Mara Dissen

Du bist böse


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Selbstherrliche ausgeht, wie es meinem Mann zu eigen ist. Frank lässt sich also Zeit.

      „Ich muss einen neuen Infusionsbeutel anschließen“, höre ich die Schwester sagen.

      „Sie reagiert nicht. Ich habe sie am Arm berührt. Sie hat nicht mal gezuckt.“ Ellis Stimme kommt mir seltsam verändert vor. Hat sie geweint? Ich sollte Mitleid mit ihr haben, verspüre jedoch nichts.

      „Versuchen Sie es einfach noch einmal, und wenn sie keine Regung zeigt, lassen Sie sie schlafen. Besuchen Sie sie morgen wieder. Ich komme auch gleich mit Medikamenten für die Nacht. Dann erhält sie nochmals starke Schlafmittel.“

      Der stechende Schmerz fährt wieder durch meine Hand. Wahrscheinlich hat die Schwester den Sitz der Nadel überprüft. Ungewollt öffne ich die Augen und stoße gepresst angestaute Luft aus, was sich anhört wie ein gequälter Schmerzenslaut. Ich erfasse das Gesicht einer mir unbekannten Frau. Rund, feiste Hamsterbacken, blass, gerahmt von blondgefärbter Stoppelfrisur. Es muss die Krankenschwester sein, die mich mitfühlend, aber irgendwie auch ein bisschen zu professionell empathisch betrachtet.

      „Haben Sie Schmerzen, Frau Stolpe? Ich lasse Sie kurz mit Ihrem Besuch alleine und bringe Ihnen dann etwas für die Nacht. Bleiben Sie so lange bei ihr?“, wendet sie sich leicht hektisch an meine Freundin. Die Schwester hat Angst davor, mit mir allein zu sein. Sie weiß nicht, wie sie mit mir umgehen soll. Wer sagt mir, wie ich mit mir umgehen soll?

      Ich bin allein mit Elli. Wir schweigen uns an. Ihr Gesicht ist vom Weinen aufgequollen, hat seine kantigen Konturen verloren. Das passt überhaupt nicht zu deinem dürren Körper, ertappe ich mich bei unangebrachten Gedanken, vermisse erneut Mitleid, schäme mich nicht dafür. Und überhaupt, passt das Weinen nicht zu Elli, der immer zuversichtlichen, zupackenden, nie verzagenden Elli. Habe ich es etwa erreicht, ihren nie versiegenden, aufreizenden Optimismus zu brechen? Sie ist nie um Worte verlegen, warum ist sie es jetzt? Warum sagt sie nichts, verdammt noch mal. Ich werde schweigen.

      „Du musst nichts sagen“, flüstert sie und beugt sich zu mir herab. Sie hat meine Gedanken erraten, meine Tränen aufhalten, kann sie nicht. Sie entnimmt aus dem Karton, der auf meinem Nachttisch steht, mehrere Kleenex Tücher und versucht mir zart, beinahe zärtlich, das Gesicht zu trocken. Es gelingt ihr nicht. Unaufhaltsam fließen meine Tränen über meine Wangen, in meine Haare, an meinem Hals entlang, ohne dass ich mich auch nur einen Millimeter bewege. Elli gibt auf und trocknet sich nun selbst ihr tränenüberströmtes Gesicht.

      „Ich habe vorhin mit einem Arzt gesprochen“, setzt sie mit belegter Stimme zu scheinbar wichtigen Aussagen an. „Wir glauben, es ist besser, wenn du noch ein paar Tage im Krankenhaus bleibst. Sie wollen morgen jemanden vom sozial-psychiatrischen Dienst vorbeischicken. Wäre das für dich in Ordnung?“

      Da ist sie wieder, die alte Elli. Was hat sie gesagt? <Wir glauben, es ist besser?> Ja, natürlich, Elli und der Arzt. <Du musst nichts sagen> und jetzt zwingt sie mich mit so einer Frage zu einer Aussage. Ich zerre ihr die letzten trockenen Tücher aus der Hand und putze mir geräuschvoll die Nase.

      „Nein, können wegbleiben.“

      „Wie du willst. Dann sage ich draußen Bescheid, dass du keine psychologische Betreuung möchtest.“

      So wie Elli das sagt, klingt es, als sei ich ein verstocktes Kind, das den Rat der Erwachsenen nicht annehmen will. Ganz Unrecht hat sie wahrscheinlich nicht. Ich will keine Ratschläge, die ja wohl immer davon ausgehen, dass sich etwas vermeiden oder verbessern lässt. Vermeiden lässt sich in meinem Fall nichts mehr, es ist bereits geschehen, für Verbesserungen wurden mir die Voraussetzungen entzogen.

      „Nein, ich schicke sie weg, wenn sie kommen. Ich möchte das allein klären“, gelingt es mir endlich, mit brüchiger Stimme, zwei zusammenhängende Sätze herauszupressen.

      „Ja, Bianca, das klingt gut. Dann kannst du es dir ja bis morgen vielleicht noch anders überlegen.“ Elli tätschelt meinen Arm und quält sich ein aufmunterndes Lächeln ab. Meine Freundin erscheint mir in einem fremden Licht. Sie ist nicht authentisch, aber wie soll sie auch?

