehen’ im Tutu, mit langem Hals und grazilen Armen, geschrumpfte Schwanenflügel um den Kopf gewunden, Mittelscheitel und kleinem Haarknoten im Nacken.

      Ein Traum in Weiß. Ein Traum vom Fliegen. Ein Traum von Leichtigkeit, Eleganz und ästhetischer Schönheit schwebt auf Spitzenschuhen durch Jahrhunderte!

      Was mache ich alter Esel eigentlich in diesem Traum?

      Den ‚Pas de Deux’, in dem Odette und Siegfried einander ihre beginnende, zarte Liebe erklären und der zu einer innigen Umarmung führt, tanzen wir beide sehr gut.

      In diesem Moment liebe ich Maria wirklich, sie ist eine phantastische Partnerin.

      Jetzt muss Ritter Rotbart erscheinen, der böse Zauberer.

      Mit etwas Verspätung erscheint er - dargestellt von Kay, unserem Ballettchef. Gut getroffen - diese Rolle passt zu ihm.

      Zwei Tänzer, ein Gedanke. Wir können uns kaum halten und kichern in uns hinein, als er nun wie wild zu improvisieren beginnt. Ich zittere - vor verhaltenem Lachen, nicht aus Angst - indes ich meine Armbrust auf ihn anlege, um ihn zu töten. Und Maria fällt von der Spitze, derweil sie mir, mit weit ausgreifender Arabesque, Einhalt gebietet. Geschickt rettet sie sich in eine abwehrende, Rotbart schützende Pose.

      Kays erster Auftritt ist beendet, Ritter Rotbart verschwindet.

      Der Tanz hat uns wieder! Disziplin kehrt ein, und unser großer ‚Pas de Deux’ gelingt sehr gut.

      Hinterher einige weitere Solis verschiedener Solisten, dann der ‚Pas de Quatre’, mit den berühmten ‚vier Schwänchen’.

      Bei meiner Variation fühle ich mich leicht, es gelingt mir alles, aber wirklich großartig ist Maria. Hinreißend tanzt sie die Variation der Odette. Einige wenige sind technisch besser, aber wohl kaum jemand ist so ausdrucksstark wie sie. Einmal mehr bin ich verzaubert, bis mich Rotbart zurückholt in die Wirklichkeit unserer Vorstellung.

      Kay, als dämonisch böser Flatterflügler, hält mich zurück, den Mädchen und Odette in den See zu folgen, wo sie sich erneut in Schwäne verwandeln müssen.

      Glücklich küsse ich Maria nach ihrer gelungenen Darstellung in diesem Akt.

      Die Pause nütze ich auf Kays Bitte hin, um im Ballettsaal mit ihm den weiteren Part Rotbarts sozusagen im Schnellgang durchzugehen.

      Marias Tanz begeistert auch ihn und bei aller Sorge um sich selbst, hofft er, Maria und die Kompanie im dritten Akt nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

      Unser Publikum ist heute gut, obwohl es keinen freien Kartenverkauf gab. Die Leute reagieren spontan und gehen bis jetzt begeistert mit. Das hilft zu tanzen, selbst in der Gruppe spürt man es.

      Im dritten Akt empfange ich zusammen mit meiner Mutter die Gäste im Schloss. Einige erbieten ihre Reverenz in heimatlicher Tracht und mit ihren Nationaltänzen. Unter sechs Edelfräulein soll ich auf Wunsch meiner Mutter eine Braut aussuchen. Ein hübscher ‚Pas de Six’, in dem ich mich für keine der Damen entscheiden kann. Als überraschender, ungeladener Gast kommt Ritter Rotbart mit seiner Tochter Odile. Vollständig in schwarz gekleidet fasziniert sie mich sofort.

      Odile wird mich täuschen: sie hat die Gestalt Odettes, meines geliebten weißen Schwans angenommen.

      Maria tanzt und spielt auch den Part Odiles, des ‚Schwarzen Schwans’. Sie ist feurig, verführerisch-schön, von Ritter Rotbart unterstützt und präsentiert.

      Die kurze Probe in der Pause macht sich bezahlt, Kay spielt hervorragend, und Maria tanzt wie die Tochter des Teufels.

      Doch plötzlich passiert es: Die Bewegungsfolgen von Maria und Kay sind ohne Probe natürlich nicht aufeinander abgestimmt. Kay muss wohl oder übel improvisieren, ich bin mit im Spiel, aber zwei Personen werden ihm zuviel.

