Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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könne auch dort wohnen, schließlich auch ihre Mutter nach dem Tod des Vaters. Vielleicht könnte man ein paar junge Leute für das Projekt gewinnen, ihren Sohn, seine ältere Tochter, die Tochter einer Freundin zusammen mit ihrem Freund. Zudem könne sich ihr Bruder, der wegen seiner günstigen Miete und der Kinderlosigkeit immer das Problem habe, sein Geld unterbringen zu müssen, beim Kauf des entsprechenden Hauses beteiligen; auch die Freundin, die einiges Geld habe, wenn deren Mutter demnächst sterbe. Auch eine große Einweihungsfete mit einem leckeren Buffet habe sie sich schon ausgemalt. Es war die Art von Vorschlägen zu denen ihm stets nur die Verlegenheitsantwort einfällt, es handele sich zugegebenermaßen um einen interessanten Gedanken. Zwar hatte auch er schon von der zweifelsohne gut gemeinten Empfehlung Think big! gehört und im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, nichtsdestoweniger hielt er ihre Ideen nicht nur für ziemlich unrealistisch, vor allem aber das Einkalkulieren des nicht mehr allzu fernen Ablebens zweier Menschen, darunter auch das des leiblichen Vaters, sowie der Ersparnisse ihres Bruders waren ihm zu starker Tobak. Wo blieb da ihre sensible Seite? Beim Lesen ihrer Zeilen fiel ihm wieder ein, dass sie ihm gesagt hatte, sie werde wahrscheinlich länger leben als er. Obwohl einige Fakten, unter anderem die längere Lebenserwartung von Frauen, durchaus für ihre Vermutung sprechen und ihm der Gedanke, sie könne ihn überleben, keineswegs schlaflose Nächte bereitete, war ihm die Unverblümtheit ihrer Feststellung nicht recht geheuer. Es war nicht so, dass er in der Hinsicht etwas verdrängen wollte, nicht einmal seinen unvermeidbaren Tod, dennoch schien ihm ihre damalige Äußerung ebenso unangebracht als wenn sie ihm etwa auf den Kopf zu sagen würde, er sei vielleicht schon in einem unheilbaren Stadium krebskrank und bereits in wenigen Wochen daran gestorben, eine Bemerkung, an der es zugegebenermaßen ebenfalls sachlich nichts zu beanstanden gäbe. Die erste Begegnung zwischen ihr und seiner Mutter fand anlässlich deren Besuchs bei ihm statt. Seitdem er aus der Wohnung seiner Frau ausgezogen war, besuchte seine Mutter ihn alle paar Monate über das Wochenende. Ihr Beisammensein zu dritt in seinem schlauchartigen Wohnzimmer nahm den Verlauf, den seiner Meinung nach jedes Treffen in solcher Konstellation nehmen sollte, um zu vermeiden, dass jemand Schaden an Geist und Seele nimmt: Er, der einzige Mann also unter den Frauen, zog sich nach einer Weile dezent zurück, um zum einen das Abarbeiten der vor allem um persönliche Belange kreisenden Gesprächsthemen nicht zu stören, zum anderen um sich selbst vor wiederholtem Anhören eben dieser Themen zu schützen, denn ihm war natürlich all das, was die beiden sich aller Voraussicht nach zu erzählen haben würden, seit langem hinlänglich vertraut. Nach dem ersten Kennenlernen hatte man noch nichts gegeneinander einzuwenden. Auch hier gibt es offenbar eine Art Inkubationszeit. Gut Ding braucht Weile und Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut, wie seine Mutter ihm gegenüber des Öfteren betont hatte, wenn es darum ging, Geduld als Tugend hinzustellen oder ein allzu langsames Vorankommen in irgendeiner Sache zu rechtfertigen. Einige Tage später informierte sie ihn, ihr Sohn habe seinen Besuch bei ihr angekündigt. Sie wolle deshalb von ihm wissen, ob er mit der vereinbarten Zeit einverstanden sei. Er fand die Frage jedoch ziemlich unangebracht. Für ihn war es selbstverständlich, dass sie – wie er es ihr gegenüber in bewusst altbackenem Duktus formulierte – ihr eigen Fleisch und Blut so oft bei sich haben kann, wie sie möchte und fügte noch hinzu, dass es das Natürlichste von der Welt sei, dass ihr Sohn stets der wichtigste Mensch für sie sei. Sie begriff das jedoch eher als Affront, als Relativierung des Wertes und der Verbindlichkeit ihrer Be­ziehung, was er im Grunde bereits befürchtet hatte. Dennoch – oder gerade deshalb – konnte er der Versuchung zu der Bemerkung nicht widerstehen. So ist er halt. Eines Abends entschied er sich, eine Weste überzuziehen, die er seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Als sie ihn beim Betreten seiner Wohnung darin erblickte, zuckte sie leicht zusammen, schnappte nach Luft, hielt kurz den Atem an und riss die Arme in Schulterhöhe nach oben, dabei die Finger wie in einer abwehrenden Geste spreizend. Jedes Mal wenn sie erschrickt, macht sie diese reflexartige Bewegung, wie jemand, der bei einem Überfall mit vorgehaltener Waffe aufgefordert wird, die Hände hochzunehmen. Anschließend bemerkte sie, er komme ihr darin vor wie ein alter Mann, woraufhin er die Weste wieder auszog und in den Schrank zurücklegte. Er ließ die Sache auf sich beruhen, da er weder Lust hatte noch einen Sinn