unvergessen sein, wie der Knabe Berend Lehmann beim Anblick seines weinenden Vaters ob der Zerstörung der Halberstädter Schul* im Adar 5609 (18.3.1669) durch die Schergen der Halberstädter Stände mit den Worten zu trösten suchte, dass er eine neue, prächtigere Synagoge aufbauen werde[...].“24
Auerbach junior erwähnt nicht, dass die von Marcus Lehmann geschilderte Szene Fiktion ist (der achtjährige Berend Lehmann lebte in Essen, sein Vater war nie in Halberstadt)25, sie wird von ihm als Quasi-Faktum in die echte Historie integriert.
Bei Marcus Lehmann wird aus dem „heiligen“ Beschützer und Wohltäter des Gemeindechronisten Auerbach nun ein höchst aktiver Mitgestalter der vaterländischen Geschichte, der mit vielen bekannten Figuren der sächsisch-polnischen Ereignisse des frühen 18. Jahrhunderts unmittelbar und menschlich verknüpft war: Vertrauter des Porzellanerfinders Böttger sowie der Gräfinnen Cosel und Teschen, Lebensretter des Königs. Man konnte auf ihn stolz sein.
Über die vielen erfundenen Szenen hinaus ist bemerkenswert, dass Marcus Lehmann als erster Autor seinen Helden und Namensvetter zum wirkungsmächtigen Politiker stilisiert. Während Auerbach Lehmann einigermaßen zutreffend lediglich diplomatische Hilfsdienste attestiert hatte26, bedauert in Marcus Lehmanns Buch August der Starke, dass er Lehmann leider nicht zu seinem Außenminister machen kann27, und seine Mätresse, die Gräfin Cosel, behauptet dort außerdem: „Mein Resident Behrend ist der beste Finanzminister, der zu finden ist.“28
Solch eine Überschätzung Berend Lehmanns hatte gravierende Folgen bei zwei Autoren des 20. Jahrhunderts, die Fakt und Fiktion, bei Marcus Lehmann kunstvoll verknüpft, nicht mehr auseinanderhalten konnten, es eigentlich wohl auch gar nicht wollten, nämlich bei Pierre Saville und Manfred R. Lehmann.
Zeitlich davor liegen allerdings eine Reihe weitere Autoren, von denen zwei als historisch Forschende durchaus ernst zu nehmen sind.
Gustav Adolph Leibrock (1819–1878)
Der Blankenburger Kaufmann und Harzer Regionalhistoriker Gustav Adolph Leibrock (1819–1878) erwähnt in der Chronik seiner Heimatstadt von 1864 Berend Lehmanns Rolle bei frühen Bemühungen zur Teilung Polens und nennt ihn „eine im Anfange des vorigen Jahrhunderts sehr bekannte und wichtige Persönlichkeit“, „eine[n] schlaue[n] und verschlagene[n] Agent[en ]“.29
Mit wenigen Wörtern bedient sich hier, möglicherweise zum ersten Mal in der Berend-Lehmann-Historiographie, ein sicherlich nichtjüdischer Autor gleich mehrerer judenfeindlicher Klischees – ein früher Vorgänger der antisemitischen Hofjuden-Historiker des 20. Jahrhunderts, Deeg und Schnee.
Józef Ignacy Kraszewski (1812−1887)
In dem historischen Roman Gräfin Cosel (1873) des polnischen Popularschriftstellers Józef Ignacy Kraszewski kommt als wichtige Nebenperson der jüdische Bankier „Behrendt Lehmann“ vor, den Kraszewski – unerwartet bei einem offensichtlich nichtjüdischen Autor – außerordentlich positiv beschreibt.
Im Gegensatz zu seinem vorgeblich arroganten Partner Jonas Meyer, nach Kraszewski einem servilen Verehrer Augusts des Starken, sei Lehmann „ein fleißiger, bescheidener und zurückgezogen lebender Mann“ gewesen, er „machte keinerlei Aufwand, hielt streng auf Ordnung in seinen Geschäften und auf größte Sparsamkeit. Er schämte sich durchaus nicht seiner Abstammung noch seiner Religion und trug gar kein Verlangen danach, sich in eine Gesellschaft zu mischen, deren Vorurteile er nur zu gut kannte.“30
Kraszewski, der Lehmann zu einem „geborene[n] Pole[n]“ aus Krakau erklärt, brauchte den Hofjuden mit solch edlen Charaktereigenschaften für die Dramaturgie seines Romans, derzufolge Lehmann der Gräfin Cosel in ihrer Verbannung selbstlos verschwiegene Finanzdienste leistet.
