Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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jeden Gedanken unmittelbar und ungefiltert zum Ausdruck, was einerseits ehrlich war, andererseits zum Teil auch befremdend. Ohne Zweifel hatte sie etwas von einer femme sans gêne! Ob sein Verhalten ihrem vorzuziehen ist, dafür würde er allerdings seine Hand lieber nicht ins Feuer legen.

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      Sie waren noch nicht lange zusammen, als sie ihm vorschlug, eine Familienaufstellung für sich machen zu lassen.

       Auch davon hörte er durch sie zum ersten Mal, hatte also keine Vorstellung, worum es dabei geht, lediglich die starke Vermutung, dass es sich um irgendetwas durch und durch Psychologisches handeln muss.

       Auf sein Nachfragen erklärte sie, ihre älteste und engste Freundin, die sie schon seit Jahrzehnten kenne und die ebenfalls als Therapeutin arbeite, biete so etwas von Zeit zu Zeit an. Unter den Anwesenden würden von ihr Stellvertreter für seine Familienmitglieder ausgewählt und in einer bestimmten Anordnung im Raum aufgestellt. Durch entsprechendes Agieren des Therapeuten fühlten sich die Stellvertreter nach einer Weile wie die von ihnen dargestellten Personen, übernähmen deren Gefühle und brächten sie so zum Ausdruck, nähmen also die Stelle der Familienmitglieder ein.

       Auf die Weise könnten Verstrickungen mit Vorfahren und Verwandten an die Oberfläche gelangen, bewusst ge­macht und schließlich aufgelöst werden.

       In seiner Familie gebe es ja eine Reihe unaufgelöster Probleme, die ihn bis heute emotional und in seinem Ver­halten blockieren oder zumindest stark beeinträchtigen. Hier könne eine Familienaufstellung eine große therapeutische Wirkung haben.

       Er deutete vorsichtig an, wie unangenehm ihm Situationen überbordender und unkontrollierter Gefühls­ausbrüche seien, was er bei solch einer Inszenierung ernsthaft befürchte.

       Damit müsse er nicht nur rechnen, erklärte sie, es sei sogar wünschenswert, da es letztlich dem Heilungsprozess diene.

       Er erwähnte daraufhin, einige Male im Fernsehen therapeutische Gespräche verfolgt zu haben, in denen es um persönliche Belange der Teilnehmer ging, wobei es für ihn kaum zu ertragen war, als auch noch jemand zu weinen begann, insbesondere weil es sich um einen Mann handelte, und, als ob das allein noch nicht beklemmend genug war, eine der Teilnehmerinnen schließlich, vom Mitleid erfüllt, dessen Hand ergriff.

       Für ihn war diese Szene schlicht zu viel. Dann schon lieber sich als Verbogener, Verkorkster, Blockierter, Verklemmter und Gehemmter durch den Alltag schlagen.

       Sich so aufzuführen war definitiv nicht seine Sache! Es wäre ihm ohnehin lieber, wäre er zum Beispiel als leicht unterkühlter Hanseate sozialisiert worden.

