Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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stand. Später kamen noch Fotografien von Engelskulpturen hinzu, die sie in der Stadt aufgenommen hatte. Die Motive hatte sie zum größten Teil auf Friedhöfen entdeckt. Inspiriert dazu wurde sie durch eine Ausstellung, in der unter anderem Großaufnahmen solcher Engel zu sehen waren, nur – wie sie beide übereinstimmend fan­den – leider in Farbe statt schwarz-weiß, was die of­fensichtlich angestrebte erhabene Atmosphäre eher be­ein­trächtigte, den dargestellten Objekten seiner Meinung nach sogar eine leichte Tendenz ins Profane und Triviale gab. Ihre eigenen Aufnahmen waren dann auch schwarz-weiß, was ihnen beiden besser gefiel und den Motiven offensichtlich angemessener war. Der Fülle an Gegenständen, die sie im Laufe der Zeit angesammelt hatte und mit denen sie sich umgab, entsprachen ihre weitgestreuten Interessen und Aktivitäten, darunter auch eine, wovon er zuvor nie gehört hatte, nämlich Glasschmelzen, wofür sie an der Volkshochschule entsprechende Kurse besucht hatte. Sogar eine Fachzeitschrift hatte sie abonniert um sich daraus inspirieren zu lassen. In einem dafür vorgesehenen Schmelzofen legte sie Glasstücke zu Mustern zusammen und ließ sie so weit erhitzen, bis die Teile weich genug waren, sich miteinander zu verbinden, in entsprechende darunter liegende Hohlformen hineinsanken und so die gewünschte Form annah­men. Auf diese Weise stellte sie unter anderem Schmuck und kleine Gefäße her, auch das in größeren Mengen und in ihren Lieblingsfarben Türkis sowie verschiedenen Abstufungen von Grün und Blau. Die Kommode neben dem Bett war bereits vollständig belegt mit kleinen gläsernen Objekten, die sie im Laufe der Zeit angefertigt hatte. Dass der Schmelzofen im Schlafzimmer stand, hatte ihn anfangs zwar etwas beunruhigt, da ihm der Gedan­ke, eventuellen bösen Überraschungen schutzlos ausgeliefert zu sein, während er kaum zwei Meter entfernt von einer bis zu sechshundert Grad heißen Wärmequelle schlief, nicht geheuer war, allmählich aber gewöhnte er sich daran, indem er sich – wie Menschen es gemeinhin tun – damit beruhigte, dass, wenn bis jetzt nichts passiert ist, es wohl auch weiterhin gut gehen wird. Was den Schmelzofen betraf, wurde seine Hoffnung nie enttäuscht. Wenigstens der explodierte nicht. Ihr Geschick für handwerkliche Arbeiten stand jedoch in deutlichem Kontrast zu ihrem nicht sehr ausgeprägten Sinn für die praktische Handhabung der alltäglichen Dinge. So lag ihr aus irgendeinem Grund anscheinend nichts daran, einen Abfalleimer für die Küche anzuschaffen – vielleicht aber auch nur deshalb, weil es eigentlich keinen geeigneten Platz mehr dafür gab, denn alles, was an Einrichtungsgegenständen, an welchem Platz auch immer, eventuell noch hinzugekommen wäre, hätte in jedem Fall zuerst und vor allem im Weg gestanden. Der diesbezügliche Sättigungsgrad in ihrer Wohnung war seit langem, wahrscheinlich schon mit ihrem Einzug, erreicht. Statt eines Abfalleimers hingen als Ersatz ausrangierte Plastiktüten, wovon sich im Schränkchen unter der Spüle ein beständig anwachsender, schier unerschöpflicher Vorrat staute, an einem vorspringenden Abzweig eines Wasserrohres, der auf diese Weise als eine Art Haken umgenutzt wurde – allerdings mehr schlecht als recht, denn die Griffe, an denen die Tüten aufgehängt waren, glitten mit einer gewissen Regelmäßigkeit vom Abzweig ab, sodass sie auf das darunter stehende, mit Weinflaschen bestückte Drahtgestell fielen, wobei sich dann jedes Mal ein Teil des Abfalls auf dem Küchenboden verteilte. Abgesehen davon tropfte es nicht selten aus den Tüten heraus – meistens handelte es sich um Flüssigkeitsreste im allzu rasch und ungeduldig weggeschütteten, noch tropfnassen Kaffeesatz –, sodass der Steinfußboden unter dem Gestell mit der Zeit eine dunkle Färbung angenommen hatte, dem noch dadurch Vorschub geleistet wurde, dass sich die Motivation, zu jedem gegebenen Anlass die Ecke umständlich freizuräumen, um den Boden zu säubern, verständlicherweise im engen Rahmen hielt. Als er ihr irgendwann vorschlug, den – so lange er sich entsinnen konnte, ständig verstopften – Ausguss in Ordnung zu bringen, musste er, um an die Problemzone zu gelangen, erst einmal den Platz davor und darunter von dem Wust an Plastiktüten befreien, mit dem der Spülschrank bis unter das Spülbecken zugemüllt war. Nach der eigentlichen Arbeit hatte er auch gleich noch die Tüten zusammengefaltet und damit immerhin an einer – wenn auch letztendlich unerheblichen – Stelle ein Stück zumindest äußere Ordnung und Übersichtlichkeit hergestellt, wofür sie sich sogar ausdrücklich bedankt hatte. Eigentlich aber hatte er das vor allem für sich getan. Im Grunde nämlich wünscht er sich kaum etwas so sehr wie Ordnung, Übersicht und Berechenbarkeit. Allein