      Während er - Odile ununterbrochen präsentierend - mich abwehrt, um mich jedoch ständig weiter aufzureizen (auf der persönlichen Ebene ist ihm das schon lang gelungen), geht er wieder einen verkehrten Weg, und sein Mantel, mit dem er groß agiert, gerät Maria bei einer schnellen Arabesque unter die Spitze ihres Schuhs.

      Bei seiner nächsten Bewegung, einer raschen Drehung, reißt Kay seinen Mantel unter Marias Spitzenschuh weg und sie fällt wie in Zeitlupe. Ich versuche sie zu retten, verfange mich im weiten Mantel des Zauberers. Erst Maria, dann ich, als letzter ebenso noch Kay, alle drei landen wir auf dem Boden, natürlich in sehr aristokratischer Haltung, in einem wüsten Knäuel.

      Dirigent und Orchester spielen ungerührt weiter.

      Um uns ein Geraune und Gekicher.

      Die Prinzenmutter eilt geistesgegenwärtig herbei, um uns besorgt zu helfen und spielt gestikulierend, um das Publikum abzulenken, dabei kommt ihre komische Begabung voll zur Wirkung. Epidemieartig breitet sich verhaltenes Lachen aus und steigert sich, weil wir, durch den Stoff des weiten Mantels gehindert, große Mühe haben, auf die Beine zu kommen.

      Eigentlich müsste der Vorhang fallen.

      Gnadenlos spielt unser Orchester, die Bühne bleibt offen.

      Kay reißt sich wütend den Mantel ab, und zischt dabei dauernd: „Tanzt weiter! Tanzt weiter!“

      Als ob man uns dies auch noch sagen müsste!

      Irgendwie schaffen wir es schließlich. Wir versuchen das Publikum wieder zu fesseln, um die peinliche Situation schnell vergessen zu machen.

      Die wenigen Momente, in denen ich Maria beobachten kann, erfüllen mich mit Stolz. Dieser ausdrucksstarken, genialen Tänzerin gelingt es, auch den ‚Schwarzen Schwan’, diese Typisierung des Bösen, so überzeugend zu verkörpern, dass ich gerne bereit bin, um ihre Hand zu bitten. Sie ist die Auserwählte, sie möchte ich heiraten.

      Das Gute, die Reinheit und Unschuld des ‚Weißen Schwanes’, rettet mich im letzten Moment vor dem Schlimmsten: Odette erscheint, wie eine Vision, und ich muss erkennen, dass ich getäuscht wurde.

      Dem heimtückischen Zauberer Ritter Rotbart - Kay, der mit seinem nun um den Arm gewundenen Mantel eine recht unglückliche Figur macht - ist es mit Hilfe seiner bösen Tochter gelungen, mich zu überlisten. Ich habe mein Versprechen und meinen Schwur gebrochen, mit dem ich Odette aus des Zauberers Hand erretten wollte.

      Triumphierend verlässt er nun mit Odile das Schloss. Kay gelingt dies nicht sehr überzeugend. Im letzten Moment stolpert er ein weiteres Mal über seinen eigenen Mantel und landet krachend in der Kulisse.

      Der liebe Kay klaut uns heute die Show. Unser ‚Pas de Deux’ war so gut wie selten, und bei meiner Variation, die mit höchsten Schwierigkeitsgraden geradezu gespickt ist, glaube ich, dem Niveau Marias wirklich ebenbürtig gewesen zu sein. Aber gegen diese Klamotte von Kay kommt ja keiner an! Wie der Teufel persönlich, rast er jetzt hinter der Bühne hin und her.

      Unglücklich muss ich nun enteilen, um meine geliebte Odette zu finden.

      Der Vorhang fällt.

      In diesem ursprünglich befreienden Moment ist mir gar nicht wohl zumute.

      Kay tobt, endgültig sauer auf sich selbst, denn ein kicherndes oder gar lachendes Publikum im vierten Akt - undenkbar, aber nach dem Geschehenen nicht ausgeschlossen.

      Aus der Gasse beobachte ich den Beginn des vierten Aktes: Es ist Nacht am See, die Schwäne sind abermals in menschlicher Gestalt. Sie erwarten traurig tanzend ihre Königin. Maria, jetzt wieder als Odette, tritt auf; enttäuscht und niedergeschmettert beweint sie ihr Schicksal. Im Kreis der gefiederten Gefährtinnen, gleitet sie traurig zu Boden.

      Zeit für Prinz Siegfrieds Auftritt: Aufgewühlt und atemlos finde ich Odette, um ihr von Rotbarts gelungener Täuschung zu