Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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Rückkehr die Wohnung verbarrikadiert und unglaubwürdige Schau­ergeschichten über ihren Urlaub erzählt hatte, nicht lange darauf allein mit dem Auto verreist war und ihm anschließend wieder von höchst merkwürdigen Begeben­hei­ten berichtete, danach eine Zeitlang in der Stadt herumgeirrt und irgendwo untergekommen war, sich zwischenzeitlich einige Tage frei­willig in einem Krankenhaus in Behandlung begeben hatte, war sie schließlich an die französische Mittelmeerküste gereist, um ihre leibliche Familie zu besuchen, zu der sie erst seit etwa zehn Jahren und seitdem auch nur sporadischen Kontakt hatte – sowohl mit der Mutter (zeitlebens weder berufs- noch in anderer Weise nennenswert tätig, Adeptin des traditionalistischen, exkommunizierten katholischen Erzbischofs Lefebvre, sich ansonsten über Juden und Freimaurer ereifernd, überbehütete Tochter eines steinreich gewordenen Aufsteigers und einer Frau, die es Berichten zufolge nie verwunden haben soll, während des Krieges ohne Haushälterin ausgekommen sein zu müssen), als auch mit ihren Halbgeschwistern (ein Jurist, eine geschiedene, nichtsdestoweniger erzkatholische Hausfrau und ein sich seit Jahrzehnten auf der Suche nach einer gläubigen Jünger-, insbesondere einer aus Halbwüchsigen bestehenden Jüngerinnenschar befindender, sich als Avatar bezeich­nender sexbesessener Guru). Der Besuch verlief jedoch, ihren späteren Erzählungen zufolge, recht unbefriedigend. Anschließend fuhr sie etliche hundert Kilometer zu dem Ort, in dem sie aufgewachsen war und wo er mit ihr und den Kindern später zehn Jahre gelebt hatte. Hier fand ihre Odyssee in einem Hotel in der Nähe schließlich ein Ende. Die vom Hotelpersonal alarmierte Polizei brachte sie in eine psychiatrische Einrichtung. Nach einigen Wochen in der Klinik brachte man sie, nachdem man sich über etliche Umwege mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, zum Flughafen. Man hatte mit ihm vereinbart, dass er sie bei ihrer Ankunft empfängt und in ihre Wohnung begleitet. Bei ihrer Rückkehr befand sie sich wieder in einer normalen Verfassung, sodass sich ihre Zusammenkünfte darauf beschränken konnten, dass er hin und wieder am Wochenende die jüngere Tochter aus dem Heim abholte und zu ihr mitnahm, wo sie die Nachmittage zu dritt verbrachten.

      3

      Es sei gestern wunderschön gewesen. Überhaupt finde sie, dass es ihnen ganz gut gelingt, sich allmählich immer mehr anzunähern, und sie hoffe, dass das auch so weitergeht, auch wenn seine Noch-Frau dann wieder in der Nä­he ist und ihn womöglich bedrückt. Heute Morgen sei ihr im Halbschlaf die Idee gekommen, nach Weihnachten über Silvester eine Woche in den Süden zu fliegen, was hält er davon? Das müsste man sofort buchen, wenn es nicht schon zu spät ist. Die Kanaren sollen nicht wetterbeständig sein in der Zeit, gut wäre laut Kollegin Marokko. Was meint er überhaupt zu der Idee? Marokko – wie viele Menschen lassen all ihre Habse­ligkeiten zurück und zahlen bereitwillig eine für ihre ärmlichen Verhältnisse horrende Summe, um sich von eben diesem Land unter Lebensgefahr über das Mittel­meer nach Europa schippern zu lassen, zu einem Kontinent, von dem man mal eben mit der Billigfliege dorthin düst, um sich an den einschlägigen Stränden nachdunkeln zu lassen und mit gelangweilter, entspannter Neugier durch die dekorativen Idyllen des Elends zu schlendern. Okay, okay, Die Stimmen von Marrakesch, hat er ja auch irgendwann gelesen, so ist das nicht. Trotzdem! Etwas sonderbar, widersprüchlich ist das schon mit den so ganz und gar unvergleichbaren Umständen und Motivationen solcher in entgegengesetzte Richtungen verlaufenden Menschenströme. Hinzu kommt bei ihm in puncto Urlaubsreisen, dass er keine Ader für allzu Exotisches hat und entsprechend auch zu der aussterbenden Spezies gehört, die diesem Kontinent nie entfleucht sind und, schlimmer noch, es nicht einmal vorhaben. Er hält es da eher mit Arno Schmidt: Eine einmalige Pflichtreise, wenn es sein muss auch nach London – der Frau zuliebe und um des lieben Friedens willen –, ansonsten ein paar stille, besinnliche Tage am Dümmersee, das sollte genügen. Dass die wahren Abenteuer sich im Kopf abspielen, wie durch den besagten Schriftsteller in so eindrucksvoller, geradezu literaturnobelpreiswürdiger Weise be­wiesen, vorgelebt wurde, ist eben doch mehr als ein bloßes Pappteller-in-der-Hand-auf-Party-Bonmot. Zugegeben, manch ein braver römischer Landser war seinerzeit schon im wortwörtlichen Sinne weiter als er. Ob es zu irgendetwas nützlich war, und wenn ja, für wen oder was, sei dahingestellt. Er wolle kein Armenhaus besichtigen, begründete ihm gegenüber