Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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Bei Osho heißt es, die Masse vergebe niemals dem Fremden und dem Außenseiter; sie zerstöre ihn und müsse dies sogar tun, damit sie mit sich selbst im Frieden sein könne. Oder aber sie verleiht ihm – „Luxusperson der Menschheit“ (Goltz) –, gleichsam aus Eitelkeit, den Status des Genies: Nur wenn dieser ganz fern von uns gerückt ist, ein „miraculum“ (Nietzsche), verletzt er nicht. Der Betroffene selbst aber leidet: „Ich wollte nicht mehr außerhalb der Welt stehen und den zweifelhaften Ruhm einer Kuriosität erwerben“, fühlte C. G. Jung identisch wie ich. Doch hierzu schien es keine Alternative zu geben: „Recht hast du, Steppenwolf, tausendmal recht, und doch musst du untergehen. Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zu viel. Wer heute leben und seines Lebens froh werden will, der darf kein Mensch sein wie du und ich.“ (Hesse) Suchte ich das Gespräch oder gar den Rat anderer Menschen, um meine inneren Gedanken auszutarieren, fürchtete ich, dass mich fremde Emotionen und Standpunkte zusätzlich beschwerten. Zudem setzte ein solches Gespräch eine Nähe voraus, die Menschen mit „schizoidem Angstmuster“ (Riemann), bei denen sich nicht selten hohe Begabungen fänden, abgeht: So glaube man befürchten zu müssen, nicht verstanden, verlacht oder gar für verrückt gehalten zu werden. Zudem war ich mir nicht im Klaren darüber, ob das, was ich fühlte, wahrnahm, dachte oder mir vorstellte, nur in mir existierte oder auch außerhalb. So versuchte ich so lange wie möglich, Lösungen alleine zu finden. Heute muss ich sagen, dass es zielführender gewesen wäre, Freunde und Familie in die Ungewissheit, das Chaos, das Enigmatische meines Lebens einzubeziehen und die Last zu teilen, um die täglich neuen Erkenntnisse und Zusammenhänge zu verarbeiten.

      Diese Textstellen haben etwas Märtyrerhaftes. Eines Tages notierte ich in meinem Tagebuch: „Nichts ist so, wie es mal war. Das habe ich befürchtet. Und doch muss ich diesen Weg gehen.“ Ein Zurück konnte es nicht geben. Alles Sehnen nach Anpassung, alles Verhandeln um Durchschnittlichkeit war vergeblich. Deshalb könne man sich auch durch Nachäffen niemals die Problemlosigkeit eines armen, dem Schicksal ausgelieferten Lebens erkaufen. Nicht wer die Möglichkeit, sondern vielmehr die Notwendigkeit eines solchen Lebens in sich habe, der werde durch seine Natur dazu gezwungen. Der Ausweg ins „einfache Leben“ sei versperrt, und die eigene Seele lache über diesen Betrug. Nur das, was einer wirklich sei, habe heilende Kraft (Jung). Höchste Zeit für eine mentale Generalvollversammlung. Ich musste lernen, mich in meiner Rolle jenseits der Norm zurechtzufinden. Etwas, was ich bislang erfolgreich von mir geschoben hatte, bis sich das Zerreißen nicht mehr aufhalten ließ. „Denn gewöhnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.“ (Goethe)

      Intensiv setzte ich mich mit unzähligen Biographien auseinander und erkannte alsbald wiederkehrende Elemente sowie Parallelen zu meiner eigenen Entwicklung. Konnte es sein, dass andere dasselbe durchgemacht hatten wie ich? Dass das Chaos in mir, mein Empfinden, einen tanzenden Stern zu gebären, Teil einer Entwicklung mit charakteristischen Phasen war? An welchem Punkt, in welchem Stadium befand ich mich dann jetzt, und was erwartete mich noch? Je mehr ich selbst Erlebtes und Wahrgenommenes in den Quellen dieser „Vorgänger“ (Balzac), „historischen Verwandten“ (Jung), „wahren Blutsbrüder“ (Kafka), „Freundschaften, zurück in der Zeit“ (Mann) und Brüder „in psychologicis“ (Zweig) wiederfand und dies das beglückende Gefühl einer intellektuellen Vereinigung in der Gemeinsamkeit nährte, umso „normaler“ empfand ich mich. Das Geschehen ordnete sich in einen größeren Zusammenhang ein. Hatte es Montaigne bei der Kompilierung und Ausarbeitung seiner Essais vor über vierhundert Jahren ähnlich erfahren, wenn er fremde Gedanken und Zitate in der Regel nicht als übernommene, objektive Weisheit darbot, sondern als schmückende und bestätigende Formulierung seines eigenen Denkens? Am Ende waren es nicht mehr meine Erlebnisse, sondern aller, ich reihte mich ein in eine Gruppe Gleichartiger; aus dem Ich wurde ein Wir. Diese Befruchtung – nicht zuletzt von Personen, die zu ihren Lebzeiten als verrückt galten, in „Irrenhäuser“ gesteckt, aber auch mit dem Nobelpreis geehrt wurden – steigerte sukzessive meine Bereitschaft zur Identifikation und bewirkte gleichzeitig ein gesundendes und befreiendes Loslassen und Nachgeben.

