Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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Raumes stand ein Flügel, auf dem hin und wieder gejazzt wurde, in einer anderen wurde zu festgesetzten Zeiten ein Büffet aufgebaut.

      Er hatte ihr vorgeschlagen, zusammen hierhin zu gehen, obwohl er damit rechnen musste, dass eventuell kein Platz frei sein wird, was nicht selten vorkam.

       Sie hatten sich für den frühen Nachmittag in der Nähe des Cafés verabredet. Er war bereits ein paar Minuten vorher dort und hatte nicht lange auf sie warten müssen. Seine leichte Unsicherheit war bald verschwunden, nachdem sie sich begrüßt hatten.

       Nach kurzem Überlegen setzten sie sich in der Mitte des Raumes an den letzten freien Tisch. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht unentwegt anzusehen, da er befürchtete, sie da­mit nur zu verunsichern. Sie machte jedoch einen recht souveränen Eindruck.

       Er ist sich ziemlich sicher, dass er sich häufiger Menschen anschaut als allgemein üblich, in jedem Fall weniger von anderen beobachtet wird als er das seinerseits tut – ein asymmetrischer Krieg, wenn man so will.

       Was ihm sogleich an ihr auffiel war ihr sensibler Mund, der zumeist ein wenig offen stand, wobei die Lippen leicht zitterten, selbst wenn sie nur einfach dasaß und keinerlei Anstalten machte, das Wort zu ergreifen. Er konnte sich nicht erinnern, das schon einmal bei jemand anderem beobachtet zu haben.

       Zu seiner Erleichterung entwickelte sich sehr schnell ein Gespräch, vielleicht auch deshalb, weil er sich erst gar nicht vorgenommen hatte, ihr das Intelligenteste und Beeindruckendste zu sagen, was je einem Menschen in den Sinn gekommen ist.

       Die Unterhaltung verlief im Großen und Ganzen wie häufig zwischen Männern und Frauen: Er sprach weniger und überwiegend über unpersönliche Themen, sie, die mehr zu berichten wusste, vor allem von sich.

       In irgendeinem Zusammenhang stellte sie fest, er sei eine Mischung aus Heinz Rühmann und Anthony Perkins, womit er jedoch nicht sehr viel anfangen konnte. Zwar gehört er einer Generation an, der der Name des Ersteren noch ohne weiteres geläufig ist, der zweite Name sagte ihm jedoch nichts. Er ging aber davon aus, dass es sich ebenfalls um einen Schauspieler handelt, vermut­lich um einen amerikanischen. Normalerweise kann er sich Namen von Schauspielern ebenso wenig merken wie die von Blumen oder irgendwelchen Farben, die nicht zu den Spektralfarben gehören oder in seinem Tuschkasten waren, den er als Kind besaß. Er weiß einfach nicht, welche Farben sich hinter bestimmten Wörtern verbergen – genauer: er will es auch gar nicht wissen. Das Wort Mauve etwa findet er dermaßen blöd, dass er sich von vornherein verbietet, auch noch dessen Bedeutung zu kennen. Seiner Meinung nach sollte es vollauf genügen, wenn solche Be­griffe irgendwelchen überschminkten und unterbeschäftigten Frauen geläufig sind, deren Lebensinhalt überwiegend darin besteht, sich in überteuerten Schickimickiboutiquen weit über das vernünftige Maß mit irgendwelchem kurzlebigen, effektheischenden Fummel einzudecken. Was den erahnten amerikanischen Schauspieler betrifft, stellte sich bei späteren Recherchen im Internet heraus, dass es sich um den Hauptdarsteller des Thriller-Klassikers Psycho – zumindest den Film hatte er gesehen – handelt, dem der zweifelhafte Ruf anhaftet, der bekannteste gemütsgestörte Schauspieler zu sein, [] der schüchterne, große Junge, der zu glaubhaft und zu furchteinflößend [...] den Part des neurotischen, verklemmten Muttersöhnchens mimte. Den Titel dieses Films hatte er zum ersten Mal gehört, als Stunkie, ein ehemaliger Kommilitone, – stets ein fröhlich-iro­nisch wieherndes Meine liiieeeben Freunde! zur Begrüßung auf den Lippen – sich einst darüber beklagt hatte, dass sich seine intellektuell quasi nicht satisfaktionswürdigen Mitschüler im Internat – sie hatten sich einmal in der Woche einen von ihnen ausgewählten Film ansehen dürfen – zu seinem Leidwesen trotz aller mit Herzblut und Verve vorgetragener Überzeugungsarbeit ausnahmslos für einen anderen entschieden hatten. Überflüssig, zu betonen, dass Stunkie auch die ehemaligen Mitschüler gut und gern zwanzig IQ unter seinem Niveau eingestuft haben dürfte. Wer es verschmäht, sich dem schnöden Mainstream anzudienen, wird immer irgendeinen Preis dafür zu zahlen haben.

      Als sie seine vermeintliche Ähnlichkeit mit dem besagten Schauspieler erwähnte, konnte sie seine Mutter natürlich noch nicht kennen, über die er bis dahin auch kaum mehr als eine beiläufige Bemerkung gemacht ha­ben dürfte.

