Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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zu müssen. Zudem war er mit seinem Beobachterstatus ganz zufrieden. Sitting on the fence war bei weitem nicht die schlechteste Option. Wahrscheinlich aber ist auch das eine der nicht wenigen von ihm vertretenen Minderheitenmeinungen. Bald darauf feierte die Babuschka-Freundin ihren Geburtstag, wozu er ebenfalls eingeladen war. Da er an dem Tag länger als sonst zu tun hatte, kam er erst später hinzu. Abgesehen von ihr, der Freundin und deren miteinander befreundeten Söhnen – neben ihm die einzigen männlichen Vertreter – kannte er dort niemanden. Nach einer kurzen Begrüßung setzte er sich auf einen Stuhl in die Nähe des Büffets, das neben der Wohnzimmertür aufgebaut war, und holte erst einmal das während seiner Arbeit versäumte Mittagessen nach, was jedoch nicht der eigentliche Grund war, sich nicht an der Unterhaltung zu beteiligen und stattdessen nur halb interessiert zuzuhören. Was seine Teilnahme an den Gesprächen praktisch unmöglich machte, war, dass es – wie kaum anders zu erwarten – überwiegend um persönliche Belange und Erlebnisse ging, zu denen er als quasi Uneingeweihter, Außenstehender bar jedes internen Grundwissens ohnehin nichts beitragen konnte. Als er schließlich in die Küche ging, um sich etwas zu trinken zu holen, kam sie ihm sogleich nach und bat ihn eindringlich, sich zu ihr zu setzen, was er – inzwischen einigermaßen gesättigt – dann auch widerspruchslos tat. So nahm er also neben ihr Platz, verfolgte mit mäßigem Interesse die von femininer Befindlichkeit durchtränkte Unterhaltung und hing, soweit möglich, seinen eigenen Gedanken nach. Auf der Rückfahrt warf sie ihm vor, sich von ihr ferngehalten und praktisch nicht um sie gekümmert, sich ihr gegenüber benommen zu haben, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Er wiederum sah das, wie so häufig, weit weniger dramatisch und konnte auch diesmal ihre extreme Reaktion nicht nachvollziehen, zumal sie unter ihren Bekannten keineswegs eine Außenseiterin war, stattdessen etliches zu sagen wusste, was auch durchaus auf Resonanz stieß. Die weitere Diskussion darüber führte erwartungsgemäß zu keinem Ergebnis. Unter anderem auch um das Thema zu wechseln erkundigte er sich näher nach der Freundin. Als er deren exotischen Vornamen zur Sprache brachte, erfuhr er, sie sei in früheren Jahren Bhagwan-Anhängerin gewesen und habe damals den Namen angenommen. Anfang Dezember verabredeten sie sich mit einigen seiner Bekannten, darunter auch Helmut, einem ehemaligen Kommilitonen aus der Wohngemeinschaft und dessen Frau, auf einem der Weihnachtsmärkte, durch den sie sich, mit Glühweinpausenunterbrechung, im Samstagabendgedränge halb schlendernd, halb schlurfend, im Stop-and-go-Modus geduldig von Stand zu Stand voranschoben. Dass eine Bekannte, wie Helmut ebenfalls zur Wohngemeinschaftsclique gehörend, die bei früheren gemeinsamen Treffen stets mit von der Partie gewesen war, diesmal nicht gekommen war, sah sie in der Ablehnung ihrer Person begründet, deren Ursache sie darin vermutete, dass sie als Konkurrentin seiner Noch-Ehefrau – auf diese Sprachregelung hatten sie sich stillschweigend geeinigt – betrachtet wurde. Er konnte ihre Überzeugung ebenso wenig nachvollziehen wie ihren Einwand gegenüber dem Vorhaben der Bekannten, ihm ein Geschenk zu machen, was sie als nicht angemessen empfand. Eines Sonntagabends war sie damit beschäftigt, selbstgebastelte Geschenke für Freunde und Verwandte einzupacken. Er stand neben ihr und schaute ihr zu, wie sie bedächtig, geradezu hingebungsvoll bei der Sache war, ganz und gar auf ihre Arbeit konzentriert. Er dachte daran, wie er als Kind ganze Nachmittage mit Basteleien, Handwerkeleien und dem reihenweisen, schon ans Fließbandartige grenzenden Vollmalen von Malblöcken verbracht hatte, sich ein Stück heile, harmonische Welt zusammenbastelnd, zusammenmalend, dabei ebenso absorbiert von seinem Tun wie sie. Plötzlich fragte sie ihn, was er seiner Tochter schenke. Als sie erfuhr, dass er sich bisher noch nicht darum gekümmert hatte, meinte sie nur: »Schrecklich!