Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


Скачать книгу

traf exakt den Punkt, wie auch Rainers häufige gutmütig-ironische Begrüßung, »Na, Situation! Kafkaeske Situation!«, die von einem weiteren Mitbewohner verwendete Titulierung Deep point, oder die als Frage verkleidete Charakterisierung einer der Schüler, die er während seiner Zeit im Ausland in Deutsch unterrichtete: »Lonesome Cow­boy?«. Was seine glücklicheren Momente betrifft – auch die kamen hin und wieder vor –, sie hatten umso weniger mit Beziehungen zu anderen Menschen zu tun, je älter er wurde. In der ersten Nacht nach seinem Einzug in die Wohngemeinschaft schlief er in einem Doppelbett, das mitten in einem großen, hellen, ziemlich unaufgeräumten Zimmer stand, dessen Bewohner gerade verreist war. Die geradezu befreiend unkonventionelle Situation wie auch das gesamte Ambiente gaben ihm das Gefühl, endlich aus dem Schatten getreten zu sein und den ersten Schritt in ein praktisch unbegrenztes, ihm noch weitgehend unbekanntes Terrain getan zu haben, das sich vor ihm auftat, ein bisschen wie es Auswanderern ergangen sein mag, wenn sie zum ersten Mal den Boden ihrer neuen Heimat, eines reicheren und freieren Landes, betraten, das Gefühl, dass ihnen von nun an die Welt mit all ihren Möglichkeiten offensteht. Nach dem zweiten Semester musste er eine Übungsarbeit anfertigen. Während er an seinem Schreibtisch saß oder am Zeichenbrett stand, hörte er fast ununterbrochen immer wieder dieselbe Schallplatte mit alter Jazz­musik aus der Vorkriegszeit, die er von einem Mitbewohner bekommen hatte, der keinen Plattenspieler besaß. Die ganze Zeitlang befand er sich in einem leicht euphorischen Zustand. Er bekam wieder dieses Gefühl von Weite, Leichtigkeit und Ungezwungenheit, dass es vorangeht, in seinem Leben noch nicht alles festgelegt ist, ihm noch viele Türen offenstehen. Als er ein von ihm damals häufig benutztes mathe­matisches Kompendium vor kurzem wieder in die Hand nahm, um nach einer vergessenen Formel zu suchen – wobei er sich einigermaßen sicher war, sie auf der ersten Seite notiert zu haben –, war dieses befreiende Gefühl plötzlich wieder präsent. Er erinnerte sich wieder an Jens, der das gleiche Buch besaß und es ihm empfohlen hatte, im Übrigen ein großer Religionsver­ächter (die beste Nachricht des Jahres sei der Austritt des Bruders aus dem Kloster gewesen, hatte er einst am Küchentisch frohlockt) und Frankophiler, der ihm hin und wieder beim Französischlernen geholfen hatte (»Wenn es ein Typ ist, heißt es le, bei einer Alten la«); obwohl einerseits ein ausgesprochener Homme à Femmes – he had that way with women –, nicht ohne einen gewissen Hang zu Männergeselligkeiten, in denen noch der für die damalige Zeit typische Habitus herrschte, sich permanent als forsches, schneidiges, Alphatier zu präsentieren. Zudem war er ein Lebens­ästhet vor dem Herrn. Ein weiteres Charakteristikum bei ihm – wie übrigens auch bei ihr – war, in allen möglichen Phänomenen Faschismus beziehungsweise Chauvinismus zu wittern. »Das ist Faschismus!«, hörte man ihn ein ums andere Mal irgendwelche Vorkommnisse oder Be­merkungen wütend kommentieren. Jens gehörte zu der Art von Männern, die kaum einen Satz hervorbrachten, ohne die feste Absicht, damit einen Gag zu landen, originell und witzig zu sein, sich als schmissigen, lockeren beziehungsweise hartgesottenen Typ darzustellen – eine leider so gut wie ausgestorbene Spezies, praktisch nur noch aus zweiter Hand in älteren Filmen der Nachkriegszeit zu erleben, in denen mehrere Leute dieses Schlages zusammentreffen und ununterbrochen darum bemüht sind, sich mit flotten, originellen Sprüchen gegenseitig zu übertrumpfen. Alles war easy, war Zuversicht und gute Laune. Niemand sonst unter seinen Bekannten war der Leichtigkeit des Seins so nahegekommen. Allerdings, »Jens ist kein Kumpel«, wie ein Mitbewohner es ausdrückte. »Hans ist ein Kumpel, aber Jens nicht.