Gunther Dederichs

Die Therapeutin und er


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nicht allein auf der sprichwörtlichen einsamen Insel leben, es außer ihr noch andere Menschen gibt, die er hin und wieder zu berücksichtigen hat – in dem Fall eben jemanden, der nun einmal seine Mutter ist –, versuchte das aber erst gar nicht, da er sich sicher war, dass seine Argumentation zu nichts geführt, sie das nur als weiteren Affront begriffen hätte. Er spürte nur wieder, dass bei ihr so viel Verletztes, nie wirklich Ausgeheiltes an die Oberfläche gelangt war – dieses Wundgeriebene, Atemlose, Verhechelte, über das Ziel Hinausschießende, Übertriebene, Maßstablose in ihrem gesamten Verhalten, nicht nur in Bezug auf das, was sie einklagte, auch in der Weise wie sie das tat. Leider war die andere Seite der Barrikade auch nicht ohne, war es nie gewesen. »Die hat bei mir ausgeschissen!« lautete der wütende Kommentar seiner Mutter am Ende des Telefondramas, eine Reaktion, wie er sie nach gut einem halben Jahrhundert unmittelbarer Erfahrung mit ihr auch nicht anders erwartet hatte als in der von ihr zu befürchtenden Vehemenz und Radikalität, andererseits war es das erste Mal, dass sie sich – zumindest in seiner Gegenwart – der Fäkalsprache bediente, eines Wortes, das seines Wissens bis dahin noch nicht über ihre Lippen gekommen war. Für ihn gehörten die beiden zum selben Typus; sie schenkten sich nichts, was an Hysterie grenzende Überreaktionen betraf. Sie sei eine große Hasserin gewesen, hatte eine der Schwestern in einem Interview sinngemäß über Erika Mann gesagt. Spätestens seit jenem Telefonkrieg war ihm klar, wo er sich wieder befand – ein weiteres Mal zwischen zwei unversöhnlichen Menschen, zwischen den Fronten, in vermintem Gelände, das ihm bereits seit den Anfängen seiner Ehe hinreichend vertraut war. Auch darüber, wie sich die Beziehung mit ihr entwickeln wird, konnte von nun an kein Zweifel mehr bestehen. Warum aber reagierte er nicht konsequent und bereitete dem Ganzen ein Ende? Man stelle ihm eine leichtere Frage, am besten etwas rein Mathematisches, irgendetwas über Funktionen vielleicht, sofern es im halbwegs elementaren Rahmen bleibt. Sollte vielleicht am Ende doch ein Sinn darin bestehen, dass Biographien nicht selten aus einer Abfolge immer wieder derselben Konstellationen, desselben Grundmusters bestehen? Es hätte etwas Tröstliches. Einmal nur, in einer seiner eher seltenen Sternstunden, hatte er eine drohende, rechtzeitig vorausgesehene Wiederholung, oder richtiger: eine Verdopplung, bewusst vermieden. Es ging dabei ebenfalls um eine Frau. Er hatte Gudrun im Urlaub kennengelernt, als er zwanzig war, und das – o Wunder! – sogar durch eigene Initiative. Sie wohnte zufällig in der Stadt, in der auch sein Vater aufgewachsen war. Nach einigen Briefen brach sie diese Art Fernfreundschaft abrupt ab, um ihm ein oder zwei Jahre später erneut zu schreiben und die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, worauf er sich, sich in der Rolle des Verständnisvollen, Gutmütigen, großherzig Verzeihenden durchaus gefallend, dann auch bereitwillig eingelassen hatte. Später verlobte sie sich mit jemandem, der kurz darauf bei einem Autounfall ums Leben kam. Irgendwann besuchte sie ein älteres Ehepaar, Urlaubsbekanntschaften, aus derselben Stadt, in die er einige Jahre zuvor gezogen war, und wollte – wie sie sagte – bei der Gelegenheit auch ihn wiedersehen, wobei er – hin und wieder überkommt sogar ihn ein Anflug von Eingebung – vermutete, dass sie hauptsächlich wegen ihm gekommen und an ihm interessiert war. Ein Grund, sich nicht näher auf sie einzulassen, war auch, dass er nicht noch einmal das Thema Frau in nicht endender Trauer um den beim Autounfall ums Leben gekommenen Partner sieht in ihm ihren einzigen Trost in ihrem Unglück durchleben wollte. Er war damit bereits von Kindesbeinen an konfrontiert, fühlt sich diesbezüglich auch ein bisschen ausgepowert, irgendwie erschöpft und wollte zumindest diese Art Problematik – mit fünfundzwanzigjähriger Zeitverschiebung bei voraussichtlich etwa dreißigjähriger Überlappung – nicht auch noch als quasi doppelte Dröhnung rauf- und runterkonjugieren, als Doppelpack an der Backe haben. Ersteres war zweifellos Schicksal, die zweite Variante aber wäre das selbstverschuldete Ergebnis grober Fahrlässigkeit. Manchmal stellt er sich vor, sein Vater taucht, entgegen allen Naturgesetzen, unversehens wieder auf. Ohne dessen enthusiastische, erwartungsfrohe Begrüßung auch nur im Ansatz zu erwidern, weist er mit einer beiläufigen Handbewegung gelangweilt in Richtung seiner Mutter, mit den Worten: »Schau dir an, was du da verzapft hast! Sieh zu, wie du das, was du mit deinem vorzeitigen Abgang angerichtet hast, wieder gerade biegst, wie du den Karren aus dem Dreck ziehst, und das bitte im Alleingang. Das da ist