Mara Dissen

Du bist böse


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ist gut, dass sie es endlich ausgesprochen hat“, höre ich eine unbekannte männliche Stimme, bevor es schwarz wird.

      Hanna Butt steht unschlüssig vor dem schmiedeeisernen Tor, den Arm zur Betätigung der Klingel ausgestreckt. In letzter Sekunde scheint sie es sich anders überlegt zu haben, lässt den Arm wieder sinken und dreht sich langsam zur Straße um. Nervös zupft sie am Ärmelaufschlag ihres Mantels, versucht, imaginäre Fussel zu entfernen, ohne ihre sinnlose Tätigkeit mit den Augen zu verfolgen. Hannas Blick schweift über die kurze Sackgasse und erfasst die wenigen Grundstücke. Die Anwohner haben die Eingrenzung ihrer Anwesen kreativ gestaltet. Dichte, hohe Hecken, kunstvoll arrangierte Holzverkleidungen, hässliche Plastikfolien befestigt an Drahtzäunen, aus unterschiedlichem Stein gemauerte Bollwerke reihen sich nahtlos aneinander. Eins haben alle Grenzen gemeinsam: Sie schützen die Bewohner in ihren Villen vor den unerwünschten Blicken Unbefugter.

      Hanna Butt beendet das unsinnige Zupfen an ihrem Mantel und schlägt den Kragen hoch. Ihr braunes, glattes Haar, das ihr meistens locker über die Schultern fällt, hat sie heute zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den sie mit einer schnellen, unwilligen Handbewegung aus dem Kragen hervorzieht. Fröstelnd schlägt sie ihre Arme um den schlanken, wohlgeformten Körper und hüpft mit geschlossenen Beinen mehrmals auf der Stelle. Die ausgeprägten, muskulösen Waden, die sich durch die enganliegende Hose abzeichnen, lassen erahnen, dass Hanna Butt regelmäßig Sport treibt. Es fällt ihr jedoch immer schwerer, sportliche Betätigungen in ihr enormes Arbeitspensum und die Erziehung ihrer kleinen Tochter einzubinden. Sie hat schnell erfahren, dass es unumgänglich ist, Abstriche bei den eigenen Bedürfnissen zu machen. Umso mehr genießt sie, die auf diese Weise gewonnene gemeinsame Zeit mit ihrer Tochter und ihrem Mann. Unschlüssig stampft sie mit beiden Füßen kraftvoll auf den Boden. Es ist zu kühl für einen Morgen im Juli. Noch einmal betrachtet sie den menschenleeren Straßenzug, bevor sie sich erneut dem Tor zuwendet, ohne jedoch Anstalten zu unternehmen, die Klingel zu betätigen. Ihr leicht gebräunter, makellos glatter Teint ist heute blass, scheint seine Vitalkraft verloren zu haben. Die vollen Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die Stirn verkrampft nach oben gezogen, sodass Zornesfalten wie kleine Rinnsale hervortreten, starrt sie auf ihre Schuhspitzen. Hanna Butt geht es nicht gut, scheint ihre Attraktivität, ihre professionelle Zielstrebigkeit in den letzten vierundzwanzig Stunden abgegeben zu haben. Sie fühlt sich matt, ausgelaugt, alt, obwohl sie erst vor wenigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hat.

      Plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper. Entschlossen drückt sie auf den Klingelknopf, wartet ungeduldig von einem Bein auf das andere tretend und betätigt den Knopf ein zweites Mal.

      „Ja bitte?“ Die Stimme aus der Gegensprechanlage klingt leise, kraftlos und verzerrt.

      „Herr Stolpe?“

      „Ja.“ Nur ein Wort, unwillig, hörbar genervt, fast aggressiv.

      „Guten Morgen, Herr Stolpe. Mein Name ist Butt, Hanna Butt. Ich bin Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei. Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten. Könnten Sie mir bitte das Tor öffnen?“ Sie trägt ihre Bitte verhalten, unsicher vor, möchte das Gespräch nicht führen, muss.

      Nach nur wenigen Sekunden entriegelt sich das schwere, blickdichte Eisentor fast lautlos, gleitet in die Führung auf der gegenüberliegenden Seite und gibt die Sicht auf eine Villa frei. Sie ist nicht überladen pompös, eher elegant. Sie besticht mit klaren Linien, schnörkellos, stellt eine geschlossene, stilistisch überaus gelungene Einheit dar. Durch die großen Glaselemente, die das Gebäude beherrschen, lässt sich die luxuriöse Ausstattung erahnen.

      Hanna betritt den gepflasterten Weg aus unebenen Natursteinen, verharrt erneut, wirft einen kurzen Blick zur Überwachungskamera, die auf einem Masten unmittelbar hinter dem Tor im Verborgenen angebracht ist und eilt auf das Haus zu.

      Die schwere und doch schlicht gestaltete Eingangstür ist verschlossen. Vergeblich sucht Hanna Butt nach einer Klingel und dreht sich schulterzuckend zur parkähnlichen Gartenanlage um, die sie soeben, ohne bewusst wahrzunehmen, durchschritten hat. Blühende Rabatten, eingefasst mit Steinen, Sitzbänke aus Edelhölzern unter exotisch anmutenden Bäumen, ein filigraner Pavillon in der Nähe eines kleinen Fischteiches ziehen Hanna in ihren Bann. Eine Spielfläche für Kinder sucht sie vergeblich.

