Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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intensiv um die beiden küm­mern mussten, wobei sie selbst, was Aufmerksamkeit und Zuwendung betraf, zu kurz kam und sich entsprechend vernachlässigt fühlte. Ein weiteres Problem in den ersten Lebensjahren war die vorübergehende Abwesenheit ihrer Eltern, während der sie bei der Großmutter lebte. Er fand es bisweilen fast amüsant, mit welcher Verve sie auf die akribische Aufteilung in allen möglichen Dingen achtete, was unter anderem finanzielle Ausgaben, gegenseitige Besuche und häusliche Arbeiten wie Kochen und Abwaschen betraf. Es war nicht so, dass ihn das störte, er sich in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlte, dass er etwa vorgehabt hätte, sie auszunutzen oder zu übervorteilen. Auch er war auf Ausgewogenheit bedacht und hatte selbstverständlich darauf geachtet, zu allem angemessen beizutragen, hatte das im Zusammenleben mit anderen stets und unaufgefordert so gehalten und diesbezüglich auch nie Beschwerden zu hören bekommen. Dennoch befremdete ihn diese Angst, zu kurz zu kommen, nicht genug abzubekommen, diese Mentalität des kleinlichen Aufrechnens und Vergleichens, des Korinthenzählens, des eifersüchtigen Beobachtens, des misstrauischen Nachkontrollierens, ob das eigene Stück Kuchen nicht vielleicht doch etwas kleiner ist als die der anderen. Einmal berichtete er ihr von einer Bekannten seiner Mutter, die erzählt hatte, die Eltern hätten das Erbe lange vor deren Tod an sie und ihre Geschwister weitergegeben, wobei niemand daran dachte, nachzuprüfen, ob er auch um Gottes Willen nicht etwa weniger als die anderen bekommen hat. Er erwähnte diese Geschichte vor allem, um ihre Reaktion zu prüfen. Sie erwiderte auch prompt, dass sie an deren Stelle schon darauf geachtet hätte, genauso viel zu bekommen wie die anderen. Er hatte auch keine andere Antwort erwartet. Sie hatten zudem recht unterschiedliche Vorstellungen davon, was unter Neid und Missgunst zu verstehen ist. Ihm fiel auf, dass sie häufig den Begriff Neid verwendete, und zwar in Zusammenhängen, in denen er davon gesprochen hätte, dass man etwas, was ein anderer besitzt, auch gern hätte, während sie das, was er unter Neid verstand, als Missgunst bezeichnete. An den meisten Tagen während der Woche kam sie nach der Arbeit beziehungsweise nach den anschließenden Volkshochschulkursen, wovon sie nicht selten mehrere belegte, zu ihm, die Wochenenden verbrachten sie in der Regel bei ihr. Dass die Einrichtung einer Wohnung nicht nur den Geschmack, auch die Mentalität, die Grundstimmung, das Lebensgefühl des Bewohners widerspiegelt, ist eine banale Allerweltsweisheit. Eigentlich hätten ihre beiden Zimmer, die immerhin eine mindestens durchschnittliche Größe aufwiesen, für einen einzelnen Menschen bei weitem genügen müssen. In ihrem Fall lag das Problem des dennoch bestehenden Platzmangels darin, dass sie, als sie an ihrem vorherigen Wohnort mit ihrem damals noch heranwachsenden Sohn zusammen ein zweistöckiges Fachwerkhaus bewohnte, eine solche Menge an Mobiliar und anderen Gegenständen angesammelt hatte, dass der bei ihrem letzten Umzug nicht notgedrungen zurückgelassene Teil der Einrichtung in ihrer jetzigen Wohnung nur unter Ausnutzung praktisch jeder halbwegs geeigneten Fläche untergebracht werden konnte: Unter das Doppelbett, unter das sofaähnliche Möbel im Wohnzimmer und auf den Schlafzimmerschränken waren Kartons geschoben beziehungsweise gestapelt, die Fensterbank im Bad diente als Ablage für diverse größere und kleinere Fläschchen mit Sprays, Duftwässerchen und anderen exklusiven Verdunstungsartikeln, ohne die ein Großteil der Frauen allem Anschein nach kaum einen Tag überleben kann, vor dem Küchenfenster stand etwa ein halber laufender Meter Kochbücher. Wie viele Wochen würde sie wohl benötigen, fragte er sich, wenn sie Tag und Nacht ohne Unterbrechung – wäh­rend also gleichzeitig andere damit beschäftigt wären, die Zutaten heranzuschaffen – jedes der dort aufgeführten Gerichte auch nur ein einziges Mal zubereiten würde? Vor dem Schafzimmerfenster war ein Teil ihrer belletristischen Literatur gestapelt. Zwischen den Fensterflügeln im Wohnzimmer reihten sich farbenfrohe Vasen, was allerdings den Nachteil hatte, dass sie zum Lüften des Zimmers jedes Mal umständlich beiseitegeschoben werden mussten. Darüber hinaus hatte sich eine beachtliche Menge an Kleidungsstücken angesammelt. Da die beiden Schränke im Schlafzimmer bei weitem nicht genug Platz boten, wurde ihre Winter- beziehungsweise Som­merkollektion zu den entsprechenden Jahreszeiten in den Schränken kurzerhand ausgetauscht, das heißt, die momentan nicht für die Jahreszeit geeignete Garderobe vorübergehend in Kartons verstaut. Der Küchentisch war zu drei Vierteln mit einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Zeitschriften (unter anderem den