Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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wieder sein wie zuvor

      Über die Jahre hatte ich mich in einen Druckkochtopf verwandelt. Die Flamme darunter verstärkte den Druck zunehmend, und es war eine Frage der Zeit, wann der erlösende Knall kam. Zum Zeitpunkt der höchsten Anpassung, der Vergewaltigung und Sünde, an meiner Wahrheit vorbei zu leben, zog meine Seele, Gottes Briefkasten in mir, die Reißleine. Sie allein, die einzig weise, hatte das Spiel des falschen Selbst durchschaut.

      Wo meinem Verstand nicht beizukommen war, musste mein Körper das Leid tragen und eine Rosskur auf sich nehmen. Meine Ärztin bat mich, meine Vorgesetzte zu kontaktieren und ihr mitzuteilen, dass ich auf unbestimmte Zeit nicht zurückkommen könne. Ich war schockiert und insistierte, „Ich muss doch wenigstens die laufenden Projekte an mein Team übergeben“, doch sie, die mich seit Jahren aus dem Shanghaier Leben kannte, hatte meine Situation schnell durchblickt und las mir die Leviten: „Nur weil Du viel kannst, musst Du Dich nicht überfordern. Du hast Dich in zu vielen Kanälen über die Maßen eingebracht und nicht gelernt, Nein zu sagen. Du sagst jetzt gnadenlos alles ab, Phillip, die Erde dreht sich auch ohne Dein Dazutun.“ Und würde ich meinen Arbeitgeber nicht anrufen, dann täte sie es. Auf den Punkt gebracht: Sie zog mich aus dem Verkehr.

      Fassungslos und tränenüberströmt saß ich vor den Trümmern meiner Existenz. Unverzüglich wählte ich die Nummer meiner Eltern und rang nach Worten. Tausende Fragen gingen mir durch den Kopf: Soll ich nach Deutschland fliegen, um dort ins Krankenhaus zu gehen? Muss ich in ein chinesisches Hospital? Und was habe ich überhaupt? Welcher Bluttest ist meldepflichtig, und welches Resultat bedeutet Quarantäne, also Reiseverbot?

      Nun sollte jemand anderes als mein Verstand zum Protagonist werden: mein leidtragender Körper. Was ich seit Wochen, jede Empfehlung, zum Arzt zu gehen, ausschlagend, als Schnupfen abgetan hatte, war eine lebensgefährliche Erkrankung mit Viren und Superinfektionen. Leber und Milz waren um ein Vielfaches vergrößert, und meine Abwehrkraft verfügte nur noch über den Bruchteil des Normalwertes. Wie fahrlässig war ich gewesen, mit dieser Konstitution in eine Höhe von weit über 3 000 Meter zu fahren, zwischenzeitlich auf über 4 500 Meter, wo gymnastische Einlagen, Sprünge und Handstände im Schnee nicht fehlen durften! Allein dem besonderen Einsatz meines Schutzengels muss es angerechnet werden, dass ich dort nicht aufgrund von Multiorganversagen das Zeitliche gesegnet habe. Nun sollte ich für mehrere Wochen krank im Bett liegen und Demut lernen. Leber und Milz hatten als Team zusammen mit den Revolutionstruppen der Viralpartisanen gegen meinen Verstand gesiegt und mich in die Grenzen gewiesen: Ich konnte nicht mehr schlucken und kaum hören. Nachts musste ich mehrfach die nassgeschwitzten Hemden wechseln, und selbst Sitzen erschöpfte mich, vom Treppensteigen in der Klinik ganz zu schweigen – es war ein ganz neues Körperempfinden, wie viele unterschiedliche Muskelgruppen beim Auf- und Absteigen zum Einsatz kommen.

      Ganz still war es in mir geworden, und so hatte ich Zeit zum Nachdenken. Hatte Rilke zuvor Ähnliches empfunden, wenn er von Augenblicken redete, da etwas Neues in uns einträte, etwas Unbekanntes? „Unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt …

       Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht …

       Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, umso tiefer und umso unbeirrter geht das Neue in uns ein, umso besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein …“