      „Du hast mich nicht richtig verstanden, Elli. Ich will das nur allein klären.“ Erschöpft von meinem Aufbäumen gegen die vermeintliche Bevormundung, drehe ich den Kopf zur Seite.

      Elli schweigt. Obwohl mein Gesicht abgewendet ist, spüre ich, wie sie hilflos auf mich herabschaut. Ich bin es gewohnt, dass man von oben auf mich hinunterschaut. Klein, füllig ist es mir nie gegeben gewesen, mit Menschen auf gleicher Höhe, von Angesicht zu Angesicht, zu kommunizieren. Ja, als ich noch als gefragte Journalistin, ausgestattet mit dem nötigen Selbstwertgefühl und Sachverstand unterwegs war, spielte meine Körpergröße keine Rolle. Die Gespräche fanden stets auf Augenhöhe statt. Ich erschrecke über meine abschweifenden Gedanken und versuche, mich in die Gegenwart zurückzuholen. Umfasst dann die Gegenwart auch die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit, das Unaussprechliche? Langsam wende ich meinen Kopf und suche Ellis Blickkontakt.

      „Kannst du mir einen Gefallen tun?“, flüstere ich, sodass sich Elli noch weiter zu mir herunterbeugen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstanden hat und will meine Frage gerade wiederholen, als sich ihr Gesicht nahezu erleichtert aufhellt.

      „Ja, natürlich, jeden, das weißt du doch, Liebes“, kommt ihre Antwort etwas zu überstürzt.

      „Bitte sag Frank, dass ich von ihm keinen Besuch wünsche. Ich will ihn auf gar keinen Fall sehen“, stoße ich hastig, aber resolut hervor. Woher nehme ich nur die Kraft dazu, schießt es mir durch den Kopf und empfinde seltsamerweise seit langer Zeit Bewunderung für mich. Elli starrt mich entsetzt an, richtet sich auf und macht einen Schritt rückwärts, wobei sie fast über den Infusionsständer stolpert. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, wie bei einem Sportler nach Höchstleistung und für Elli grenzt es an Extrembelastung, meine Bitte aufzunehmen, zu verarbeiten und dann noch angemessen zu reagieren.

      „Das kannst du nicht wirklich wollen“, presst sie hervor, ohne sich wieder meinem Bett zu nähern. Eigentlich hätte sie sagen müssen, dass kannst du von mir nicht verlangen, denn Elli liebt das Verbindende, möchte stets durch positive Sichtweisen ihre Umgebung in Gleichklang halten. Mit ihrem Satz macht sie deutlich, dass sie meinen Wunsch kategorisch ablehnt, die beabsichtigte Ausgrenzung meines Mannes nicht nachvollziehen kann, für falsch hält. Sie möchte von mir für Falschmeldungen nicht missbraucht werden.

      Ich bin erschöpft. Die letzten Minuten im Wachzustand waren anstrengend. Es fällt mir schwer, mich weiter auf meine Freundin zu konzentrieren. Ich fixiere die Tür und sehne die Schwester herbei, um meine angekündigte, erlösende Schlafdroge zu erhalten. Meine Gedanken schweifen ab, sind nicht mehr in der Gegenwart, bewegen sich nebulös in der Vergangenheit, einer Zeit, die ich mir doch verboten habe.

      „Bianca, ich halte das für keine gute Idee. Ihr müsst jetzt zusammenhalten, vielleicht gelingt es ja, dass ihr euch gegenseitig stützt. Ach verdammt, was rede ich da. Das klingt ja irgendwie bescheuert nach Therapie aus der Frauenzeitschrift und das... ach,...“, bricht sie resigniert ab.

      „Er hat mich vorher nicht gestützt, wie soll das jetzt gelingen? Wie kannst du so etwas sagen, du, die doch alles weiß?“ Meine Augen füllen sich wieder mit Tränen. Ich kann sie jedoch wegblinzeln. Elli soll gehen. Warum haut sie nicht endlich ab?

      „Leif ist auch Franks Sohn. Es ist euer Kind. Du kannst nicht so tun, als gäbe es nur eine Mutter.“ Elli spricht leise, beherrscht, aber eine Spur zu vorwurfsvoll. Sie erdrückt mich.

      „Neeeiiin, Leif IST nicht unser Sohn. Er WAR unser Sohn. Leif ist tot, tot, tot, in unserem Garten, auf den Steinplatten, neben der Schaukel, einfach tot. Alles rot, tot, rot, tot. Leif braucht keinen Vater mehr, ich brauche keinen Mann mehr“, schreie ich mit aller Kraft, die mir geblieben ist, heraus. Mit einer einzigen Armbewegung schleudere ich die Bettdecke von meinem Körper, richte mich auf, reiße mir die Kanüle aus der Hand, schwinge die Beine aus dem Bett und sacke haltlos winselnd zu Boden.

      Irgendwie müssen sie mich wieder ins Bett zurück verfrachtet haben. Meine Glieder fühlen sich bleischwer an. Die Stimmen um mich herum kommen von weit her, klingen dumpf,