deine Baustelle! Mach dir mal ein paar schlaue Gedanken, wie du die Sache, die du seinerzeit in die Wege geleitet hast, wenn schon nicht glorreich, so doch wenigstens ordnungsgemäß zu Ende bringst, so wie es sich gehört, und lass mich in Zukunft bei dem ganzen Schlamassel aus dem Spiel! Ich habe keinen Bock, weiterhin anderer Leute Bock­mist auszubaden, deren liegengebliebene Arbeit zu erledigen. (Stichwort: generationenübergreifende pseudoeheliche Lebensgemeinschaft – der er allerdings entkommen konnte) Heute ist fliegender Wechsel, Herr Deserteur! Ab jetzt bist du wieder an der Reihe, in der vordersten, um es genau zu sagen! Sozusagen direkt an der Frontlinie. Mögen die verbalen Schrapnelle wieder dir um die Ohren fliegen. Wer A sagt, muss auch B sagen! Falls du auch nur annähernd die erhabene Lichtgestalt sein solltest, als die du mir bei jeder Gelegenheit hingestellt wurdest, so eine Art Mischung zwischen Albert Schweitzer und der aktualisierten Version des Ritters ohne Furcht und Tadel, müssten Eure Heiligkeit die Chose doch eigentlich mit links schultern, mit der halben Arschbacke reißen. Also: Bist du Gottes Sohn, dann hilf ihr selbst! Was – verglichen mit deiner vermeintlichen Übermenschlichkeit und Vollkommenheit – meine Wenigkeit, Winzigkeit, hochnotpeinliche Unzulänglichkeit betrifft, so stehe ich in Zukunft nur noch dafür grade, was ich in eigener Regie versaubeutelt habe, für nicht mehr, aber eben auch für nicht weniger als das.« Was ihn darüber hinaus davon abhielt, sich auf Gudrun einzulassen, waren ihre ständigen Unwahrheiten. Der Gipfel von alldem war, dass sie, nachdem sie zuvor ausgiebig über ihr Schicksal geklagt hatte, einer Frau, die um eine Spende für das Müttergenesungswerk bat, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern kurz und knapp erwiderte, sie sei selbst Mutter, was ihm deutlich über die Hutschnur ging. Spätestens ab dem Moment konnte er ihr gegenüber keine positiven Gefühle mehr empfinden. Für ihn war die rote Linie überschritten. Er dachte daran, wie häufig und ausgiebig sie auch in ihren Briefen über ihre Probleme geschrieben hatte und fragte sich, ob das Ausmaß des Mitgefühls gegenüber sich selbst und gegenüber anderen vielleicht im umgekehrten Verhältnis zueinander steht. Es war das erste – wenn auch nicht das letzte – Mal, dass er jemandem begegnete, für den die Lüge praktisch zur kommunikativen Alltagskultur gehört, der man sich jederzeit bereits aus purer Bequemlichkeit fast schon gewohnheitsmäßig bedient. Nach einigen Monaten rief sie ihn an und erzählte ihm weinend, ihre Mutter sei wenige Stunden zuvor gestorben. Ihm fiel dazu nichts weiter ein als ihr sein Beileid auszusprechen. Er war unfähig, irgendetwas zu empfinden. Es war ihm unmöglich, an ihrer Trauer Anteil zu nehmen. Das Gespräch hatte kaum zwei Minuten gedauert. Anschließend setzte er seine Arbeit wie gewohnt fort. Allein ihre Entschuldigung, ihn angerufen zu haben, bewirkte bei ihm eine gewisse Betretenheit. Sein Beziehungsansatz zu Gudrun war einer der ersten unter einem Halbdutzend im Laufe eines knappen Jahrzehnts angefallener Totgeburten, worin sich seine »Erfahrungen« mit Frauen im Großen und Ganzen erschöpften. Entweder frau war an ihm interessiert, schaffte es jedoch aus verschiedenen Gründen nicht bis zur Ziellinie, oder er griff wieder einmal daneben – manch­mal nur knapp, häufiger jedoch meilenweit –, fischte im Trüben oder suchte in der falschen Schublade. Er beneidete damals die Kommilitonen in seiner Wohnge­meinschaft, nicht weil er sich für eine ihrer Freundinnen interessierte, sondern weil sie ihren Stil gefunden, in der realen, diesseitigen Welt offenbar in für sie zufriedenstellender Weise Fuß gefasst hatten, besser in der Lage waren einen vernünftigen Gebrauch von der Welt zu machen, als er. Er hatte, wenn er nicht gerade von anderen zum geselligen Beisammensein oder gemeinsamen Aktivitäten animiert wurde, nach seinem obligaten Spaziergang im nahegelegenen Park die Abende meist damit verbracht, in seinem zwischen einem schmalen Kleiderschrank und einem kleinen Tischchen eingeklemmten Sessel zu lesen und Songs von Bob Dylan, Leonard Cohen, Joan Baez, Melanie oder Simon and Garfunkel zu hören – warum nicht auch Janis Joplin darunter war, ist ihm heute ein Rätsel –, eben Musik mit einer Tendenz zum Tragischen, Melancholischen, sich dabei nicht selten einer diffusen Sehnsucht nach einer nur mit sehr vagen Vorstellungen verbundenen weniger düsteren Befindlichkeit hingebend, etwas irgendwie Leichtfüßigerem, Hellerem, Essenziellerem, Außergewöhnlichem, nicht zuletzt auch deshalb, weil er nicht so recht wusste, was er, ein wohl für viele als Langeweiler empfundener, der sich andererseits selbst schnell langweilt, mit seinem sozialen Umfeld groß hätte anfangen können. Er war so ein Typ. Zumindest war er das. Eigentlich