Urs Rauscher

Das Multikat


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      „Es tut mir leid“, sagte ich, als ich bemerkte, dass mein Blick zu einem Starren entartet war.

      „Kein Problem“, sagte sie nachsichtig und wackelte mit dem Po. „Ziehen Sie sich auch um, ja?“

      „Ja“, sagte ich und sammelte mich wieder. Dann begab ich mich hinter einen Felsvorsprung und begann meinen Kleiderwechsel. Als ich bei der Unterhose angelangt war, kam sie um die Ecke. Sie musterte meinen zitternden, mit Gänsehaut überzogenen Körper und sah mich eine Spur zu lasziv an. Dann zog sie sich wieder zurück. Jetzt begriff ich es: Sie war eine Dame, die sich auf ihre Rolle vorbereitete.

      Sie war schon komplett ausgerüstet, als ich wieder auf die Vorderseite der Kletterwand kam.

      „So“, sagte sie. „Jetzt müssen wir Ihnen nur noch den Klettergurt anziehen. Sie zog mir die Vorrichtung über die Beine und streifte dabei eine Spur zu unabsichtlich die biologische Ausrüstung zwischen meinen Beinen. Dann zerrte sie den Gurt fest und sagte: „Ausgezeichnet. Dann können wir ja loslegen.“

      „Fragt sich nur, mit was“, flüsterte ich vor mich hin.

      „Was haben Sie gesagt?“

      „Sehr saftiges Gras, habe ich gesagt.“

      Sie blickte auf das gelbliche Gras und machte ein Gesicht, als hielte sie mich für bescheuert.

      „Sie machen genau das, was ich auch mache, haben Sie verstanden? Wir fangen hier links an, wo es nicht so steil ist. Da machen wir jetzt mal die Grundübungen. Es sollte nicht so schwierig sein, da hoch zu kommen. Hier brauchen wir noch kein Seil und keinen Pickel. Ich gehe vor und sie kommen nach.“

      „Alles klar“, sagte ich.

      Ich folgte ihr zu der Stelle. Hier war es noch eher ein Hochsteigen als ein Klettern. Eine Steigung von wenigen Grad, ein paar Steine, die aus dem Erdboden herausragten, keine Felswand.

      „Stellen Sie sich hinter mich, dann sehen sie jeden Handgriff“, wies sie mich an.

      Ich stellte mich hinter sie. Sie stieg etwa einen Meter hoch, dann verlor sie den Halt und fiel direkt auf mich drauf. Ihr Gesicht landete unmittelbar über meinem und für eine Spur zu lang sahen wir uns in die Augen. Ihr Mund kam näher und ich löste mich und rollte mich unter ihr frei.

      „Okay. Das kann ja mal passieren“; sagte sie ungerührt, ohne jedes Anzeichen, dass ihr die Situation im Nachhinein peinlich wäre. Sie lächelte mich an.

      Dann machte sie einen erneuten Anlauf. Diesmal stellte ich mich demonstrativ schräg hinter sie. Sie stieg, zog, stemmte. Trotzdem kam sie nicht höher als diesen einen Meter. Nach einer Weile des Herumprobierens verlor sie wieder den Halt und landete diesmal im Gras.

      „Ich probiere es selbst mal“, meinte ich.

      „Nein, warten Sie“, sagte sie eilig. „Das ist noch zu schwierig. Da kommen Sie nicht hoch. Nicht mal ich...“

      In Windeseile war ich mindestens fünf Meter nach oben gestiegen. „Kommen Sie nach, Janine?“, rief ich spöttisch nach unten.

      Sie sagte nichts und verkniff den Mund. Stattdessen spannte sie den Körper an und machte einen erneuten Anlauf. Wieder fiel sie nach einiger Zeit nach hinten.

      Ich nahm noch einmal fünf Meter. Nach einem kurzen Blick nach unten noch einmal drei. Solche Hänge war ich als Kind jeden Tag hoch geklettert.

      Das ganze wiederholte sich noch dreimal. Schließlich stand sie immer noch unten, während ich sie vom Gipfel grüßte. Komischerweise ging ihr das alles nicht an die Ehre. Als ich den sanften Abstieg um die Felswand herum getan hatte, redete sie sich mit zu großem Reisschnapskonsum am Vorabend heraus. Sogleich kam sie auf Ema Datshi zu sprechen, das Nationalgericht; ein Käsechili, das ich unbedingt mal probieren solle. Ob wir heute Abend nicht miteinander essen gehen wollten, fragte sie mich. Normalerweise tue sie das nie mit Kunden, aber ich sei ihr sehr sympathisch und sie möge meinen Humor. Den Reisschnaps müsse ich unbedingt auch mal probieren. Ich dachte mir, dass ich ja nur einen Tag verloren, und daher noch genügend Zeit zum Schreiben hätte. Ihr sagte ich daraufhin, dass ich gerne mit ihr essen gehen wolle, dass sie aber wissen müsse, dass ich verheiratet sei. Das respektiere sie, sagte sie und freute sich sichtlich auf den Abend.