       Un he rasselt mitn Dassel opn Kantsteen un he bitt sick ganz geheurig op de Tung, as he opsteiht, seggt he: hett nich weeh doon, ischan Klacks förn Hamborger Jung. Sie drängte ihn auch nicht weiter, meinte nur, er könne sich das ja noch einmal überlegen, was er auch brav versprach, hoffend, damit das Thema in freundlichem Einverständnis beendet zu haben, zumindest vorerst. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl bei seiner Reaktion. Eigentlich mochte er niemanden enttäuschen, und nun hatte er abermals einen Vorschlag von ihr abgelehnt. Sie konnte damit nicht zufrieden sein, auch wenn sie ihm vorerst keine Vorwürfe machte. Bestimmt will auch sie nur sein Bestes, ging es ihm ironisch durch den Kopf, behielt das aber lieber für sich. Die Freundin, von der sie des Öfteren gesprochen hatte, lernte er dann auch bei einer Familienaufstellung kennen, allerdings gehörte er nicht zu den Probanden. Das zumindest hatte er verhindern können. Sie war eine gemütliche, mollige Person mit einem freundlichen runden Gesicht und langem wallendem dunklem Haar, in das eine große rote Schleife gebunden war. Dazu passend hatte sie die Lippen ziemlich auffällig rot geschminkt (wir wollen nicht kleckern, sondern klotzen) und trug zu dem Ganzen eine knallrote Kostümjacke. In gewisser Weise verkörperte sie die fleischgewordene Unbedarftheit und Gutmütigkeit schlechthin, sprach auch entsprechend mit jedem und in jeder Situation, sei es während der Aufstellungen oder privat, in einem bedächtigen, versichernden, unmotiviert tröstenden Ton, wie eine liebe, wohlmeinende Tante zu einem kleinen verschüchterten Kind. Dass sie zum Amüsement ihrer Freunde und Bekannten noch als Studentin nicht in der Lage gewesen sein soll, Ironie als solche zu erkennen und von Ernstgemeintem zu unterscheiden, konnte er sich auch nicht anders vorstellen, Schwierigkeiten bereitete ihm allein der Gedanke, dass sich daran jemals etwas geändert haben sollte. Ebenso undenkbar, dass sie je anders als im Verhältnis eins zu eins fühlte, dachte, redete und handelte. In ihrer gesamten Erscheinung und ihrem Habitus vermittelte sie den Eindruck des Unvermögens, irgend­etwas Außerhäusliches auch nur einigermaßen auf die Reihe zu bringen. Trotz besseren Wissens konnte er bei ihrem Anblick nichts anderes als eine brave Hausfrau und Mutter assoziieren, an ihrer Seite ein geduldiger, fürsorglicher Ehemann, der sie vor aller Unbill und allen Widrigkeiten des Lebens bewahrt, ihr sämtliche Probleme und Schwierigkeiten aus dem Lebensweg räumt, ihr praktisch alles abnimmt außer Ko­chen, Waschen, Bügeln, Putzen, Einkaufen und – falls sie katholisch ist – der Beichte. Dass er es versäumte, ihr den Spitznamen Babuschka zu verpassen, wird er sich so schnell nicht verzeihen können. Die Babuschka hatte einen ihrer Söhne dabei, ein Freund ihres Sohnes, der anschließend bei einigen Aufstellungen assistierte, indem er jeweils eine Rolle übernahm. Die beiden mit ihren runden, vollen Gesichtern nahmen an der Stirnseite des Raumes nebeneinander Platz. Während der Sohn in seiner Regungslosigkeit und sei­nem Schweigen an einen in Meditation versunkenen buddhistischen Mönch erinnerte, gab die Mutter in fast fürsorglichem Ton ein paar einführende Erklärun­gen. Irgendetwas an deren Verhältnis zueinander kam ihm sonderbar vor – nicht ganz koscher wäre zu viel gesagt, aber schon ein wenig in die Richtung weisend. Interessanterweise schöpfte sie, die in so vielem – wenn nicht körperlichen, so doch zumindest seelischen – Missbrauch vermutete, in dem Fall keinen solchen Verdacht, jedenfalls kamen von ihr keine entsprechenden Bemerkungen. Die Babuschka führte an jenem Wochenende etwa ein halbes Dutzend Aufstellungen durch. Zumindest an einer nahm er teil – seiner Erinnerung nach einen Vater oder Sohn darstellend. Im Gegensatz zu etlichen anderen Partizipanten empfand er dabei jedoch nichts weiter, abgesehen von der kleinen Begebenheit zu Beginn, als eine junge Frau, die ebenfalls aufgestellt war und dort in irgendeiner Beziehung zu ihm stand, ihn einen Moment lang so lieb mit ihren hübschen großen braunen Augen anschaute. Davon abgesehen aber rief das Szenario bei ihm keine nennenswerten Emotionen hervor. Mag sein, dass es mit seinem Gefühlsleben, seinem seelischen Tiefgang nicht mehr allzu weit her ist. Geradezu am ganzen Körper erzitterte eine Frau vor Erregung während einer Aufstellung, in der es um eine Tochter ging, deren Vater in der DDR von einer (wie sich dann herausstellte) verschmähten Geliebten als Nationalsozialist denunziert (was er nachgewiesenermaßen nicht war) und daraufhin zum Tode verurteilt worden war. Während die Darstellerin der Verschmähten den Raum auf Drängen der Therapeutin verließ, drehte sie sich noch einmal um und rief den Übrigen in aggressivem, triumphierendem Tonfall zu: »Soll ich etwas sagen? Rache ist süß!« Des Weiteren ging es um die Probleme einer Tochter mit ihrer Mutter, die Aufseherin im Konzentrationslager gewesen war, worüber in der Familie – wen wun­dert’s? – nie gesprochen wurde. Offenbar geht auch psychisch – ebenso wie energetisch – nichts verloren, zumindest scheint die Halbwertzeit erheblich länger zu sein als gemeinhin angenommen. Aliquid semper haeret. Allem Anschein nach sogar deutlich mehr als nur aliquid. Beginnt sich damit die Lücke zwischen Psychologie und Esoterik zu schließen? Sind solche Aufstellungen erste Schritte in diese Richtung? Nichts ist unmöglich. Die Gewissheit, dass nichts auf Nimmerwiedersehen verschwindet, hätte in jedem Fall etwas Tröstliches.

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      Sie hatten sich entschieden, eine gemeinsame Wohnung zu suchen, in der – zum einen aus praktischen und finanziellen Gründen, zum anderen wegen des nicht allzu guten Verhältnisses zu ihren beiden Kolleginnen – auch Platz für eine eigene Praxis sein sollte.

       Einige Tage nach dem ersten diesbezüglichen Gespräch schrieb sie ihm ihre Überlegungen zu der anvisierten gemeinsamen Wohnung.

      Sie stellte sich eine Villa mit großen Räumen vor, mit einem Zimmer für jeden, einem großen Gemeinschaftsraum, einer großen