Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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zur quasi psychischen Notwendigkeit, psychohygienischen Notwehrreaktion, zur anthropologischen Konstante (v)er­klärt und der die Grundsätze zivilisierten Miteinanders auch im Kleinkindmilieu Einklagende in die reaktionäre Ecke gestellt wurde, in jenen Dunstkreis des Bösen, in dem einst infolge des restriktiv-autoritä­ren Gebarens von erziehungsberechtigter Seite zukünftige, den Zivilisationsbruch exekutierende SS-Schergen und KZ-Aufseher herangezüchtet wurden und man bis heute aus der Geschichte nichts gelernt hat. Jeder, der etwa die Memoiren von Rudolf Höß gelesen hat, sollte nach damaliger Kinderladenkinderelternmain­streamüberzeugung begriffen haben, zu welchen menschlichen, mehr noch: historischen Großkatastrophen es führt, wenn der nach Kreativität und Selbstverwirklichung quengelnde Nachwuchs rigiderweise um das Spaßvergnügen betrogen wird, etwa die frisch geputzten Fensterscheiben mit Farbe zu beschmieren oder die Tastatur des bildungsbürgerlich-reaktionären Klaviers entwicklungsspezifisch zu traktieren und die durch derart restriktive Erziehungsmethoden depravierten, seelisch verletzten kleinen Racker überhaupt nicht anders können als ihren Kindern konsequenterweise ebenfalls wieder zu verbieten, Klaviertastaturen zu traktieren, denn sie waren ja selbst wehrlose Opfer von Restriktionen und Unterdrückung. Leider hat er nie mit ihr – natürlich in unpolemischem Duktus – über dieses Thema gesprochen. Bei irgendeiner Gelegenheit erzählte sie ihm, Hanna habe sie, nachdem sie zum Studieren hierher gezogen sei, treuherzig gefragt: »Du bist doch jetzt meine Ersatzmutter, oder?« Sie hatte sich mit ihrem gutmütigen runden Gesicht, den warmen dunklen Kulleraugen und ihrem Wuschelkopf noch etwas von der Aura eines unbedarften Kindes bewahrt und ins Erwachsenenalter hinübergerettet. Er hat noch das Foto vor seinem geistigen Auge, das ein offensichtlich bambinophiler Mensch während eines Urlaubs von ihr gemacht hatte. Die Mutter war damals mit ihr nach Italien gereist. Man hatte sie für das Foto auf eine Mauer gesetzt, von dort schaute sie nun ein wenig nachdenklich und versonnen in die Kamera. Die Aufnahme hing im Flur in der Wohnung der Mutter, sodass man auf dem Weg zum Wohnzimmer daran vorbeikam. Er hatte es sich jedes Mal wieder von neuem angeschaut. Ihn betrachtete Hanna, seine Fehler und Schwächen durchaus erkennend, mit einer Art verhaltener, gutmütiger, nachsichtiger Ironie. Nicht weniger sympathisch und liebenswert als sie war der Freund. Er selbst hätte zu seiner Zeit an der Universität kaum jemanden so eingeschätzt, solch eine Ersatzmutterfrage zu stellen. Entweder sieht er inzwischen Frauen in ihrem Alter mit anderen, objektiveren Augen, oder sie sind heute tatsächlich anders geartet, oder aber Hanna ist nur eine die Regel bestätigende Aus­nahme. Sie hatte ihm erzählt, Hanna würde gern mit ihrem Freund zusammenziehen, der aber wolle damit noch warten. Es ist stets dasselbe Spiel, hatte er gedacht. Die Binsenweisheit, dass es im Allgemeinen die Frau ist, die sich die Beziehung enger, intensiver, unbedingter, ausschließlicher, absoluter wünscht, hatte sich von neuem bestätigt. In Gegenwart der beiden erinnerte er sich wieder an die Zeit und seine mentale Verfassung, als er sich in ihrer momentanen Lebensphase befand, wobei er nicht umhin konnte, sich einzugestehen, dass er – wie Rainer das nannte, in Bezug auf ihn jedoch, wohl aus freundschaftlicher Rücksichtnahme, so unverblümt nie geäußert hatte – in mancher Hinsicht ein verdammt armer Willi gewesen war, sei es aus genetisch bedingter Unzulänglichkeit, sei es durch eigenes Verschulden. Die Titulierung armer Willi wurde seinerzeit häufig von Rainer verwendet, womit er zugleich auch noch den Wortschatz ihrer Wohngemeinschaft bereicherte. Der Begriff bedurfte keiner weiteren Erläuterung, da jeder unmittelbar eine Vorstellung von des­sen Bedeutung besaß. Ein armer Willi war jemand, der – sei es aus Unvermögen, sei es aus Bequemlichkeit – nicht in die Gänge kommt, entscheidende Dinge nicht auf die Reihe kriegt, ein Herumdümpeler, eine taube Nuss, ein Underdog, ein psychischer Grenzgänger, ein emotional Bedürftiger, ein Tonio-Kröger-Ver­schnitt, jemand, dessen Verhalten nicht selten eine gewisse Beklemmung hervorruft. Ihm selbst war sehr wohl bewusst, dass er, zumindest was sein soziales Verhalten beziehungsweise dessen Nichtvorhandensein betraf, eben auch nur ein armer Willi war, vielleicht zum Teil heute noch ist. Da macht er sich nichts vor. Jemand wie Hanna, das wäre es gewesen. Dafür aber hätte er erst einmal selbst eine entsprechende Entwicklung zustande bringen müssen. Von nix kommt nix. Kurzum: Die Hanna-Klasse war angesichts seines damaligen Zustandes für ihn schlicht unerreichbar, kam