      Obwohl ich zurück lieber laufen wollte, bestieg ich auf ihre Bitte hin meinen Träger, meiner Knie wegen, die ich dringend schonen müsse, wenn ich weiter klettern wolle.

      Zuhause in meiner Balken- und Bretterbude fror ich wieder so, dass ich den Ofen nicht weiter ignorieren konnte. Ich hatte Janine gefragt, ob es hier keine Butangasflaschen zum Heizen gebe, und sie hatte gemeint, sie kenne nur Erdgas, was mich zu der Frage brachte, ob man wenigstens in Propan mit Gas heize. Sie sagte, in Ländern wie Propan ganz sicher, und mir fiel auf, dass ich schon ganz vergessen hatte, wo jenes andere Land lag und führte dies darauf zurück, dass die Schulzeit schon so lange vorbei war.

      Ich ging nach draußen und fand unter einem Verschlag einen Holzstapel, einen Holzstumpf und eine Axt. An dem Holz bediente ich mich in ausreichender Menge und bekam mit den im Zimmer herumliegenden Streichhölzern tatsächlich ein Feuer entfacht, bei dem ich jedoch fast mein gesamtes Schreibpapier als Anzünder verbrauchte. Gerade als der Ofen so stark heizte, dass abzüglich der Abluft eine erträgliche Temperatur herrschte, klopfte es an meiner Tür. Es war Janine, wie ich an der Stimme feststellte.

      Sobald ich die Tür auch nur einen Spaltbreit aufgemacht hatte, fragte sie: „Sind Sie fertig?“

      „Nein.“

      „Dann soll ich wieder gehen?“

      „Nein.“

      „Nein?“

      „Nein. Ich bin in zwei Minuten fertig.“

      Durch meine Hinhaltetaktik hatte ich bereits ein paar Sekunden gewonnen, während derer ich mir meine verschwitzten und verrauchten Kleider vom Leib riss. Danach suchte ich etwas Brauchbares für's Essengehen zusammen. Es waren die Sekunden, in denen die Tür offensteht, aber man hofft, dass niemand hereinkommt. Es waren Stresssekunden. Da man mir ja meinen Anzug abgenommen hatte, waren ein Polohemd und ein Kaschmirpullover das Schickste, was ich anzuziehen hatte.

      „Sie sehen hervorragend aus“, schmeichelte sie, als ich heraustrat. Über meinen Sachen trug ich noch die etwas schäbige Herbstjacke, die ich auch im Bett getragen hatte.

      „Sie auch“, untertrieb ich. Sie hatte sich richtig in Schale geworfen. Über ihrem Kleinen Schwarzen trug sie einen edlen Pelzmantel. Die blonden Locken hatte sie hochgesteckt und ihr Gesicht war dezent, aber wirkungsvoll geschminkt. Der Bergwind trug ihr zurückhaltendes Parfum zu mir.

      Ich musste feststellen, dass es bereits fast Nacht war. Das Kloster im Tal war nicht mehr zu erkennen.

      Janine bemerkte, dass ich das registrierte und sagte: „Wenn es dunkel ist, kriegt man hier fast nirgendwo mehr etwas zu essen.“

      „Und zu trinken?“

      „Überall.“

      „Dann lassen Sie uns die Pflicht hinter uns bringen“, scherzte ich und sie schloss sich mit einem kurzen Kichern an.

      Mit jeder Faser meines Körpers war ich bereit, die bösen Geister der Nüchternheit verscheuchen, mit jeder Körperzelle brannte ich darauf, diesen Beelzebub auszutreiben, den ein klares Bewusstsein in diesem unwirtlichen Land darstellte.

      Wir aßen in dem Restaurant, in dem ich schon Abendessen und Frühstück zu mir genommen und bei mir behalten hatte. Da es das einzige im Dorf war, gab es dort auch ein paar Touristen. Bhutaniker, so erklärte mir meine Kletterlehrerin, würden niemals nach Sonnenuntergang einen Bissen zu sich nehmen.

      Dänische Entwicklungshelfer, sagte ich, würden hierzulande sicher auch an der Austreibung dieses Aberglaubens arbeiten.

      Das Käsechiligericht war ausgesprochen bösartig. Vom Käse bekam mein Gaumen nicht sonderlich viel mit, so sehr brannte der Chili. Der Brand ließ sich auch nicht mit dem Reisschnaps löschen, der als einzige Alternative