       Das Frappierende an der Sache ist, dass sie ihre Charakterisierung seiner Person einige Monate später sogar mit einer aus ihrer Sicht überzeugenden Be­grün­dung hätte vortragen können.

       So weit aber war es damals noch nicht.

       Die Assoziation, wenn auch nicht direkt mit An­tho­ny Perkins, so doch allgemein mit in irgendeiner Weise Abgründigem, Abartigem, Zwielichtigem, Heimlichtuerischem, hatte Jahrzehnte zuvor schon Stunkie ihm gegenüber gehabt, was unter anderem darauf gründete, dass er regelmäßig gegen Abend allein im nahegelegenen Park spazieren ging, die meiste Zeit – damals selbst unter Studenten noch unüblich – unrasiert war und eine Zeitlang in einem blutroten und – da von ihm aus Unwissenheit zu heiß gewaschenen – hautengen Frotteepullover rumlief, seinem, wie Stunkie es nannte, Kinderschänder- beziehungsweise Mörder-Haarmann-Pullover, in Anspielung auf jenen homosexuellen Serienmörder, den Vampir / Werwolf von Hannover, der in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mehr als zwanzig Jungen und junge Männer durch Bisse in den Hals tötete und anschließend zerstückelte. Jedenfalls machte sich Stunkie eine Zeitlang einen Spaß daraus, ihn mit der großteils – aber eben nur großteils! – gespielten Vermutung zu konfrontieren, er suche den Park nur deshalb auf, um auf den dortigen Spielplätzen kleinen Jungen nachzustellen. Warum in dem Zusammenhang nie von kleinen Mädchen die Rede war, entzieht sich seiner Kenntnis, vermutlich aber, weil Stunkie das als weniger abartig betrachtete, da es sich dann zumindest noch um Menschen des anderen Geschlechts gehandelt hätte. Er selbst fand das Ganze eher lustig und spielte das Spiel bereitwillig mit. Rainer, der ein Jahr nach ihm einzog, übernahm die Stunkiesche Kinderschändertheorie und wurde quasi der dritte Mann im Spiel. Als sie in irgendeinem Zusammenhang von einem unschönen Erlebnis in ihrer Kindheit erzählte – er hatte damit gerechnet, dass sie sehr schnell auf ihre Kindheit zu sprechen kommt, hatte vom ersten Moment an diesen Eindruck von ihr gehabt –, begann sie zu weinen. Nach kurzem Zögern ergriff er ihre Hand. Zu seinem Erstaunen bedankte sie sich für diese Geste. Nach einer Stunde etwa bekam er das Gefühl, dass sie ihm bereits alles Wesentliche von sich berichtet hatte. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen ihm gegenüber fand er zwar sympathisch, er selbst war jedoch anders gestrickt, hatte nicht das Bedürfnis, gleichermaßen detailliert von sich zu berichten. Kurz bevor sie gingen, stand ein noch relativ junger Mann zufällig in ihrer Nähe. Er musste etwa Mitte dreißig sein und trug eine bunte gestrickte Hose, wie man sie manchmal bei Leuten sieht, die sich eher der alternativen, esoterischen Szene zuordnen, die hier also durchaus am richtigen Ort waren. Sie schaute einen Moment in dessen Richtung, dann wendete sie sich wieder ihm zu und meinte in abschätzigem Ton, sie finde solche Hosen weibisch. Er war ein wenig befremdet über ihre Bemerkung, nicht nur wegen der Wahl ihrer Worte, auch über die Vehemenz, mit der sie ihre Ansicht zum Ausdruck brachte. Er selbst empfand ihre Reaktion – zumal gegenüber jemandem, dem sie nichts Konkretes vorzuwerfen hatte – als unangemessen und versuchte vergeblich, das in Einklang zu bringen mit ihrer sensiblen Seite, die er inzwischen auch kennengelernt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er Zeuge solch extremer Divergenzen zwischen großer Sensibilität in Bezug auf die eigene Person und der Tendenz zu ausgesprochen negativen Urteilen über andere wurde, was ihm stets unvereinbar schien. Entweder ist man sensibel oder nicht. Entweder neigt man dazu, mehr als gemeinhin üblich über eigene Erlebnisse zu trauern und hat dann konsequenterweise Skrupel, sich in verletzen­der Weise über andere zu äußern, oder man ist grundsätzlich von grobschlächtigerer Art, schreckt also vor solchen Bemerkungen nicht zurück, ist dann aber auch weit davon entfernt, über eigene problematische Erfahrungen in Tränen auszubrechen, zumal wenn sie etliche Jahrzehnte zurückliegen. Nach einigem Überlegen entschieden sie sich, zum Wochenmarkt zu gehen, der auf einem recht weitläufigen Platz nur wenige hundert Meter entfernt stattfand, nicht weit von der Wohnung, in der er vorübergehend Unterkunft gefunden hatte, nachdem seine Frau ihn zum ersten Mal ersucht hatte, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Damals aber hatte die Trennung nur einige Wo­chen gedauert. Schließlich hatte sie ihn gebeten, zu ihr zurückzukommen. Als sie zum Markt kamen, wurde bereits mit dem Abbauen der Stände begonnen. Nachdem sie dort noch schnell eine Runde gedreht hatten,