Offenbar hat der Autor außer dem Namen nur den Titel „Polnischer“ Resident gekannt und diesen missverstanden, denn ansonsten hat seine Romanfigur nichts mit dem historischen Berend Lehmann zu tun.
Emil Lehmann (1828–1898)
Zur gleichen Zeit wie der konservative Mainzer Rabbiner Marcus Lehmann beschäftigte sich in Dresden ein weiterer Träger des Namens Lehmann mit dem Residenten: der liberale Rechtsanwalt und Politiker Emil Lehmann, ein Urururenkel Berend Lehmanns. Seine Einstellung zum ererbten Judentum stand der des Israelit-Herausgebers Marcus diametral gegenüber. In politischen Schriften wie Der Deutsche jüdischen Bekenntnisses oder Höre, Israel31 forderte er seine Glaubensbrüder auf, sich bis hin zum Verzicht auf die Beschneidung und zur Verschiebung des Sabbat auf den Sonntag an die deutsche Mehrheitsgesellschaft anzupassen: „treu deutsch und jüdisch allezeit.“32
In einem 43 Seiten umfassenden Artikel (1885) über seinen Urahn nennt er Berend Lehmann „ein[en] fromm[en], aber auch einen weis[en], welterfahren[en] Mann“. Darin übernimmt er vieles aus Auerbachs Gemeindegeschichte ohne weitere Prüfung. In Bezug auf August den Starken und die Dresdner Verhältnisse dagegen recherchiert er gründlich im Sächsischen Staatsarchiv, und er macht seine Funde durch Belege nachprüfbar. Das ist ein bedeutender methodischer Fortschritt gegenüber Auerbach.
Emil Lehmann ist Jurist, und als solchen interessieren ihn zunächst die Statuten der verschiedenen wohltätigen Stiftungen des Residenten; eine von diesen brachte immerhin zu Emil Lehmanns Zeit noch ihre Rendite (sie tat das sogar bis zum Zweiten Weltkrieg).
So lobt auch er die soziale Großzügigkeit des Hofjuden und wendet sie, seiner deutsch-idealistischen und seiner jüdisch-liberalen Grundeinstellung entsprechend, vom einseitig Jüdischen ins allgemein-Menschliche: „Der wirkliche Beweggrund zu Berend Lehmanns Stiftungen war derselbe, der sein ganzes Leben und Wirken beseelte: sein edler, menschenfreundlicher Sinn, das, was man hier jüdisches Herz, dort christliche Liebe, aber richtiger überall nennen s o l l t e: Humanität, Menschenliebe.“33
Darüber hinaus interessierte Emil Lehmann als Dresdner und als Anwalt, der im sächsischen Landtag mit dafür gesorgt hatte, dass die letzten rechtlichen Benachteiligungen von Juden abgeschafft wurden, der Kampf Berend Lehmanns um sein geschäftliches und privates Niederlassungsrecht in Augusts Residenzstadt. Er bewundert die Streitlust seines Urahns und darüber hinaus das Argumentationsgeschick, mit dem er es versteht, die Dankesschuld, die der Herrscher ihm gegenüber hat, immer wieder in Gunstbeweise umzumünzen. Ebenso begeistert ihn, wie der Hoffaktor versucht, gegen den Widerstand von Kaufmannschaft und Konsistorium den Spielraum für sich und die anderen Juden in Dresden vorsichtig zu vergrößern. Emil Lehmanns Mitleid gilt schließlich, als das Lehmannsche Geschäft in Dresden durch die Missgunst der Stände ruiniert wird, dem Scheitern des alten Kämpfers.
So entwickelt er insgesamt ein dichteres und erheblich konkreteres, wenn auch noch durchgängig makelloses Bild Berend Lehmanns.
Es gibt für die Frage, wie objektiv ein Autor Berend Lehmann gegenübersteht, mehrere Test-Episoden, von denen eine im folgenden untersucht werden soll: Bei einer Hungersnot im Winter 1719/1720 gelang es Lehmann, aus Polen und Russland Brotgetreide zu beschaffen, das zu einem erhöhten Preis an die sehnsüchtig wartende Bevölkerung verkauft werden konnte. Als wieder einheimisches Getreide vorhanden war, das zum Normalpreis hätte abgegeben werden können, soll Lehmann beim Kurfürsten die Anordnung erreicht haben, dass der Rest seines Getreides trotzdem zum erhöhten Preis abgenommen werden musste. So die Behauptung einer zeitgenössischen christlichen Quelle.
Emil Lehmann hält sie, ohne ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können, für eine antijüdische Lüge und kommentiert seine