das Nebeneinander, oder besser: Gegeneinander, dutzender Krankenkassen und Stromanbieter wirkt auf ihn irritierend, nicht minder die beinahe hysterische Konkurrenz der geradezu inflationär aus dem Boden schießenden Telefontarifanbieter, last, but not least der schier unüberschaubare Wust an Kundenkarten, die einem seit einiger Zeit bei jeder Gelegenheit aufgedrängt werden und die er in den entsprechenden Situationen natürlich nie dabei hat. Haben Sie eine Kundenkarte? Ja, zu Hause. Manchmal stellt er sich ein Land mit einer durch und durch nördlichen, herbstlichen Atmosphäre vor, in dem Anstand und Redlichkeit ganz oben auf der Agen­da stehen, in dem alles wohlgeordnet und überschaubar ist. Alles Ungeordnete, Unsystematische, Unstrukturierte, Improvisierte, Vorläufige, alles Verquatschte, Verquirlte, Verkramte, alles Raffinierte, Indirekte, Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Artige ist ihm zutiefst wesensfremd, ist seine Sache nicht und wird es niemals sein. Er ist nicht geschaffen für Karneval in Rio, Köln, Venedig oder wo auch immer. Ihre Gewohnheit, an jedem sich anbietende Platz irgend­ein Tandwerk anzuhäufen, machte auch vor ihrem neuen Auto nicht halt. In kurzer Zeit schon waren Kofferraum, Handschuhfach, Ablageflächen und Sitze wieder in gewohnter Weise von allen möglichen Sachen in Beschlag genommen. Sie war Kaffeetrinkerin, im Gegensatz zu ihm. Er hatte sich jedoch vorgenommen, sich auf ihre »Trinkgewohnheiten« einzulassen, begann sogar, mit ihrem Espressokocher zu hantieren, was anfangs auch einigermaßen erfolgreich, ohne größere Zwischenfälle verlief – bis er eines Morgens, als er das Gerät wie immer nach dem Einfüllen des Kaffees auf die Gasflamme stellte, irrtümlicherweise der Meinung war, bereits Wasser hineingefüllt zu haben. Als schließlich auch geraume Zeit nachdem er die Flamme größer gestellt hatte, das nichtvorhandene Wasser keine Anstalten machte zu kochen, das vertraute Brodelgeräusch immer länger auf sich warten ließ, entgegen den bisherigen Gepflogenheiten partout kein Wasserdampf der Öffnung entweichen wollte und er sich endlich, viel zu spät, dazu entschloss, nach der Ursache zu forschen, war der Rubikon bereits überschritten. Das Ergebnis seiner Fehlleistung waren geschmorte Dichtungsringe und die verkrustete Innenfläche des unteren Teils, der allem Anschein nach zudem noch leicht in sich zusammengesunken war. Da es sich – wie sie wiederholt betont hatte – nicht um irgendeinen gewöhnlichen Espressokocher handelte, sondern um einen von ihr aus dem Italienurlaub mitgebrachten, schien ihm der Schaden nicht ohne weiteres reparabel. So gingen etliche Wochen ins Land, bis er die Eingebung hatte, dass es eventuell auch Dichtungsringe gesondert zu kaufen gibt und ein neuer Kocher nicht mühsam über die Alpen herbeigeschafft werden muss. Bis dahin jedoch bereitete sie sich ihren Kaffee geduldig und ohne ein Wort der Klage auf konventionelle Art. Dass sie ihm sein Missgeschick nicht verübelte, rechnete er ihr hoch an. Was sie ihm stattdessen übel nahm, war unter anderem eine beim ersten Anlauf zu Unzärtliche, zugegebenermaßen von seiner Seite etwas zu flüchtig und nachlässig vorgenommene Verabschiedung, nachdem sie ihn eines Morgens wieder auf dem Weg zu ihrer Praxis mit dem Auto zu seiner Wohnung gefahren hatte. »Kriege ich keinen Kuss?« war ihre geradezu konsternierte Reaktion, woraufhin er sich beeilte, ihrem Wunsch nachzukommen und diesmal darauf achtete, sich keine Ungeduld anmerken zu lassen. Natürlich war ihre Reaktion nur allzu berechtigt. Vor seinem inneren Auge erschien in dem Moment eine aus irgendeinem Film memorierte stereotype Verabschiedungsszene nach dem morgendlichen Frühstück, worin der durch den Alltag hetzende aufstrebende Ehemann, den letzten Bissen soeben hastig hinuntergeschlungen, sich noch während des Kauens vom Tisch erhebt, in einer Hand die notdürftig wieder zusammengefaltete Zeitung, mit der anderen die Kaffee­tasse zum Mund führend und, nachdem er noch schnell einen Schluck daraus genommen hat (dabei den Oberkör­per vorgebeugt, den Kopf im Nacken und das Kinn vor­ge­schoben, um das blütenweiße neue Hemd nicht noch im letzten Moment zu bekleckern – allein die senkrecht herunterhängende Krawatte befindet sich noch in der Gefahrenzone), seiner sich längst mit dem Faktischen, der Omnipräsenz des Prosaischen abfindenden Gattin einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückt, eilig irgendeinen seit langem vorhersehbaren, standardisierten, knapp gehaltenen Satz gedankenlos daherredet, irgendetwas mit Liebling / Schatzi / Mäuschen und Bis heute Abend / Ich komme heute etwas später / Es kann etwas später werden, um – sich auf dem Weg zur Haustür im Vorübergehen hastig den Mantel überstreifend – hinaus ins feindliche Leben zu entschwinden und dem anstehenden Tagwerk energischen