      Ich war aufgebrochen, um nach meiner eigenen Version des Paradieses zu suchen ohne die Richtung zu kennen, denn dafür fehlten mir grundlegende Informationen über mich selbst. Gezwungen, den Prozess des Unbewussten durchzumachen, hat einst auch Jung sich zuerst vom Strom mitreißen lassen müssen, ohne zu wissen, wohin er ihn führt. Hier war das „Unbetretene, nicht zu Betretende“, wo keine sicheren Wege das Individuum führen und kein Gehäuse ein schützendes Dach bereitet. Von seinen Patienten, darunter zahlreiche bedeutende Männer, wusste er, dass sich viele demgegenüber innerlich verschlossen, wobei man das Schicksal, das menschlichen Eingriff nicht vertrage, weder forcieren könne noch solle.

      Nach dem Motto „Tun ist besser denn Nichttun“ tauchte ich forschend und beobachtend in den Schicksalsfluss des Lebens, der sich nichts aus dem statischen Ver-„stehen“, Hindernissen und tobenden Stürmen um ihn macht, sondern „weit-er und weit-er“ fließt. Im Unendlichen erscheinen alle Hügel flach. Dieses „In die Welt gehen“ war intuitiv richtig, denn je mehr ich in Bewegung war, umso identischer war ich mit mir selber. Hier folgte ich Rilkes Empfehlung, die Fragen jetzt zu leben, doch sein Rat, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben oder Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind, fiel mir ebenso schwer wie zu akzeptieren, dass ich jetzt nicht nach Antworten forschen sollte, die mir nicht gegeben werden können, da ich sie nicht leben konnte. Zugleich spürte ich, dass das Leben, so lange mein Herz schlägt, alles auch ohne mein Hinzutun plante. Das Empfinden dieses Lebensstromes ist überwältigend und hat eine tiefe, heilende Wirkung. Es ist die Erfahrung des Lebens schlechthin. In der Folge setzte ich um, was in meinem Kopf bislang jeglicher Vorstellung entbehrte. Ich hatte ausgetretene Pfade verlassen, um, vorgestoßen zu neuen Dimensionen, das Undenkbare zum Denkbaren, zur Realität werden zu lassen. Dann war ich Suchender am Such-Ende. Im Sinne einer selektierten Retraditionalisierung durften Elemente aus der Vergangenheit meiner Gegenwart nur mehr nach bewusster Entscheidung dienen – ein mühseliges Puzzlespiel, dessen Resultat jedoch keine eingeschränkte Menge hervorbrachte, sondern dessen Gegenteil: Mein Leben wurde integrierend, weiter und uneingeschränkt. Im Grunde bedurfte es nur noch einer riesigen Umarmung dieses grenzenlosen Lebens, und dafür benötigte ich Mut. Rilke bestätigt, wir müssen unser Dasein so weit als irgend möglich annehmen, alles, auch das Unerhörte, müsse darin möglich sein. Dieses sei im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlange: Mutig sein gegenüber dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbaren, das uns begegnet. Hierin lag die Aufforderung, meine Arme zu öffnen, wenn ich selbst umarmt werden wollte. Doch wie es sich zwischen Advent und Weihnachten verhält, so kam auch ich nur in Raten in mir an. Im Zuge der Suche der Welt den Rücken zudrehend, sehnte ich mich nach dem Tag, an dem ich mich, meine pathologische Nabelschau und mein Drehen um die eigene Achse beendend, als Täter wiedergeboren, umdrehen würde, innerlich gefestigt mündig der Welt die Stirn bietend, stolz darauf, „ich“ zu sein. Pressekonferenz beendet, keine weiteren Fragen mehr.

      Wünschten wir uns das nicht alle? Ein jeder Mensch, wie ihn die Schöpfung geschaffen hatte? Wie sonst kann es sein, dass so zahlreiche Filme in Starbesetzung auf den Markt kommen, die von sinnsuchenden Menschen berichten, die nach ihren eigenen Definitionen leben, Mauern niederreißen und durch neue Ideen austauschen, und in uns Sehnsüchte wecken, für uns selbst und unsere ganz eigenen Träume und Überzeugungen einzustehen? Ja selbst Broadway Musicals dieses aufgreifen und uns voller Ergriffenheit zu stehenden Ovationen veranlassen!

      Es bedurfte Zeit und Kraft, eine Raupe in einen Schmetterling zu verwandeln und meine Individualität aus der Kollektivpsyche, den Klauen fremder Erwartungshaltung zu befreien, doch dieser Persönlichkeitsentwicklung hatten sich alle anderen Ziele unterzuordnen. In der Hoffnung, eine Verheißung, einen Sinn für meine Existenz aufzuspüren, diesen Abschied von der einstigen Verkörperung, die mir wie eine frühe Vorgeburt meines jetzigen Ichs erschien, stand ich immer öfter voller Erstaunen vor dem sich neuerdings offenbarenden Potenzial, das Lust auf „weitere Weite“ und das Leben weckte, so wie es sich in seiner unermesslichen Vielfalt offenbart. Eine Vielzahl an grundlegenden Fragen nach dem, wer oder was ich bin, löste sich auf in Sein. Es