Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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Gebäudekomplexes aus den Zwanzigerjahren, in einer reinen Wohn- und Schlafgegend, in der es weder Geschäfte noch irgendeine Art öffentlichen Lebens gab, zwar noch im weiteren Sinne zum Stadtzentrum gehörend, das pralle Leben aber fand hier nicht mehr statt. Es war genau die Art von Umfeld, die man, sofern man ein Faible dafür hat, als ruhige Gegend bezeichnet, mit anderen Worten, nicht gerade ihr Leib-und Magenviertel. Auch die Leute dort waren nicht unbedingt nach ihrem Geschmack, wie sie ihm zu verstehen gab. Ihre Bemerkung kam für ihn keineswegs überraschend. Er konnte sie sich ohnehin weit besser in einem urbaneren Viertel vorstellen. Sie gingen zuerst in die Küche, wo sie eine Kristallvase aus dem Schrank holte, die Vase mit den Blumen, nachdem sie rasch eine Stelle freigeräumt hatte, auf den Tisch stellte und sich sodann an ihrem Espressokocher zu schaffen machte. Sie habe ihn aus Italien mitgebracht, erklärte sie, während sie weiter damit hantierte. Leider gebe es Geräte dieser Art in Deutschland nicht. Hier werde meist nur billiges Zeug aus Alu­minium angeboten, das nicht viel tauge. Den Kaffee tranken sie gleich in der Küche. Als Sie ihm wieder von einem unerfreulichen Ereignis in ihrem Leben erzählte, strich er ihr über die Wange. Sie begann daraufhin von neuem leise zu weinen. Während er sie anschaute, wies sie auf eine leicht gerötete Stelle in ihrem Gesicht, die sie vorsichtig mit dem Finger berührte und dabei erklärte, ihre Haut reagiere dort extrem auf Stimmungen. Ihr Arzt habe sie gewarnt, dass dort sehr leicht Hautkrebs entstehen könne. Sie solle diese Stelle deshalb genau beobachten. Er nahm sich vor, ihr keinen Anlass für negative Stimmungen zu geben, die bei ihr Hautkrebs verursachen könnten. Schließlich wollte er nicht ihr vorzeitiges Ableben auf dem Gewissen haben. Wahrscheinlich wäre das sogar fahrlässige Tötung.

      Als sie darauf zu sprechen kamen, wie sie sich eine Beziehung miteinander vorstellen, bemerkte er unter anderem, er habe nicht die Absicht, sie in irgendeiner Weise einzuengen, worauf sie erst einmal nichts erwiderte. Einige Tage später kam sie darauf zurück und brachte ihre Befürchtung seiner eventuellen mangelnden Bereitschaft zum Ausdruck, sich wirklich auf sie einzulassen, eine verbindliche Beziehung mit ihr einzugehen.

       Er fragte sich, ob sie zu den Menschen gehört, die stets die Wahrheit hinter der Wahrheit suchen und darüber nachsinnen, was mit dem Gesagten tatsächlich zum Ausdruck gebracht werden sollte.

      Über der Kommode neben dem Bett hing ein – wie sie ihm erklärte – von ihr selbst gemaltes Bild. Es bestand aus mehreren unterschiedlichen, auf den ersten Blick willkürlich zusammengewürfelten Motiven, zwischen denen er trotz ernsthaften Bemühens keinen Zusam­men­hang erkennen konnte. In der Hinsicht zumindest er­innerte es ihn ein wenig an Gemälde von Chagall.

       Einige Motive vermittelten eine eher deprimierende, zum Teil sogar bedrohliche Stimmung, andere hingegen drückten Harmonie, Geborgenheit und Optimis­mus aus.

       Sie erklärte ihm, es handele sich um ihr Seelenbild. Die einzelnen Motive versinnbildlichten verschiedene Abschnitte ihres Lebens. Jene mit einer eher negativen, düsteren Ausstrahlung symbolisierten vor allem ihre Vergangenheit, die helleren, freundlicheren Darstellungen ihre Zukunft.

