Mara Dissen

Du bist böse


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Schritt für Schritt erreichen sie den Wohnbereich. Gerade noch das aufgezwungene lethargische Verhalten innerlich verfluchend, verharrt Hanna augenblicklich in der Mitte des Raumes. Nur wenige Möbelstücke, jedes für sich exquisit, einmalig, ziehen automatisch ihre Blicke an. Hanna fühlt sich von der Wucht der Ausstrahlung überwältigt. Nahezu andächtig betrachtet sie die wenigen ausgewählten Dekorationsstücke, erlesene Unikate, die die minimalistische Ausstattung des riesigen Wohnbereichs unterstreichen.

      Frank Stolpe hat eine ausladende, cremefarbene Sitzlandschaft erreicht. Das Sofa und die bequem anmutenden Sessel stehen mitten im Raum, sollen magisch anziehen und gleichzeitig einen Ruhepol in dem großen Zimmer bilden. Beherrscht wird das gediegene Ambiente jedoch von einem schwarzen Hochglanzflügel, der, einem Ausstellungsstück vergleichbar, in der Sichtachse von Eingangstür und Terrassentür positioniert wurde. Die freischwingende Treppe, die in dem oberen Wohnbereich auf eine rundum verlaufende Galerie führt, scheint sich anmutig den Formen des exquisiten Instruments unterzuordnen. Der schwere, rechteckige Esstisch aus verschiedenen Edelhölzern steht losgelöst an der gegenüberliegenden Frontseite und scheint nicht oft zum Einsatz zu kommen.

      „Bitte“, weist er Hanna Butt einen Platz in einem der Sessel zu, lässt ihr jedoch keine Zeit, sich zu setzen. Zu schnell stellt er die Frage, die unausgesprochen im Raum steht.

      „Ich habe erst gar nicht richtig geschaltet, als Sie sich vorgestellt haben. Jetzt frage ich mich aber schon, weshalb Sie zu mir kommen, Sie, von der Kriminalpolizei.“ Müde lässt er sich in eine Sofaecke fallen und schaut aus geröteten Augen zu Hanna Butt auf. Wie unter einer schweren Last, streckt er seinen rechten Arm aus und zeigt erneut auf den Sessel.

      „Nun setzen Sie sich doch schon endlich. Sie sehen doch, dass ich keine Kraft mehr habe, mich länger auf den Beinen zu halten. Es ist für mich unerträglich, wie Sie da stehen und auf mich herabschauen, mich förmlich taxieren.“ Schwer atmend schlägt er beide Hände vors Gesicht. Beklommen nimmt die Kommissarin das leise, unterdrückte Schluchzen wahr, registriert die Tränen, die sich durch seine Finger den Weg bahnen. Schnell, nahezu hastig setzt sie sich in den zugewiesenen Sessel und umklammert haltsuchend ihre Knie. Sie weiß, dass sie sich ruhigstellen muss, Frank Stolpe Zeit benötigt, sich wieder konzentrieren zu können. Es ist für sie schwer einzuschätzen, wie der zusammengesunkene Mann das unausweichliche Gespräch aufnehmen wird. Er erscheint ihr unberechenbar.

      Den Blick auf Stolpe gerichtet, nimmt sie aus den Augenwinkeln durch das riesige Panoramafenster Teile des Gartens wahr. Interessiert wendet sie sich von Stolpe ab und versucht, die Einzelheiten der Anlage in sich aufzunehmen. An eine Terrasse, die an einer Seite von einem mächtigen, gemauerten Kamin begrenzt wird, schließt sich eine große Rasenfläche an. Das gesamte Grundstück ist von blühenden und immergrünen Zierbüschen umrahmt. An zwei Seiten wird das Areal von Ackerflächen, die nur spärlich an wenigen Stellen durch die dichte Bepflanzung sichtbar werden, eingegrenzt. An der Seite zum bebauten Nachbargrundstück ist die nahezu blickdichte Bepflanzung an einer schmalen Stelle unterbrochen und gibt die Sicht auf einen trennenden Maschendrahtzaun und eine dahinterliegende Villa aus der Gründerzeit frei. In dem Zaun befindet sich eine Tür, woraus Hanna schließt, dass nachbarschaftliche Kontakte erwünscht sind. Nachdenklich wendet sich die Kommissarin wieder dem vor ihr liegenden Grundstück zu und entdeckt am Ende der riesigen Rasenfläche, was sie im Garten vor dem Haus vermisst hatte.

      Die Spielfläche ist nicht groß, eine Sandkiste, eine Rutsche und eine Schaukel. <Ziemlich lieb-, und einfallslos, bedenkt man die aufwendig angelegte Umgebung und die Ausstattung des Hauses>, schießt es Hanna durch den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wird jedoch von einem anderen Objekt angezogen. Ein mannshoher Maschendrahtzaun umrandet die komplette Spielfläche, grenzt sie wie ein Gefängnis ein, durchsichtig, aber nicht durchlässig. Nachdenklich starrt Hanna Butt auf die weit geöffnete Tür aus Drahtgeflecht und kann den leichten Schauer, der ihr den Rücken hinunterkriecht, nicht verhindern.

      „Entschuldigen Sie, aber ich... was wollten Sie mir sagen?“, wird die Kommissarin aus ihren Gedanken gerissen. Umständlich zieht Frank Stolpe ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und putzt sich laut und ausgiebig die Nase. Mit verquollenem Gesicht sucht er die Augen der Kommissarin und ist deutlich um Haltung bemüht. Hanna spürt, dass sie ihn nun erreichen kann.

