Urs Rauscher

Das Multikat


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das Restaurant zumachte war, hatten wir die Wahl zwischen einer Bar, in der sich Touristen herumtrieben und einer Spelunke, in der die Einheimischen ihre Dämonen bekämpften. Janine schlug letzteren Ort vor, da seien wir unter uns.

      „Unter uns?“, fragte ich bei dem Gedanken an traurige sonnengegerbte Gesichter und die bedrückende Gesellschaft von Menschen, die tagsüber nichts anderes getan hatten, als Menschen, deren Gesichter nicht sonnengegerbt waren, auf ihrem Rücken herumzutragen.

      „Unter uns zwei“, erklärte sie. „Da versteht keiner unsere Sprache.“

      „Meinetwegen.“

      Wie erwartet blickten uns die betrunkenen Augen beim Eintreten durch die niedrige Tür neugierig an, wenngleich mir etwas sagte, dass einige der Augenpaare Janine schon einmal eingefangen hatten.

      Wir ließen uns in der hinteren Sitzecke an einem niedrigen Tisch nieder, wo wir eher lagen als saßen.

      „Hier betrinke ich mich immer“, sagte sie ungeniert.

      „Sie betrinken sich?“

      „Ja. Alleine.“

      „Warum?“, mein Ton bekam etwas Väterliches.

      „Weil ich in diesem Land so einsam bin“, sagte sie mitleiderheischend und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich zog diese irritiert zurück. Die Schweizerin war circa 15 Jahre jünger als ich, war also meine theoretische Tochter. Hier war eine Frau, die Haare hatte, wie ich sie mir immer gewünscht hatte: Lang, dicht, wellig, nicht so raspelkurz wie die von Beate. Aber selbst vor ihrer Radikalveränderung hatten die Haare meiner Frau nie so rassig ausgesehen. Hier war ein weiblicher Mensch, dessen Haut 15 Jahre jünger war als die meiner Frau und dessen Bauch 20 Jahre dünner war als der von Beate. Hier war eine Frau, die alles hatte, was ich begehrte, und die offensichtlich einem Zusammenkommen zwischen Bettfedern nicht abgeneigt war, und ich musste alles unternehmen, damit ich nicht Verrat übte an meiner Ehe in einer Kaschemme von Bar in einer Kaschemme von Dorf in einer Kaschemme von Land. Hier war meine theoretische Tochter, die mit mir schlafen wollte, was jeder Mann ab 30 sich wünscht, und ich musste gegen diesen Wunsch ankämpfen. Ich würde stark sein. Schließlich war ich nicht Steigbügel.

      Wir betranken uns übel. Irgendwann bot sie mir das Du an und ich bot es ihr ebenfalls an. Ich nannte ihr meinen zweiten Vornamen, damit ich nicht das Gefühl von zu viel Vertraulichkeit bekam, wenn sie mich ansprach. Ich fragte sie, ob sie nicht noch andere Kletterkunden habe und sie verneinte. Selbst wenn sie wolle, dürfe sie niemand anderem Unterricht geben. Das sei vertraglich so festgeschrieben. Sie habe sich einzig und allein um mich zu kümmern, schließlich bezahle ihr Auftraggeber ihren Aufenthalt allein aus dem Grund, dass ich Klettern lerne.

      „Seltsam“, meinte ich.

      „Warum?“

      „Weil ich meinem Freund gesagt habe, dass ich auch noch andere Dinge tun will außer Klettern lernen.“

      Ihre Stimme schwankte schon ein wenig: „Waaas? Was denn?“ Sie bekam Schluckauf.

      „Dies und das.“

      Sie sah mich mit glasigen Augen an: „Aha.“

      Ich führte mein Glas an den Mund und verzog das Gesicht. Ich wollte keinen Schluck von dem grässlichen Zeug mehr nehmen.

      „Ich brauche Bourbon“, sagte ich entschieden.

      Sie stieß auf. „Gibb es hier nich.“

      „Dann müssen wir in die andere Bar.“

      „Jetzt?“, sie schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter. „Wo es hier geraaaade so gemütlich geworden is?“

      „Ja“; sagte ich und riss mich los. Als ich auf beiden Beinen zum Stehen kam, schwankte ich etwas.

      Wir bezahlten und verließen den Ort, der noch voller geworden war, seit wir gekommen waren. Bei der anderen Bar angelangt, stellten wir fest, dass sie schon geschlossen hatte.

      „Zuuu schade“, lallte Janine.

      „Dann war's das wohl“, sagte ich.