       Er hatte bisher noch nie von solchen Bildern gehört und fragte sich, ob er vielleicht die Ursache einer even­tuellen positiven Wende in ihrem Leben ist. Mit ihrer Freundschaft begann für ihn neben anderem auch die hohe Zeit der Salatgerichte, für sie offenbar seit langem die abendliche Standardmahlzeit. So lernte er endlich, was es zum Beispiel mit Broccoli und Rucola auf sich hat. An diesem, wie er sich überzeugen konnte, durchaus bekömmlichen Grünzeug war er bis dahin in den Supermärkten achtlos vorübergegangen, vielleicht weil es auf den ersten – zumindest seinen ersten – Blick dem sogar ihm nicht unbekannten Kopfsalat zu ähnlich sieht um sein Interesse zu wecken – eben alles gleichmäßig grün. In Zukunft aber sollten diese neu entdeckten Gewächse eine zentrale Rolle in seiner Nahrungsaufnahme spielen, wie übrigens auch Mohrrüben und diverse Pilzarten, die man, wie sie ihm versicherte, guten Gewissens, ohne ins kulinarische Banausentum abzuirren, in den Blätterhaufen hineinschnippeln könne. Für ihn bedeutete die ungewohnte Ernährung zweifelsohne eine Bereicherung. Differenzen zwischen ihnen gab es allein über die Menge des zu ver­(sch)wen­denden Salzes. Ihm genügte etwa ein Drittel dessen, was sie gewöhnlich für sich benutzte. Das Problem wurde aber gelöst, indem jeder seine Portion selbst salzte beziehungsweise versalzte. Sie schenkte ihm sogar ein paar Kochbücher – oder genauer: Kochhefte –, von denen er jedoch – sei es aus Bequemlichkeit, sei es weil er sich dafür nicht die Zeit nehmen wollte – leider nie Gebrauch machte. Zum Abendessen trank sie in der Regel ein oder zwei Gläser Rotwein, wozu er sich ebenfalls animieren ließ, allerdings ersetzte er schon bald den Wein weitgehend wieder durch Leitungswasser. Als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück noch eine Weile zusammen in der Küche saßen und den Kaffee zu Ende tranken, sagte sie, nachdem sie eine Zeitlang nicht gesprochen hatten, unvermittelt: Lass uns zusammen lernen, glücklich zu sein!« Statt sich einfach spontan zu freuen, was sie eigentlich auch von ihm erwarten durfte, worauf sie nach seinem Dafürhalten geradezu ein Anrecht hatte, brachte ihre Bemerkung ihn nur in Verlegenheit. Es tat ihm leid für sie. Sie hatte Besseres verdient, nämlich eine vorbehaltlos positive Reaktion, er aber war nicht in der Lage, auf ihr Angebot überhaupt einzugehen. Anstelle dessen versuchte er sich einen Zustand des Glücks aus­zumalen, sowohl mit ihr zusammen als auch ohne sie, was ihm jedoch beides nicht gelingen wollte. Er hatte das Gefühl, sie im Regen stehengelassen zu haben. Ihre Enttäuschung über seine Reaktion, oder richtiger, über das Ausbleiben einer adäquaten Reaktion, war ihm sehr wohl bewusst, er sah aber keine Möglichkeit, die Situation zu retten oder zumindest zu entschärfen, und hatte am Ende wohl nur resigniert mit den Schultern gezuckt. An seine Fähigkeit, vorbehaltlos glücklich zu sein, konnte er nicht glauben. Es hatte bei ihm einmal eine Zeit ziemlich großer Orientierungslosigkeit gegeben, in der er sich eine Menge Gedanken darüber machte, wie ein Leben sinn­voll zu gestalten sei, und sich auch mithilfe entsprechender Lektüre eingehend mit dem Thema beschäftigte – eine seiner zahlreichen Phasen, die er bisher durchlebt hat. Natürlich war dort auch immer wieder vom Glück die Rede. Einige diesbezügliche gut gemeinte Ratschläge sind ihm noch im Gedächtnis. Viel geholfen hat es ihm nicht. Wahrscheinlich aber ist mit einem gewissen Grad an Zufriedenheit schon viel gewonnen. Wenn sich dazu hin und wieder eine kurzzeitige euphorische Stimmung einstellt, so war es am Ende der Mühe wert. Seine Frau, eine eifernde, unbekehrbare Hobbyas­trologin, hatte ihn wiederholt darauf hingewiesen, sein Aszendent sei der Saturn, und ihm detailliert erklärt, was das für die hiervon Betroffenen bedeutet. Die Frage nach dem Glück scheint ihm eingebettet in eine der was-wäre-wenn-Fragen der eher unoriginelleren Art, die Allerweltsfrage, die sich wohl so gut wie jeder irgendwann einmal stellt, nämlich was er anders machen würde, wäre er noch einmal einigermaßen jung, dabei aber beim sozusagen zweiten Versuch messbar undümmer und weniger unerfahren als seinerzeit. Was ihn betrifft, würde er die intellektuellen Irrungen seiner damaligen Unmeisterliche[n] Wanderjahre zwar weitgehend vermeiden, die nicht unwichtige Frage jedoch, was er einmal werden will, wenn er groß ist, wüsste er dann wohl noch immer nicht zu beantworten. Und wenn doch, dann bestimmt nicht ohne Vorbehalt. Nicht mit einem Punktum hinter seinem Entschluss, eher mit einem für ihn so typischen Na gut. Inzwischen kennt er sich zumindest so gut, sich keine Illusionen darüber zu machen, auch im quasi zweiten Anlauf weitgehend wieder genauso zu handeln. Der große Durchbruch würde ihm auch dann nicht gelingen. Ebenso gut oder schlecht wie dafür, wofür er sich letztlich entschieden hatte, hätte er sich auch anders entscheiden können. Oder heute, oder morgen, oder auch gar nicht? Liebeeh Frrroinnndeee, guten Abeeend! Als er ihr wenig später in all seiner Treuherzigkeit, zu der er fähig ist, dabei nicht einmal ansatzweise an etwas Böses denkend, gewissermaßen mit innerem Welpenblick schrieb, er habe sie gern, kam es zum ersten Eklat. Schließlich liebe sie ihn, schrieb sie zurück. Und er? Er hat sie nur gern? Seiner Erinnerung nach war dies das erste Mal, dass er bei ihr voll ins Fettnäpfchen trat und es war wohl ebenso ein Schuss in den Ofen wie die Bemerkung eines Mannes gegenüber einer Frau, sie habe eine interessante Nase, was er bisher nur bei schlanken Frauen beobachtet habe. Vielleicht ist es das Schlechteste nicht, insbesondere für die sich diesbezüglich häufig beklagenden Frauen, dass Männer in der Regel nicht allzu viel reden. Dass er bisher noch niemals einem Menschen gesagt hatte, er liebe ihn, mag zum einen damit zu tun haben, dass dieses Wort allzu häufig in populären Liedern vorkommt, zum anderen ist ihm die Fähigkeit, sich zu einem bestimmten Menschen in besonderem Maße