      „Frau Butt? Möchten Sie reinkommen?“ Unbemerkt hat sich die Tür hinter ihr geöffnet. Hanna sieht sich einem Mann gegenüber, dessen Anblick das Unfassbare ihres Besuches erschreckend ins Bewusstsein zerrt. Hellblaue, tiefliegende Augen, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft in die Augenhöhlen gezogen, umrandet von blauschwarzen Schatten, beherrschen das Gesicht, obwohl sie ausdruckslos an Hanna Butt vorbei zu irgendeinem Punkt außerhalb des Hauses schweifen. Steile Falten, die sich zu beiden Seiten der Mundwinkel eingegraben haben, verleihen dem blassen, kantigen, unrasierten Gesicht abweisende Härte. Frank Stolpe ist schlank, hält sich jedoch nach vorne gebeugt krampfhaft an der Türfüllung fest, sodass Hanna seine Körpergröße nur schlecht einschätzen kann. Nachdem sie den Mann taxiert hat, fällt sie die Entscheidung, dass es sich bei Herrn Stolpe unter normalen Umständen um einen gutaussehenden Mann handeln müsste. Nur flüchtig nimmt sie die ausgebeulte Jogginghose, das zerknautschte, leicht fleckige T-Shirt und die zwei unterschiedlichen, nicht zusammenpassenden Hausschuhe an seinen Füßen wahr. Die Kommissarin möchte ihn nicht weiter einer intensiveren Begutachtung aussetzen. Sie kann sich Herrn Stolpe jedoch zu anderen Gegebenheiten gepflegt, in exquisitem Dress vorstellen. Sofort verwirft sie diesen Gedanken wieder, befürchtet, durch ihr Wissen um seine gesellschaftliche Stellung, dem Menschen nicht vorurteilsfrei gegenüber zu stehen.

      „Ja, was ist jetzt, kommen Sie rein, oder was?“ Seine Stimme klingt rau, abweisend. Bei seinen Worten hat er sich aufgerichtet, löst eine Hand von der Türfüllung, umfasst den Türgriff haltsuchend mit beiden Händen und gibt Hanna Butt den Blick in die Diele frei.

      „Oh ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte“, beeilt sich die Kommissarin, ihre Befangenheit herunterzuspielen und von der leichten Röte, die ihr Gesicht überzieht, abzulenken. Es ist ihr peinlich, den Mann so lange gemustert zu haben, obwohl sie sich nicht sicher ist, ob er in seinem Zustand ihre abschätzenden Blicke überhaupt wahrgenommen hat.

      Hanna Butt bleibt abwartend auf dem breiten Flur stehen, der sich am Ende zu einem großflächigen Wohnbereich hin öffnet. Sie ist sich ihrer Unsicherheit durchaus bewusst. Sie führt sie auf das Unausweichliche des bevorstehenden Gesprächs zurück, eine Belastung, die sie in den letzten Stunden nahezu erdrückt hat. Hanna Butt fühlt sich ihrer Professionalität beraubt. Allmählich spürt sie jedoch, dass ihre zögerliche Vorgehensweise auch durch die gediegene Umgebung hervorgerufen wird. Hanna fühlt Verärgerung in sich aufsteigen, Verärgerung über ihr Empfinden, das eine Eigendynamik zu entwickeln scheint.

      „Geht es schnell? Sie können mir sicher gleich hier auf dem Flur sagen, weshalb Sie hier sind. Ich bin zu längeren Gesprächen heute nicht in der Lage. Also, bitte.“ Frank Stolpe lehnt sich an die Wand, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht Hanna zum ersten Mal direkt an. Sie stellt fest, dass er groß ist, mindestens einen Meter neunzig und jünger, als es an der Tür den Anschein hatte, Mitte vierzig vielleicht.

      Sie lässt sich Zeit mit ihrer Antwort, versucht ihre Gefühlswelt zu ordnen. Sie will ihr Selbstvertrauen zurück, das sie für zielgerichtetes Arbeiten so dringend benötigt.

      „Herr Stolpe, es wäre schon besser, wenn wir uns irgendwo hinsetzen könnten. Ich muss Ihnen etwas mitteilen und habe auch ein paar Fragen an Sie. Das ist hier nicht der geeignete Ort, glauben Sie mir.“ Mit diesen und ähnlichen Sätzen hat die Kommissarin schon öfter ein Gespräch eröffnen müssen, sodass sie sich kurzfristig auf sicherem, eingefahrenem Terrain befindet. Umso erstaunlicher sind ihre fahrigen Hände, die nervös und unablässig an den Haarspitzen ihres Pferdeschwanzes zupfen.

      Die Sätze haben Frank Stolpes Interesse geweckt. Aufmerksam versucht er, im Gesicht der Polizistin zu lesen.

      „Tja, dann kommen Sie. Wir können uns ins Wohnzimmer setzen. Sie haben hoffentlich Verständnis dafür, dass ich Sie bitte, sich kurz zu fassen.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, dreht er sich