einst ein unverkennbar dem seiner­zeitigen linken politischen Mainstream angehörender Kommilitone, mit dem er sich – die Staubmaske vor dem Gesicht, mit dem Vorschlaghammer Decken und Wände einreißend, Bauschutt und Ziegel mit der Schubkarre von einem Platz zum anderen schaffend – zeitweilig auf Baustellen verdingte, dessen Weigerung, irgendwelche Drittweltländer zu bereisen. Zudem hegt er eine nicht geringe Sympathie für die Bemerkung eines Fernsehprominenten in einem seiner Bestseller, worin es, um kein Klischee aus[zu]­lassen, auf den wunden Punkt gebracht heißt: Je dümmer der Passagier, desto weiter das Reiseziel, wobei noch ein Schnelltest im Bekanntenkreis empfohlen wurde: Wer wandert im Donautal, wer fliegt auf die Malediven? Sehn Se! – eine jener ebenso kurzen wie pointierten Passagen, für die allein schon die Anschaffung des Buches lohnte. Sie hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis er dies lesen kann. Schade, dass er nicht wie versprochen angerufen habe. Eigenartig, dass gerade jetzt, wo seine Noch-Frau wieder zurückkommt, ihre Kommunikation durch technische Probleme gestört wird. Ein Teil von ihr wolle sich in die altbekannten Verlustängste »stürzen«, aber merkwürdigerweise funktioniere es nicht. Der andere Teil, der sagt, »Bleib ruhig, alles kommt in Ordnung, du brauchst keine Angst zu haben« sei viel stärker angenehm. So warte sie ziemlich ruhig ab, wie sich die Dinge ent­wickeln werden und schicke ihm einfach einen lieben Gruß und etwas Kraft für nicht ganz einfache Situationen.Es tue ihr leid, dass sie gestern etwas »zickig« gewesen sei es sei das alte Muster zwischen Männern und Frauen gewesen. Da sie aber beide möchten, dass es weitergeht und da sie gestern, als er auf die Fotos seines Vaters geschaut habe, bei ihm ganz viel Liebe wahrgenommen (oder vielleicht besser: unterschwellig gespürt) habe, denke sie, dass es ein großes Potenzial zwischen ihnen gibt. Im Übrigen habe sie gedacht, es sei vielleicht doch keine so gute Idee, seine Mutter jetzt kennenlernen zu wollen. Wenn sie nur so kurz da sei, will sie ihn doch für sich haben, was sie verstehen könne, und nicht eine für sie fremde Frau treffen, von der sie noch gar nicht wissen kann, ob sich das überhaupt lohnt. Also stelle sie sich darauf ein, ihn erst am Sonntag (?) wieder zu sehen. Aber vielleicht könnten sie dafür öfter mailen und telefonieren?Beim Ausloten ihrer Tiefen fördere sie doch einen leichten Schmerz darüber zutage, dass er da mit einer Frau zusammen war, die offenbar völlig ungebrochen annehmen konnte, was er zu geben hat.Ob er denn nicht gern mit ihr zusammen sei? Oder habe er nur das Gefühl, die Zunge würde ihm abbrechen oder verdorren oder ähnlich Schreckliches, wenn er mal etwas darüber äußert? Sie sei anscheinend gefühlsmäßig etwas durcheinander, vermutlich durch das sich ihm Öffnen bei nicht ganz ausreichendem Geborgenheitsgefühl, denn ihr passieren dauernd Schusseligkeiten, ihr fallen Dinge aus der Hand, sie kippe Kokosmilch aus, schmeiße ein Glas runter und gestern Abend habe eine nette junge Frau sie angerufen, ob sie im Stadtbad gewesen sei, sie habe ihre Euroscheckkarte gefunden. Das nehme langsam bedenkliche Formen an. Aber sie habe beschlossen, wenigstens ihre Ängste über Bord zu werfen. Er mache das viel klüger. Er sage, »Was passiert, passiert sowieso, das kann ich nicht ändern und ich werde es in jedem Fall überleben«. Sehr gesund, so versuche sie es jetzt auch zu machen, gelinge ganz gut bis jetzt, sie müsse nur aufpassen, dass diese Haltung keine Distanz erzeugt. Für seine schöne und lustige Geschichte danke sie ihm. Zwar war sie weit davon entfernt, ausschließlich auf ihre Probleme fixiert zu sein, sie gehörte jedoch zu den Menschen, die immer wieder von neuem tatsächliche oder im Nachhinein entsprechend interpretierte Ereignisse der ersten Lebensjahre hervorkramen, mit denen sie offensichtlich keinen Frieden schließen können. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht die eine oder andere Begebenheit aus einer Zeit, die inzwischen ein halbes Jahrhundert zurücklag, von neuem aufs Tapet gebracht wurde. Ihm war das alles nicht neu. Er war bereits zuvor in seiner Ehe mehr als zwei Jahrzehnte mit dieser Problematik konfrontiert worden, sodass er im Laufe der Jahre einen gewissen Überdruss gegenüber bestimmten Geschichten entwickelt hatte, der einige Male in seiner Bemerkung kulminiert war, er würde sich wohl selbst bei einer fiktiven, sich über etliche Jahrhunderte erstreckenden alttestamentlichen Lebenserwartung bestimmte Klagen bis zu seinem Ende anhören müssen. Abgesehen davon glaubt er ohnehin nicht an die heilende Wirkung beständigen Wiederholens immer derselben misslichen Ereignisse, schon gar nicht auf ihn selbst. In