letzten Ausgaben des Stern, den sie regelmäßig las) sowie privaten und behördlichen Briefen bedeckt, sodass vor dem Essen die Papiermasse oft erst einmal zusammengeschoben werden musste beziehungsweise zu den Zeitschriftenstapeln auf der Holzbank gelegt wurde, die hinter dem Tisch neben dem Fenster stand und ohnehin nicht mehr ihrer ei­gentlichen Bestimmung entsprechend genutzt werden konnte sondern gewissermaßen zu einer kniehohen Ablage mit Rückenlehne mutiert war. Auch für zwei Kerzenständer gab es auf dem Küchentisch trotz allem noch Platz; so fand das Abendessen bei ihr fast immer bei Kerzenschein statt. Er empfand es als sehr angenehm und entspannend, in solch einer Atmosphäre zu essen, obwohl Mahlzeiten für ihn ansonsten eine eher prosaische Angelegenheit sind. Wenn er für sich allein kocht und isst, ist er meistens in Eile. Weder für Muße noch für das Zelebrieren kleiner Rituale noch für die Freude an Dekor besitzt er die innere Ruhe. Eigentlich hat er in jeder Minute etwas vor, irgendetwas zu lesen, aufzuschreiben oder zu erledigen. Er fand Gefallen an dem langsameren Rhythmus und der behaglichen Stimmung der gemeinsamen Mahlzeiten, aber das wirklich zu würdigen kam ihm leider nie in den Sinn. Vieles wusste er wohl nicht zu schätzen. Die Ausstattung ihrer Küche mit Kerzenständern war jedoch nichts verglichen mit der in ihrem Wohnzimmer. Deren genaue Zahl kann er aus seinem Gedächtnis nicht mehr abrufen. Der auffälligste darunter war ein direkt auf dem Fußboden stehendes, etwa hüft­hohes Stahlgestell, an dem allein etwa ein halbes Dutzend Kerzen steckten. Zudem wurden häufig sämtliche im Zimmer vorhandenen Kerzen angezündet, was nicht nur die elektrische Beleuchtung überflüssig machte, sondern eigentlich auch die Heizung zumindest teilweise hätte ersetzen können. Merkwürdigerweise aber war es bei ihr trotzdem meistens etwas zu kalt. Während es ihr nie hell genug sein konnte, war ihm wiederum so viel äußere Erleuchtung des Guten zu viel. Sie schiebt die Grenzen halt weiter hinaus, dacht er. Eine Obergrenze schien sie auch in der Hinsicht nicht zu kennen. Was gleichermaßen im Überfluss vorhanden war, waren Sofakissen, bei denen, wie bei den Handtüchern, Röcken, Kleidern, Blusen und dem selbstgefertigten Schmuck, farbliche Abstufungen von Hellblau, Hellgrün und Türkis vorherrschten. Was die Kissen anbelangt, so lagen sie mehr oder weniger übereinandergeworfen auf dieser Art Liege oder Sofa, zum Teil auch auf dem schräg davor stehenden Sessel. Anfangs hatte er sich einmal die Mühe gemacht, sie zu zählen – es mussten knapp zwanzig gewesen sein. Es war praktisch unmöglich, sich einfach spontan auf einer der beiden – eigentlich nur noch sogenannten – Sitzgelegenheiten niederzulassen. Erst einmal musste freigeräumt und umgestapelt werden. Für nichts gibt’s nichts! Ohne Fleiß kein Preis! Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Da einige der Kissenbezüge aus Seide waren, gestaltete sich deren Übereinanderstapeln nicht ganz unproblematisch, denn Haft- und Gleitreibung von Seide auf Seide lassen, wie er feststellen musste, einiges zu wünschen übrig. Schon eine leichte fahrige Bewegung gegen das Kissengebirge konnte dazu führen, dass gewissermaßen die ganze Ladung ins Rutschen kam und wegen der fehlenden Rückenlehne und Seitenlehnen bei dem sofaähnlichen Möbel etliche Kissen auf dem Holzfußboden beziehungsweise dem Teppich landeten. Ein ähnliches Problem ergab sich mit ihrer seidenen Bettwäsche. Lag man nicht genau in der Mitte unter der Decke, bedurfte es meist nur einer unbedachten Bewegung, schon rutschte sie nach einer Seite herunter und lag neben einem statt darüber, büßte damit ihre Funktion des Warmhaltens ein und wurde gewissermaßen zur Beilage. Trotz allem kam er mit den Kissen letztlich besser zurecht als mit den beiden Fernbedienungen ihres Fernsehers, zu dem noch ein weiteres Gerät gehörte, an dem unter anderem die Antenne angebracht war. Es mussten stets beide Geräte eingeschaltet werden. Die Fernbedienungen waren für verschiedene Funktionen zuständig, die er sich jedoch nie merken konnte, sodass er entweder das gesuchte Programm nicht fand oder erst gar nicht in der Lage war, überhaupt ein Programm einzuschalten oder aber die Programme plötzlich verschwanden und es ihm im günstigen Fall gelang, durch das Ausschalten und anschließende erneute Einschalten der Geräte den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Kurzum: Auch dieses Terrain barg eine Fülle an Unwägbarkeiten und unvorhersehbaren Überraschungen; jede unbedachte Aktion wurde stante pede sanktioniert, Komplikationen waren praktisch vorprogrammiert. Wie bei den Kerzen und Kissen gab es auch einen Überfluss an Gemälden und Fotos – im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche. Es gab wohl niemanden in ihrer Familie und im Freundeskreis, der nicht zugleich auf mehreren Abbildungen zu sehen