Mara Dissen

Du bist böse


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steht und bleibt auch bestehen. Bitte vergessen Sie das nicht, Herr Stolpe. Also“, setzt sie nach einem kurzen Räuspern zu ihrem Bericht an. „Leider konnten die Ärzte im Stadtkrankenhaus das Leben Ihres Sohnes Leif nicht mehr retten. Das ist entsetzlich, einfach gnadenlos schmerzhaft.“ Die letzten Worte sind so leise gesprochen, dass sie sich in dem großen Raum verlieren, nahezu untergehen und doch das Grauen nicht ungeschehen machen können. Wieder und wieder räuspert sich Hanna, bemüht, ihr eigenes Entsetzen zu beherrschen. „Mir wurde berichtet, dass Sie Ihren Sohn gestern bis zu seinem Tod begleitet haben“, setzt sie erneut, nun etwas lauter, an. „Ich möchte deshalb nicht näher auf die Bemühungen der Ärzte im Krankenhaus eingehen, Sie nicht damit quälen. Ich muss Ihnen aber mitteilen, dass die Ärzte Verletzungen bei Ihrem Sohn festgestellt haben, die für sie nicht so eindeutig zu erklären waren. Die Ärzte haben sich daraufhin mit meiner Dienststelle in Verbindung gesetzt, und ich habe anordnen lassen, Ihren Sohn gestern Abend zu uns in die Pathologie zu überführen. Herr Stolpe, haben Sie mitbekommen, was ich Ihnen eben gesagt habe?“ Wachsam beobachtet sie die Reaktion des Mannes. Er starrt sie an, ausdruckslos, scheinbar gefühlskalt. Hanna kann sein Verhalten nicht einschätzen, ist auf alles gefasst und wünscht sich an einen anderen Ort, mit anderen Nachrichten.

      „Also, Herr Stolpe...“.

      „Hören Sie auf! Ich erwarte von Ihnen keine Anteilnahme und schon gar keine Rücksichtnahme. Was heißt keine eindeutig erklärbaren Verletzungen? Mein Sohn ist von der Schaukel gefallen. Da draußen, da, schauen Sie hin, von dieser Schaukel da. Er ist auf die Steinplatten gefallen. Es dürfte ja wohl nachvollziehbar sein, dass ein Kind von vier Jahren, sich Verletzungen zuzieht, wenn es von einer Schaukel fällt und auf Steinplatten stürzt. Wer sind die Ärzte, denen hierfür das nötige Vorstellungsvermögen fehlt. Und deswegen verfrachten Sie meinen Sohn in die Pathologie? Unfassbar, verantwortungslos, Frau Kommissarin. Geben Sie mir die Namen der Ärzte. Ich möchte sofort mit ihnen sprechen.“ Schwer atmend stützt er sich seitlich auf dem Sofa ab, will sich erheben, beendet sein Vorhaben jedoch und starrt die Kommissarin herausfordernd an.

      „Es ist natürlich nachvollziehbar, dass ein Sturz von der Schaukel Verletzungen nach sich zieht. Ich habe dem Protokoll der Rettungssanitäter, die zum Unfallort gerufen worden waren, entnommen, dass niemand in der Nähe war, als Ihr Sohn von der Schaukel fiel. Ihr Sohn hat also alleine geschaukelt, hat sich selber Schwung gegeben. Sie haben eben das Alter Ihres Sohnes erwähnt, Herr Stolpe. Die Art und Schwere der Verletzungen sind auf einen Sturz aus großer Höhe zurückzuführen. Es sind berechtigte Zweifel aufgekommen, dass ein vierjähriges Kind es selbständig schafft, sich in extreme Höhen auf einer Schaukel, na sagen wir mal, zu schrauben.“

      Die einsetzende Stille hat etwas Gefährliches, Lauerndes, eine Stille, in der man sich unweigerlich vor dem Bevorstehenden schützen möchte. Stolpe sitzt wie versteinert, nur sein Unterkiefer macht eine Schnappbewegung. Hanna Butt lässt den Mann nicht aus den Augen und versucht, seine nächste Reaktion zu erahnen. Sie kann ihn immer noch nicht einschätzen und rechnet mit einer Bandbreite an Gefühlsausbrüchen, was ihr Unbehagen noch verstärkt. Sie weiß, dass sie nun fortfahren müsste, um die Oberhand über den weiteren Verlauf des Gesprächs zu behalten und die Situation nicht eskalieren zu lassen. Der Blick in das Gesicht des Mannes hält sie jedoch wie unter Zwang davon ab, weitere Erklärungen abzugeben. Es sind seine hellblauen, wachsamen Augen, die die Stumpfheit der Trauer verloren haben, die sie förmlich zu durchbohren scheinen und ihr den Atem stocken lassen. Nach scheinbar endlosen Minuten steht Stolpe schwerfällig auf, geht erneut zur Fensterfront und stützt sich mit beiden Händen ab. Hanna betrachtet seinen verkrampften Rücken und vermutet, dass Stolpes Blick auf der Schaukel ruht.

      „Was wollen Sie mir damit sagen?“, vernimmt Hanna schwach seine ruhige und gefasste Stimme. Erneut hat sich sein Verhalten zum vorherigen Auftreten verändert, zeigt extreme Gemütsschwankungen, mit denen Menschen nach unfassbaren, grauenvollen Ereignissen zu kämpfen haben.