«, was zwar wieder einmal übertrieben war, andererseits aber auch, wie er zugeben muss, eine Portion Wahrheit enthielt. Seine mangelnde Aufmerksamkeit und Zugewandtheit gehören zweifellos zu seinen gravierendsten Defiziten. Gegen Ende des Jahres zog die Babuschka aus der Stadt fort. Am Abend davor kam sie noch einmal bei ihnen vorbei. Trotz der optimistischen Worte der Freundin über die sich ihr bietenden beruflichen Möglichkeiten an ihrem neuen Wohnort herrschte die ganze Zeit eine bedrückende Stimmung. Zum Schluss, als die Freundin kurz nach Mitternacht aufbrach, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Die Babuschka versuchte, sie zu trösten, erwähnte noch einmal ihren baldigen Besuch und versprach, dass man ja sich weiterhin regelmäßig sehen werde, wenn auch in Zukunft in größeren Abständen. Nachdem die Freundin gegangen war, saßen sie noch eine Weile zusammen im Wohnzimmer. Sie erzählte ihm wieder von deren unglücklicher Beziehung, dass ihr Partner sie bereits seit längerem verlassen und Verhältnisse mit anderen Frauen habe, dennoch von Zeit zu Zeit bei ihr auftauche und dann einige Stunden lang scheinbar wieder alles in bester Ordnung sei. Sie verstehe die Inkonsequenz der Freundin nicht, die dieses entwürdigende Spiel, offenbar nichts daraus lernend, weiterhin mitmache, statt konsequent zu sein und dem unerfreulichen Zustand ein Ende zu bereiten, zumal sie es schon von Berufs wegen besser wissen müsse, wie sie ausdrücklich betonte, wie jedes Mal, wenn das Gespräch auf das Thema kam. Das Verhalten des Freundes erklärte sie mit dessen Beziehungsunfähigkeit, wogegen dieser jedoch partout nichts unternehmen wolle und jede professionelle Hilfe in der Richtung strikt ablehne. Abschließend bekräftigte sie noch einmal, wie wichtig die Freundin ihr sei, dass sie die erste überhaupt und die einzige gewesen sei, die sie hier in der Stadt gehabt habe, die übrigen Frauen, die sie kenne, seien bestenfalls gute Bekannte. Er wusste nicht, ob sie wegen ihrer starken Gefühle des Verlustes zu bedauern oder doch eher zu beneiden war. Nachempfinden konnte er das nur, wenn er sich wieder seine – längst der Vergangenheit angehörenden – ei­genen entsprechenden Empfindungen in ähnlichen Situationen ins Gedächtnis zurückrief. Es gab damals in seinem Dorf einen jungen Mann, Christian, der etwa zehn Jahre älter war als er, den er – richtiger- oder fälschlicherweise – als Freund betrachtete und dessen Gesellschaft er suchte. Bald nachdem Christian seine Lehre beendet hatte, war er fortgezogen und kam dann nur noch wenige Male im Jahr zurück, um seine Mutter zu besuchen. Wenn er nach einigen Tagen – viel zu früh – wieder fortfuhr, ohne sagen zu können, wann er das nächste Mal kommen wird, bekam er wieder dieses Gefühl des Verlassenseins. Alles schien ihm grau, in einer bestimmten Weise karg, als ob er sich ständig abmühen würde, ein steiniges, praktisch unfruchtbares Feld zu bestellen, auf dem ohnehin nie etwas wachsen wird. Wenn er der Mutter begegnete, zumeist wenn sie zu seinem Großvater zum Einkaufen kam, hatte er sie fast jedes Mal gefragt, wann Christian wieder zu Besuch kommt, meistens aber wusste sie das auch nicht. Mit der Zeit wurde es ihm auch unangenehm, immer wieder dieselben Fragen zu stellen, und die Mutter fand seine ständigen Erkundigungen wohl auch etwas merkwürdig. Einmal hatte Christian ihm versprochen, zu ihm zu kommen. Er war ihm dann entgegengegangen und hatte am Ende der Gasse, auf dem halben Weg, ungeduldig, immer wieder zur Uhr schauend, vergeblich auf ihn gewartet, noch eine ganze Weile nach der vereinbarten Zeit. Schließlich ging er wieder nach Haus. Zu seiner großen Freude war Christian bereits da. Er hatte einen anderen Weg genommen. Eine ähnlich essenzielle Bedeutung hatte für ihn nur noch das Zusammensein mit einigen Bekannten seiner Mutter und ein Treffen mit einer jungen Frau. Ein derart starkes Verlangen nach Menschen hat er später jedoch nicht mehr erlebt. Er hätte ihr seine Geschichte mit Christian erzählen sollen, ihm kam jedoch – auch das typisch für ihn – »so etwas« erst gar nicht in den Sinn. Gerade »so etwas« aber hätte zu einer gelungeneren Kommunikation und zu einer stärkeren Verbindung beitragen können. Hätte. Nun ja. Dieses starke Verlangen nach anderen Menschen ist im Laufe der Zeit so gut wie verschwunden. Er ist sich noch immer nicht im Klaren, ob das ein seelischer Reifungsprozess oder ein Prozess der Entmenschlichung ist, ein quasi vorzeitiger Tod des Herzens. Vielleicht aber liegt die Ursache auch in ferner Vergangenheit. Bei der Jagd nach dem Mammut und dem wilden Eber war kein Raum für solche Gefühle und es gab erst recht nichts groß zu quatschen. Das Kotelett in spe war auf der Hut, war gewarnt und machte sich stante pede vom Acker. Pech für den Jägersmann und obendrein eine Menge Stress beim Widersehen mit den hungrigen Mäulern daheim. Das allerdings wäre dann eine der komfortableren Erklärungen, Hand in Hand gehend mit einer anthropologisch unterfütterten Generalamnestie für sämtliche maskulinen emotionalen Defizite.

      6

      Zum ersten großen Streit kam es kurz vor der Jahreswende, als sich zwischen ihnen ein hektisches Hin-und-her-Telefonieren über die Frage seiner Anwesenheit bei der Silvesterfeier der Familie einer ihrer Schwestern mit deren weitläufigem Bekanntenkreis entwickelte. Er hatte bis dahin noch nicht erlebt, dass jemand mit solcher Verve ein Anliegen verfolgt,