« Zugegeben, Jens hatte auch etwas Glattes, zumindest eine gut polierte Oberfläche; man kam nicht so recht an ihn heran. Aber das war aus irgendeinem Grund bei ihm nicht wichtig. Er gehörte zu denen, denen man mehr nachsieht als anderen. Sie würde bei seinem mathematischen Kompendium wahrscheinlich von einem Trigger sprechen – zweifelsohne einer der angenehmeren. Vielleicht sollte er es öfter mal in die Hand nehmen. Memories are made of this. Ein Mitbewohner, mit dem er eigentlich nicht allzu viel anfangen konnte, kam damals mit einem Brief von irgend­einer Behörde in die Küche, machte sich mit einigen beiläufigen Be­merkungen über das Schreiben lustig, riss den Umschlag samt Inhalt senkrecht in der Mitte durch, zog die Brief­hälften aus den Umschlaghälften und hielt sie gegeneinander, um ihnen in veralberndem Ton den Inhalt vorzulesen. Zu sehen, wie jemand es fertigbringt, auch ein behördliches Schreiben nicht so wichtig zu nehmen, gab ihm wieder dieses Gefühl von Leichtigkeit, dass es so wie es ist in Ordnung ist, dass alles nicht so furchtbar ernst genommen werden sollte. Die Szene bildete einen befreienden Kontrast zum von ihm bisher erlebten Umgang mit solchen Dokumenten, dem langsamen, geradezu überaufmerksamen Durchlesen mit katzenhaft-ernster, bedenkenträgerischer Miene, dabei den Inhalt stellenweise leise nachsprechend, dem verhaltenen, fast schon zelebrierten Beiseitelegen, zum Schluss dann dem sorgsamen Abheften und Aufbewahren in irgendwelchen dicken, unästhetischen Ordnern – alles in allem ein eher deprimierendes Szenario. Es geht also auch anders, anarchischer, lockerer, im gewissen Sinne sogar lustbetonter. Einer der kardinalen Schwachpunkte seiner Mentalität manifestierte sich unter anderem in seiner Be­merkung gegenüber Stunkie – der jahrelang das bei weitem größte, und damit auch teuerste Zimmer bewohnte, obwohl er sich, wie übrigens noch heute, immer wieder monatelang in der Welt herumtrieb –, er könnte eine Menge Geld sparen, wenn er sich ein kleineres Zimmer nehmen würde. Dessen, einzig angemessene Reaktion darauf lautete: »Was meinst du, wie viel ich sparen könnte, wenn ich mir eine Kugel in den Kopf jagen würde.« Ihre Bemerkung, er geize mit Geld, Zeit und Gefühlen trifft zweifellos den Kern des Problems, und auch die Feststellung seiner Frau, alles sei klein, klein, nichts mache ihm Spaß, bei ihm sei alles nur Pflicht, enthält mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit. Mister Deep point ist nicht unbedingt die begnadete Stim­mungskanone, dazu prädestiniert, andere aus der Lethargie herauszureißen, die gro­ße Action loszutreten – das kann man ihm weiß Gott beim besten Willen nicht nachsagen. Das praktisch völlige Fehlen jedweden Schneids, jeder sozialen Initiative gehört unzweifelhaft zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften. Draufgänger, Siegertypen und Alphatiere sehen anders aus, denken anders, empfinden anders, reden anders, agieren anders.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4AAQSkZJRgABAgAAAQABAAD/2wBDAAgGBgcGBQgHBwcJCQgKDBQNDAsLDBkSEw8UHRofHh0a HBwgJC4nICIsIxwcKDcpLDAxNDQ0Hyc5PTgyPC4zNDL/2wBDAQkJCQwLDBgNDRgyIRwhMjIyMjIy MjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjIyMjL/wAARCA0gCWADASIA AhEBAxEB/8QAHwAAAQUBAQEBAQEAAAAAAAAAAAECAwQFBgcICQoL/8QAtRAAAgEDAwIEAwUFBAQA AAF9AQIDAAQRBRIhMUEGE1FhByJxFDKBkaEII0KxwRVS0fAkM2JyggkKFhcYGRolJicoKSo0NTY3 ODk6Q0RFRkdISUpTVFVWV1hZWmNkZWZnaGlqc3R1dnd4eXqDhIWGh4iJipKTlJWWl5iZmqKjpKWm p6ipqrKztLW2t7i5usLDxMXGx8jJytLT1NXW19jZ2uHi4+Tl5ufo6erx8vP09fb3+Pn6/8QAHwEA AwEBAQEBAQEBAQAAAAAAAAECAwQFBgcICQoL/8QAtREAAgECBAQDBAcFBAQAAQJ3AAECAxEEBSEx BhJBUQdhcRMiMoEIFEKRobHBCSMzUvAVYnLRChYkNOEl8RcYGRomJygpKjU2Nzg5OkNERUZHSElK U1RVVldYWVpjZGVmZ2hpanN0dXZ3eHl6goOEhYaHiImKkpOUlZaXmJmaoqOkpaanqKmqsrO0tba3 uLm6wsPExcbHyMnK0tPU1dbX2Nna4uPk5ebn6Onq8vP09fb3+Pn6/9oADAMBAAIRAxEAPwDqPh38 O/CGq/D7RL6+0Cznup7YNJK6nLHJ5PNdP/wqvwN/0LNj/wB8n/Gj4V/8kv8AD3/XoP5muwoA4/8A 4VX4G/6Fmx/75P8AjR/wqvwN/wBCzY/98n/GuwooA4//AIVX4G/6Fmx/75P+NH/Cq/A3/Qs2P/fJ /wAa7CigDj/+FV+Bv+hZsf8Avk/40f8ACq/A3/Qs2P8A3yf8a7CigDj/APhVfgb/AKFmx/75P+NH /Cq/A3/Qs2P/AHyf8a7CigDj/wDhVfgb/oWbH/vk/wCNH/Cq/A3/AELNj/3yf8a7CigDj/8AhVfg b/oWbH/vk/40f8Kr8Df9CzY/98n/ABrsKKAOP/4VX4G/6Fmx/wC+T/jR/wAKr8Df9CzY/wDfJ/xr sKKAOP8A+FV+Bv8AoWbH/vk/40f8Kr8Df9CzY/8AfJ/xrsKKAOP/AOFV+Bv+hZsf++T/AI0f8Kr8 Df8AQs2P/fJ/xrsKKAOP/wCFV+Bv+hZsf++T/jR/wqvwN/0LNj/3yf8AGuwooA4//hVfgb/oWbH/ AL5P+NH/AAqvwN/0LNj/AN8n/GuwooA4/wD4VX4G/wChZsf++T/jR/wqvwN/0LNj/wB8n/Gu