also lediglich in seinen Tagträumen vor. Dort allerdings war sie – wie hätte es anders sein können? – praktisch omnipräsent. Wer sich zu Studentenzeiten für ihn interessierte, gehörte entweder zu denen, die ohnehin – wie eine Bekannte es metaphorisch formulierte – niemanden anbrennen ließen oder aber sie waren ebenfalls leicht daneben, in irgendeiner Weise grenzwertig, wie sie das nenne würde. Gleiches zu Gleichem! Was Gesellschaftsspiele anbelangt, hatte er sie nur als Kind und Jugendlicher gespielt, meistens während der Besuche seiner Mutter bei Freunden, wenn er sich mit den beiden Töchtern und hin und wieder mitspielenden Erwachsenen quasi schwerelos die Zeit vertrieb. Beim Memory hatte er übrigens ausnahmslos verloren, während die jüngere Tochter fast immer gewann. Er ist noch heute der Überzeugung, einen Blick für den Typ von Frauen zu haben, der bei dem Spiel mit weit überproportionaler Häufigkeit gewinnt. Einmal hatte er einer Bekannten gegenüber diese Vermutung geäußert, was ihm mit verschmitztem Lächeln bestätigt wurde. Abgesehen von diesen Besuchen – den konkurrenzlosen Sternstunden seiner ersten anderthalb Jahrzehnte – hatte er hin und wieder mit seiner Großmutter und deren Freundin Karten gespielt, auch recht früh von einem Onkel Schach gelernt, mangels Gegnern aber meistens Partien aus einem Lehrbuch oder gegen sich selbst gespielt, aus einem ihm unerfindlichen Grund stets hoffend, dass Weiß gewinnt, was – welch Wunder! – ohne Lehrbuchvorlage auch prompt geschah. Irgendwann aber war diese Zeit vorbei. Sich nach so vielen Jahren wieder an Gesellschaftsspielen zu beteiligen, war anfangs durchaus gewöhnungsbedürftig, schließlich aber fand er sogar Spaß daran. Allerdings offenbarte sich dabei wieder einmal sein Unvermögen, sich über längere Zeit unter Menschen wohl zu fühlen. Ganz gleich, mit wem er zusammen ist, nach spätestens zwei Stunden wird er unruhig und hat das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und seinen eigenen Neigungen nachzugehen. Wahrscheinlich gelang es ihm auch während der Spieleabende nie, seine aufkommende Ungeduld ganz zu verbergen. Menschen strengen mich an, hatte irgendjemand einmal bemerkt. Ihm geht es leider auch nicht sehr viel anders. An einem dieser Abende hatte sie außer den üblichen Teilnehmern noch eine Bekannte und deren kleinen Sohn eingeladen, ihn aber zuvor ermahnt, sich nicht in die Frau zu vergucken. Er hatte sich dann auch nicht in die potenzielle Nebenbuhlerin verguckt, trotz ihrer Warnung, sich nur gewundert, dass ihr solche Gedanken offenbar häufiger durch den Kopf gehen und sie das auch noch ganz unverblümt zum Ausdruck bringt. Er selbst hegte ihr gegenüber keine solchen Befürchtungen; anderenfalls hätte er das –schon aus quasi ermittlungstaktischen Erwägungen – für sich behalten. Sie war von einer Bekannten zur Geburtstagsfeier eingeladen, einer bildenden Künstlerin, die sie bei einem ihrer Volkshochschulkurse kennengelernt hatte. Sie wohnte in einer großräumigen Altbauwohnung in einer bei Künstlern, Kreativen und Alternativen angesagten In-Gegend. Zu der Feier hatten sich etwa zwei Dutzend eher unkonventionelle Leute eingefunden. Jeder schien jeden zu kennen und begeistert zu sein, die anderen wieder einmal zu Gesicht zu bekommen. In Situationen wie dieser ist es ihm stets eine Erleichterung, ein möglichst großes Glas Bier – zur Not tut es auch ein Weinglas – in der Hand zu halten, womit er sich während der kommunikationslosen Zeitintervalle beschäftigen, woran er sich gewissermaßen festklammern kann. Wie zu erwarten stand man mal hier, mal dort zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammen, redete mit diesem und jenem, aß nebenbei von den mitgebrachten Salaten und diversen kalten Platten und nippte hin und wieder beiläufig an seinem Glas. Auch sie, die sie zumindest einige Leute dort kannte, wechselte von Zeit zu Zeit Standort, Gesprächspartner und -thema, wenn sie nicht gerade bei ihm war. Ansonsten besichtigte man interessiert das Atelier, lobte großzügigen Zuschnitt und Ambiente der Wohnung, vor allem jedoch die überall und in großer Zahl herumstehenden Ergebnisse der künstlerischen Bemühungen der Gastgeberin, warf einen Blick aus dem Fenster über den weitläufigen Platz, äußerte sich nicht wenig erstaunt über den in diesem Viertel eigentlich nicht selbstverständlichen ungehinderten Ausblick und genoss, wie stets bei solchen Anlässen, das unausgesprochene Einverständnis, sich gegenseitig mindestens sympathisch zu finden. Ich bin in Ordnung, du bist in Ordnung, wir alle sind in Ordnung, das Milieu, das wir verkörpern und hier gemeinsam zelebrieren, ist zumindest okay, wenn nicht gar das denkbar erstrebenswerteste überhaupt. Mit uns allen, die wir hier mehr oder weniger dicke Kumpel sind, ist im Großen und Ganzen alles aufs Beste bestellt, kurzum: Es ist alles gut