Berndt Strobach

Privilegiert in engen Grenzen


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unvergessen sein, wie der Knabe Berend Lehmann beim Anblick seines weinenden Vaters ob der Zerstörung der Halberstädter Schul* im Adar 5609 (18.3.1669) durch die Schergen der Halberstädter Stände mit den Worten zu trösten suchte, dass er eine neue, prächtigere Synagoge aufbauen werde[...].“24

      Bei Marcus Lehmann wird aus dem „heiligen“ Beschützer und Wohltäter des Gemeindechronisten Auerbach nun ein höchst aktiver Mitgestalter der vaterländischen Geschichte, der mit vielen bekannten Figuren der sächsisch-polnischen Ereignisse des frühen 18. Jahrhunderts unmittelbar und menschlich verknüpft war: Vertrauter des Porzellanerfinders Böttger sowie der Gräfinnen Cosel und Teschen, Lebensretter des Königs. Man konnte auf ihn stolz sein.

      Solch eine Überschätzung Berend Lehmanns hatte gravierende Folgen bei zwei Autoren des 20. Jahrhunderts, die Fakt und Fiktion, bei Marcus Lehmann kunstvoll verknüpft, nicht mehr auseinanderhalten konnten, es eigentlich wohl auch gar nicht wollten, nämlich bei Pierre Saville und Manfred R. Lehmann.

      Zeitlich davor liegen allerdings eine Reihe weitere Autoren, von denen zwei als historisch Forschende durchaus ernst zu nehmen sind.

      Gustav Adolph Leibrock (1819–1878)

      Mit wenigen Wörtern bedient sich hier, möglicherweise zum ersten Mal in der Berend-Lehmann-Historiographie, ein sicherlich nichtjüdischer Autor gleich mehrerer judenfeindlicher Klischees – ein früher Vorgänger der antisemitischen Hofjuden-Historiker des 20. Jahrhunderts, Deeg und Schnee.

      Józef Ignacy Kraszewski (1812−1887)

      In dem historischen Roman Gräfin Cosel (1873) des polnischen Popularschriftstellers Józef Ignacy Kraszewski kommt als wichtige Nebenperson der jüdische Bankier „Behrendt Lehmann“ vor, den Kraszewski – unerwartet bei einem offensichtlich nichtjüdischen Autor – außerordentlich positiv beschreibt.

      Kraszewski, der Lehmann zu einem „geborene[n] Pole[n]“ aus Krakau erklärt, brauchte den Hofjuden mit solch edlen Charaktereigenschaften für die Dramaturgie seines Romans, derzufolge Lehmann der Gräfin Cosel in ihrer Verbannung selbstlos verschwiegene Finanzdienste leistet.

      Offenbar hat der Autor außer dem Namen nur den Titel „Polnischer“ Resident gekannt und diesen missverstanden, denn ansonsten hat seine Romanfigur nichts mit dem historischen Berend Lehmann zu tun.

      Emil Lehmann (1828–1898)

      In einem 43 Seiten umfassenden Artikel (1885) über seinen Urahn nennt er Berend Lehmann „ein[en] fromm[en], aber auch einen weis[en], welterfahren[en] Mann“. Darin übernimmt er vieles aus Auerbachs Gemeindegeschichte ohne weitere Prüfung. In Bezug auf August den Starken und die Dresdner Verhältnisse dagegen recherchiert er gründlich im Sächsischen Staatsarchiv, und er macht seine Funde durch Belege nachprüfbar. Das ist ein bedeutender methodischer Fortschritt gegenüber Auerbach.

      Emil Lehmann ist Jurist, und als solchen interessieren ihn zunächst die Statuten der verschiedenen wohltätigen Stiftungen des Residenten; eine von diesen brachte immerhin zu Emil Lehmanns Zeit noch ihre Rendite (sie tat das sogar bis zum Zweiten Weltkrieg).

      Darüber hinaus interessierte Emil Lehmann als Dresdner und als Anwalt, der im sächsischen Landtag mit dafür gesorgt hatte, dass die letzten rechtlichen Benachteiligungen von Juden abgeschafft wurden, der Kampf Berend Lehmanns um sein geschäftliches und privates Niederlassungsrecht in Augusts Residenzstadt. Er bewundert die Streitlust seines Urahns und darüber hinaus das Argumentationsgeschick, mit dem er es versteht, die Dankesschuld, die der Herrscher ihm gegenüber hat, immer wieder in Gunstbeweise umzumünzen. Ebenso begeistert ihn, wie der Hoffaktor versucht, gegen den Widerstand von Kaufmannschaft und Konsistorium den Spielraum für sich und die anderen Juden in Dresden vorsichtig zu vergrößern. Emil Lehmanns Mitleid gilt schließlich, als das Lehmannsche Geschäft in Dresden durch die Missgunst der Stände ruiniert wird, dem Scheitern des alten Kämpfers.

      So entwickelt er insgesamt ein dichteres und erheblich konkreteres, wenn auch noch durchgängig makelloses Bild Berend Lehmanns.

      Es gibt für die Frage, wie objektiv ein Autor Berend Lehmann gegenübersteht, mehrere Test-Episoden, von denen eine im folgenden untersucht werden soll: Bei einer Hungersnot im Winter 1719/1720 gelang es Lehmann, aus Polen und Russland Brotgetreide zu beschaffen, das zu einem erhöhten Preis an die sehnsüchtig wartende Bevölkerung verkauft werden konnte. Als wieder einheimisches Getreide vorhanden war, das zum Normalpreis hätte abgegeben werden können, soll Lehmann beim Kurfürsten die Anordnung erreicht haben, dass der Rest seines Getreides trotzdem zum erhöhten Preis abgenommen werden musste. So die Behauptung einer zeitgenössischen christlichen Quelle.