      „Nein. Nein. Nein.“ Sie winkte wild mit der Hand. „Ich hab noch Reisschnaps zuhause.“

      „Oh nein. Keinen Reisschnaps mehr.“

      „Keine Widerrede, Philipp. Außerdeeeeem. Außerdem musst du meine Wohnung mal sehen.“

      „Heute nicht mehr. Es ist sowieso zu dunkel. Es ist besser, wir machen das bei Tageslicht, wenn...“ Schon zog sie mich am Arm fort. In mir kämpfte die Abscheu gegen den Schnaps mit der Einbildung, dass ein einziger Schluck Alkohol mehr unendlich viel mehr Spaß bedeuten würde. Der Spaß gewann.

      Ihr Hotel lag mitten im Ort. Das Zimmer war nicht herrschaftlich, aber dennoch ordentlich, alles in allem war es wesentlich komfortabler als meines. Sogar einen Fernseher hatte sie. Und ein Doppelbett.

      Sogleich zückte sie die unetikettierte Flasche, entkorkte sie mit einem Schweizer Taschenmesser und begann gierig daran zu saugen, bevor sie sie mir reichte: „Da!“

      Ich versuchte, mir den Stoff so in den Rachen zu kippen, dass er meine Geschmacksnerven nicht berührte. Ich verstand Menschen nicht, die alkoholfreien Wodka tranken.

      „Also warte“, sagte sie und wankte zum Badezimmer.

      Ich saß auf der Bettkante und nippte und schüttete abwechselnd.

      Aus der Toilette kam sie nur in Unterwäsche zurück. So hatte ich sie heute schon einmal gesehen. Ich hätte es wissen müssen.

      Sie setzte sich auf meinen Schoß, so dass ihre Knie auf der Bettkante auflagen. Ihr Haar kitzelte mein Gesicht.

      „Uii“, sagte sie, als sich zwischen meinen Beinen etwas regte.

      „Nein, Janine“, sagte ich überrumpelt und überwältigt zugleich. Ich versuchte sie von mir zu stoßen und sie gab mir einen Kuss auf den Mund, bekam aber mit ihrer Zunge meine Lippen nicht geöffnet.

      „Nicht, Janine. Das ist Unsinn.“

      „Ach was“, sagte sie, stieg von mir runter, zog sich Slip und BH aus und legte sich mit dem Bauch auf das Bett.

      Ich war unfassbar geil und zugleich unglaublich beherrscht. Es drohte mich zu zerreißen. Ihr tätowierter Hintern wölbte sich aus der Decke.

      Tätowiert? Ich sah mir das Ganze genauer an.

      „Komm schon!“, sagte sie und streckte mir das Hinterteil entgegen.

      Sie war tätowiert. Am Hintern. Aber nicht nur dort. Der gesamte Rücken war mit Farbe ausgefüllt, ebenso die Hinterseite der Beine, bis zu den Füßen. Ich beugte mich über sie, um das Motiv zu erkennen. Es handelte sich um ein Surfbrett in Lebensgröße. Die Spitze befand sich in ihrem Nacken, das stumpfere Ende an der Fußsohle. Wenn sie die Beine geschlossen hielt, passten die beiden spiegelbildlichen Stücke zusammen.

      Das Bild gab mir Rätsel auf und augenblicklich verschwand aller Drang. Die Verwirrung war größer als die Erregung. Ich taumelte rückwärts und die Besoffenheit kehrte zurück. Warum hatte sie sich ihren schönen Körper so verunstalten lassen? Und warum dieses Motiv? Warum kein Kletterseil, Steigeisen und Sicherheitsgurt? Was sollte dieser ganze Auftritt? Und warum hatte Steigbügel mir einen Kletterkurs spendiert?

      Ich stürzte aus dem Zimmer, aus dem Hotel, aus dem Dorf. Ich torkelte und stolperte auf dem Weg in mein Zimmer. Irgendwie fand ich in der Dunkelheit das Türschloss und das Bett. Irgendwie fand ich in meinem Komaschlaf einen Traum. Irgendwie fand ich beim Aufwachen die Erinnerung an ihn nicht mehr.

      Am nächsten Tag kam sie wieder und tat so, als sei nichts gewesen. Wir müssten den Kletterkurs fortführen, sagte sie und gab sich keineswegs zurückhaltender als am Vortag. Wieder hatte sie es klar auf mich abgesehen und wieder konnte sie überhaupt nicht klettern. Keine Spur von Beleidigtsein, weil ich sie abgewiesen hatte, keinerlei Resignation. Nur eine Beharrlichkeit und Aufdringlichkeit, die sie mir tagtäglich nicht nur unsympathischer, sondern auch unerotischer