      „Meine Kollegen und ich haben die Aufgabe, zu klären, wie der Unfall Ihres Sohnes zustande gekommen ist. Dafür müssen wir Ermittlungen anstellen, um auszuschließen, dass bei dem Unfall Fremdverschulden vorliegt. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Sie das überrascht, verärgert, ja möglicherweise auch verunsichert, aber nach den Untersuchungsergebnissen und Bedenken mehrere Ärzte, sind Sie vielleicht auch daran interessiert, die aufgetretenen Fragen beantwortet zu bekommen.“

      „Nein, das bin ich nicht. Ich habe zu dem Unfall keine Fragen.“

      „Die ergeben sich aber aus den Untersuchungen, und wir können sie nicht einfach vom Tisch wischen, Herr Stolpe.“

      „Welcher Art und Schwere sind die Verletzungen?“

      „Ich werde Ihnen die Berichte der Ärzte zukommen lassen. Dann können Sie in Ruhe alles nachlesen, und sollten Sie dann Fragen haben, so kann Ihnen unser Pathologe diese beantworten.“

      „Wurde mein Sohn in der Rechtsmedizin aufgeschnitten, obduziert, meine ich?“

      „Ja“, bringt Hanna nur das eine Wort, das so viele Emotionen freilegt, über die Lippen.

      Der qualvolle Laut, den Frank Stolpe ausstößt, lässt Hanna zusammenzucken. Sie zögert mit ihrem nächsten Vorstoß, sieht sich aber unter Zeitdruck.

      „Herr Stolpe, für unsere Ermittlungen ist es unerlässlich, dass wir den Unfallort und die umliegende Umgebung näher untersuchen. Das macht im Zuge von Aufklärungsarbeiten immer unsere Spurensicherung. Es ist ja nun schon mehr als vierundzwanzig Stunden her, seit Ihr Sohn verunglückt ist, aber wir haben die Informationen über die Art der Verletzungen erst heute in den frühen Morgenstunden erhalten. Somit kommen die Kollegen der Spurensicherung erst jetzt zu Ihnen auf das Grundstück. Sie sind unterwegs und müssten eigentlich jeden Moment hier sein. Regen Sie sich nicht auf, Herr Stolpe, und lassen Sie die Kollegen einfach ihre Arbeit machen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sie belastet, dabei zuzuschauen. Wir beide könnten uns hier von der Fensterfläche etwas zurückziehen und in einem Gespräch meine Fragen klären. Wäre das möglich? Die Kollegen werden da draußen auch einige Tests durchführen, um zum Beispiel Aufschluss über vermeintliche Sturzhöhen zu erlangen. Ich hielte es für keine gute Idee, wenn Sie dabei zugegen wären. Sie verstehen?“

      „Ja“, leise, rau, gequält.

      Der Dreitonklang einer Türglocke zerreißt die Stille.

      „Das müssten die Kollegen der Spurensicherung sein. Können Sie ihnen bitte das Tor öffnen?“

      Stolpe drückt sich energisch von der Scheibe ab und schlurft mit hängenden Schultern Richtung Flur an Hanna Butt vorbei, ohne sie weiter zu beachten.

      Ihre Frage kommt unvorbereitet, wie aus dem Nichts, erreicht ihn fast in Abwesenheit.

      „Wer war bei dem Unfall eigentlich dabei, hier im Haus oder Garten? Ich meine, wer hat Ihren Sohn gefunden?“

      „Ich.“

      Ich weiß nicht, wann Elli gestern Abend das Krankenhaus verlassen hat. Eigentlich kann ich mich an gar nichts erinnern. Nein, das stimmt nicht. Komm endlich zu dir, reiß dich zusammen. Schließlich weißt du doch, dass Elli hier war, siehst sie vor dir, wie sie hilflos an deinem Bett steht. Ja, ich sehe Ellis Hilflosigkeit, spüre sie förmlich. Es muss nach meinem Wutausbruch gewesen sein. War es Wut? Wohl eher mein Bewusstsein, das nicht mehr getäuscht werden wollte, dass das Unterdrückte ans Tageslicht beförderte. War es dann also grenzenlose Traurigkeit, die sich da in meinem Anfall den Weg nach außen, den Weg zur nackten Offenlegung gebahnt hatte? War es das, was Elli, die Sturmerprobte, so verunsicherte? Damit kann ich umgehen, empfinde sogar Anzeichen innerer Genugtuung. Es ist schließlich nicht einfach, Elli aus dem Gleichschritt zu bringen. Mir war es bisher noch nie gelungen. Da ist aber noch etwas anderes, und das nimmt mir die Luft zum Atmen. Nicht Ellis Verunsicherung, nein, es ist Ellis Verärgerung, ihr Unverständnis, was sich bei mir als Bild eingegraben hat. Sie konnte nicht akzeptieren, dass ich mich von Frank abwende. Sie stellt sich gegen mich. Lehnt sie sich gegen mich, ihre Freundin, auf? Tritt sie so vor Frank, meinen Mann? Die Fragen bereiten mir Unbehagen. Es kann mir aber vollkommen egal sein. Frank war nicht hier,