      „Herr Stolpe, ich weiß, was Sie im Moment durchmachen. Ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen. Es geht nicht anders, und es fällt mir schwer, sehr schwer, Sie hier mit meiner Anwesenheit zu quälen.“ Bevor sie fortfährt, beobachtet sie Frank Stolpe kritisch und trifft für sich die Entscheidung, dass er für die nächsten Angaben, die wesentlichen Angaben, bereit ist. „Ihr Sohn Leif ist bei uns in der Rechtsmedizin untersucht worden. Aus dieser Untersuchung haben sich Fragen ergeben, die zu klären, Aufgabe der Kriminalpolizei ist. Deshalb bin ich heute bei Ihnen.“ Hanna Butt hält ihre Knie noch fester umklammert und bemüht sich um gleichmäßiges, ruhiges Ein- und Ausatmen. Gebannt beobachtet sie die Reaktion ihres Gegenübers. Frank Stolpe starrt sie verständnislos an und schüttelt unentwegt entgeistert seinen Kopf.

      „Was soll das? Was hat mein Sohn in der Rechtsmedizin zu suchen? Was haben die da mit ihm gemacht? Warum bin ich nicht gefragt worden? Das erlaube ich nicht. Hören Sie? Das erlaube ich einfach nicht!“ Stolpes Stimme steigert sich mit jedem Satz, schreit den letzten förmlich heraus. Unerwartet schnell und kraftvoll springt er auf und steht mit wenigen Schritten breitbeinig vor der Kommissarin. Hanna Butt streckt reaktionsschnell die Arme abwehrend vor ihrem Körper aus.

      „Herr Stolpe, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin ja hier, um Ihnen alles zu erklären. Das geht aber nur, wenn Sie versuchen, mir zuzuhören, sich auf meine Ausführungen einzulassen. Ich weiß, dass das schwierig ist, aber versuchen Sie es, bitte.“

      Frank Stolpe läuft zur Terrassentür, schlägt mit den Fäusten an die Scheibe und legt erschöpft die Stirn dagegen. Hanna erhebt sich vorsichtig aus dem Sessel und nähert sich dem Mann. Behutsam legt sie eine Hand auf seine Schulter, die Stolpe sofort wegschlägt, sich ansonsten jedoch nicht von der Stelle bewegt.

      „Kommen Sie, setzen Sie sich wieder.“ Erneut sucht sie Körperkontakt, fasst ihn am Oberarm und zieht ihn sachte zum Sofa, was Stolpe ohne Widerstand geschehen lässt. Abwartend bleibt Hanna vor ihm stehen. Sie bereut, den Weg hierher allein, ohne die Begleitung des Psychologen, angetreten zu haben. Es wird ihr bewusst, dass sie sich den Vorwürfen ihres Vorgesetzten stellen muss, sollte Stolpe endgültig zusammenbrechen oder total ausrasten. Die Vorstellung, bei Ihrem Chef Rede und Antwort stehen zu müssen, bereitet ihr Unbehagen. Erleichtert atmet sie auf, als der Mann sich erneut aufs Sofa fallen lässt. Er starrt vor sich hin, regungslos, nahezu apathisch, scheinbar in einer anderen Welt verhaftet, was bei Hanna erneut Hilflosigkeit auslöst.

      „Gibt es denn Verwandte oder Freunde, die sich um Sie kümmern? Ich kann Ihnen unseren Polizeipsychologen schicken, nur wenn Ihnen das Recht ist, natürlich“, versucht Hanna ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Warten Sie, ich bringe Ihnen ein Glas Wasser“, fährt sie eifrig fort, als sie auf einem Beistelltisch eine Wasserkaraffe entdeckt. „Es macht mir nicht den Eindruck, als wäre hier jemand, der Ihnen Beistand leistet, Herr Stolpe. Sie sind ganz alleine, wenn ich das richtig sehe. Das ist nicht gut. Soll ich nicht doch...?“

      „Lassen Sie das. Und setzen Sie sich gefälligst wieder. Sie sind mir Erklärungen schuldig, statt hier aufgescheucht rumzulaufen und den Samariter zu spielen. Sie gehen mir auf die Nerven. Also beantworten Sie meine Frage, und dann verlassen Sie mein Haus und zwar so schnell wie möglich.“ Die Worte fallen klar und deutlich, jedes einzelne wohl akzentuiert. Sein Kopf ist hoch aufgerichtet, hat sich förmlich aus den Schultern geschraubt. Die Augen liegen nicht mehr glanzlos in den Augenhöhlen, sondern versprühen Hass. Seine Körperhaltung spiegelt Abwehr und Angriff zugleich wider.

      Hanna ist erschreckt aber auch gleichzeitig fasziniert, in welch kurzer Zeit, der Mann sich unter Kontrolle bringen konnte. <Da zeigt er sich also, der harte, unerschütterliche Geschäftsmann, gewohnt, Befehle zu erteilen aber auch einzustecken. Hab doch geahnt, dass du den Machtmenschen noch raushängen lässt>. Beschämt über ihre eigenen Gedanken, ruft sie sich sofort wieder ins Bewusstsein, dass sie es mit einem tief trauernden Menschen zu tun hat, dem die Rechte aller Trauernden zu irrationalem Handeln zustehen. Ohne weiter auf seine Worte