darin sah, lang und breit darüber zu diskutieren. Was ihn an dem Vorfall desillusionierte, auf den Boden der Tatsachen zurückholte, war ihre seiner Mei­nung nach unverhältnismäßige Reaktion, was er allerdings nicht persönlich nahm. Es störte ihn nicht so sehr, alt zu erscheinen. Seine Empfindungen wären dieselben gewesen, hätte sie die Bemerkung über jemand anderen gemacht. Seine Ent-Täuschung war sogar weniger stark als bei ihrer Charakterisierung des Tragens einer Strickhose als weibisch, weil diesmal zumindest keine Verachtung mit im Spiel war. Dass man niemanden grundlegend ändern kann, ist eine Binsenweisheit. Entweder findet er sich mit ihren Eigenheiten und Idiosynkrasien ab oder beendet die Beziehung. Nach dem Abendessen unterhielten sie sich, schon ein wenig müde, über irgendwelche belanglosen Dinge. Im Radio war der von ihm bevorzugte Sender eingestellt, in dem überwiegend klassische Musik zu hören ist. Häufig moderierte ein Sprecher, dessen offenkundige Begeisterung für sein Metier sich unter anderem auch in dessen emphatischer Artikulation manifestierte. Ihm selbst gefiel diese Art. Er fand sie recht sympathisch und amüsant. Nach einer Weile begann sie, den Sprecher mit angewiderter Mimik nachzuäffen. Auf seine diesbezügliche Frage entgegnete sie, sie finde den Moderator affektiert. Er hingegen fand ihre Reaktion übertrieben und konnte sich solch ein Verhalten eigentlich von nie­mandem sonst vorstellen, in jedem Fall nicht in der Schärfe und Unversöhnlichkeit, mit der sie ihre Aversion zum Ausdruck brachte. Es gab da in ihr ein Potenzial an Hass- und Verachtung, was jederzeit völlig unerwartet ausbrechen konnte. Er fragte sich, was bei ihr noch alles im Inneren kochte und brodelte. Welche Spannungen, welcher Druck baute sich dort immer wieder von neuem auf, der sich unversehens von einer Sekunde auf die andere entlud? Es war ihm unverständlich, wie jemand einerseits zu solch schroffer, schon beinahe hasserfüllter Reaktion fähig ist, andererseits wiederum ein enormes Bedürfnis nach Zuwendung hat und an bestimmten Dingen offensichtlich extrem leidet. Seiner Meinung nach ist man entweder nicht besonders gefühlvoll, hat dann eben auch keine Hemmungen, solch ein Verhalten an den Tag zu legen, investiert in seine Beziehungen entsprechend wenig Gefühle, nimmt zum Beispiel eher eine Position ein wie etwa die, der andere solle nicht so klammern, nicht so empfindlich sein, oder aber man ist grundsätzlich zarter besaitet, tendiert mehr zur Wertherschen Mentalität, ist dann aber auch entsprechend liebevoll gegenüber anderen und hat konsequenterweise auch kein Bedürfnis, auf Menschen, mit denen man zudem keine negativen Erfahrungen gemacht hat, mit einem solchen Ausmaß an Ablehnung zu reagieren. Diese Nicht-Fisch-und-nicht-Fleisch-Mentalität war ihm unverständlich. Zu kompliziert, zu undurchsichtig, das Ganze. Für ihn stellten solche Ausbrüche an Feindseligkeit automatisch alles infrage, was er an ihr liebens­wert und sympathisch fand. Jedenfalls wäre sie nicht der erste Mensch, dessen Überspanntheit seiner Fähigkeit zu positiven Gefühlen eine unverrückbare Obergrenze gesetzt hat. Mag sein, dass er da zu empfindlich reagiert. Zu ihren Leidenschaften gehören auch die von ihr regelmäßig im Abstand einiger Wochen organisierten Spieleabende, an denen außer ihm noch ihr Sohn (Psychologiestudent), dessen Freund (Sohn der Babuschka, sich in sozialpädagogischer Richtung orientierend, kein Psychologiestudent also, aber in der Runde dennoch wohlgelitten und akzeptiert) und Hanna, die Tochter der Psychologen-Freundin aus ihrem vorherigen Wohnort (ebenfalls Psychologiestudentin), mit ihrem Freund teilnahmen. Eines der bei ihnen beliebtesten Spiele war übrigens – wie könnte es anders sein? – Therapy. Zu dem, was ihm von dem Spiel noch im Gedächtnis ist, gehört die Erklärung auf eine entsprechende Frage, Krieg sei kein Ventil für Gewalt, sondern stimuliere sie. So hat er also, auch wenn er schon wegen des professionellen Wissensvorsprungs seiner Gegnerschaft in diesem quasi asymmetrischen Krieg kein einziges Mal gewinnen konnte, zumindest einen Erkenntnisgewinn daraus gezogen. Es würde ihn allerdings interessieren, ob mit der Information über gewalttätiges Verhalten das vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren häufig vor­getra­gene – vulgärpsychologische? – Argument ad absurdum geführt ist, demzufolge sich Aggressionen gemäß dem Hydraulik-Modell quasi von selbst aufbauen und somit nur durch regelmäßiges Dampfablassen emotionaler Druck abgebaut, sozusagen das Schlimmste, die Explosion der Kessels, die psychische Kernschmelze verhindert werden kann. Denn dass insbesondere unsere lieben Kleinen sich doch – wie seinerzeit gern ins Feld geführt wur­de – irgendwie abreagieren, ihren Aggressionen freien Lauf lassen müssen, war in jedem sich auf der Höhe der Zeit befindenden, den antiautoritären Prinzipien