      Nach dem Motto „Nur was weh tut, beginnt sich zu suchen“ (Sloterdijk) blätterte ich durch einige Seiten des Jakobswegs von Coelho. Erneut wurde mir der Teppich unter den Füßen weggezogen, mein Herz brannte. Später lernte ich von einer Freundin, die sich seit vielen Jahren in Traditioneller Chinesischer Medizin ausbildete, dass Leberkrankheiten allgemein dem Themenkomplex Selbstentfaltung zugeordnet werden und speziell in Zusammenhang mit den Emotionen Aggression und Empathie zu sehen sind, Milzkrankheiten hingegen mit Denken im Sinne von Verarbeiten und Sortieren, Leber und Milz zählen zu den Yin-Organen (= Substanz), folglich ließe sich bei mir ein Yin- bzw. Substanz-Überschuss attestieren. Bei herkömmlichen Krankheiten sei hingegen ein Yin-Mangel bzw. Yang-Überschuss charakteristisch. Eine weitere Quelle ergänzt, dass die Leber nach alter Auffassung der Sitz des Lebens und der Gefühle sei. Die Redewendung, dass mir etwas über die Leber gelaufen war, bekam eine ganz neue Bedeutung … Plötzlich hatte ich das Gefühl, in meinem Leben noch nie eine wirkliche Entscheidung getroffen zu haben, und erwähnte dies in einem Telefonat mit meinem Vater. Er nannte mir zahlreiche Gegenbeispiele, doch waren das allesamt keine Entscheidungen des Herzens. In den Wochen der Regenerierung freute ich mich wie ein Neugeborener über jede Aktivität, die ich körperlich wieder bewerkstelligen konnte. Das Schicksal hatte es ohnehin gut mit mir gemeint, dass ich in diesen Wochen nicht allein leben musste und meine liebevolle Freundin zu Gast war. Doch es sollte noch Monate dauern, bis ich körperlich wieder stabil war. Und bis heute fühle ich mich nicht auf dem gleichen Niveau wie zuvor.

      Ein erster Versuch, wieder zu arbeiten, hatte direkte Auswirkungen auf meine Abwehrkraft und zwang mich erneut zur Pause, doch im zweiten Anlauf schaffte ich es – langsam, aber sicher. Wie konnte Lesen auf einmal so anstrengend sein? Was für ein Kräfteverhältnis, nach vier gelesenen Seiten eine halbe Stunde Pause einlegen zu müssen! Ich spürte viel Lust, wieder voll einzusteigen, doch mein Körper bestimmte das Tempo.

      Als mein 30. Geburtstag anstand, reiste meine Familie aus Deutschland an. Wie aber sollte ich feiern? Am meisten Sorgen bereitete mir die Gästeliste, ein selektierender, öffentlich zu sehender Vorgang, der mir schon als Kind Unwohlsein bereitet hatte. Wollte ich wirklich alle unterschiedlichen Welten, in denen ich lebte, zusammenführen? Mit nur wenigen Ausnahmen entschied ich mich dafür und feierte groß und festlich. Später lernte ich, dass die Einstellung, Bereiche des Lebens in verschiedenen Schubladen unterzubringen, die voneinander im Regelfall nichts erfuhren, meinem Typ entsprach.

      Kurz nach meinem Geburtstag flogen meine Familie und meine Mitbewohnerin wieder nach Deutschland, auch meine engsten Freunde kehrten nun dorthin zurück. Ohnehin sollte zu diesem Zeitpunkt ein großer Exodus meinen lokalen Freundeskreis dezimieren, womit meine zuvor wichtigsten Stützen unwiderruflich wegbrachen.

      Kriegserklärung

      Meine Krankheit, so spürte ich, war keine normale, sondern wie sich später herausstellte, der evolutionäre Moment meiner Selbsterkenntnis; eine Art von Berufung, mich bewusst mit dem eigenen Seelenzentrum auseinanderzusetzen. Die Nähe zum Tod, gleichsam das Bewusstsein des Todes, war das einzige Medikament, die einzige Heilmethode, um das Bewusstsein des Lebens zu reanimieren, und die Wochen der wortwörtlichen Rekreation wären vergeblich gewesen, hätte nicht das Leben bereits die nächste Szene des Theaterstücks, dessen Hauptakteur ich selbst bin, vorab geplant. In der empfundenen weiten Leere, diesem kraftlosen Nichts, stellte mich das Leben vor die nächste und wohl größte Prüfung. Kaum hatte ich ein Fenster meines Elfenbeinturms geöffnet, wehte draußen kein Frühlingslüftchen, sondern stürmte ein Orkan und das einmal geöffnete Fenster ließ sich nicht mehr schließen. Nicht als Bach wollte das Wasser ins Meer einlaufen, sondern als weites, mächtiges Delta. Ich wurde Teil der Empirie für die „Doktorarbeit Leben – Dr. rer. vit.”, also eines Themas, das sich zuvor nie aufgedrängt hatte. Mein Leben war im Begriff, erneut zu zerreißen. Doch nicht mehr körperlich, wie wenige Wochen zuvor, sondern geistig: Meine innere Parallelwelt kollidierte unausweichlich mit der Realität. Auslöser war eine SMS von Tao, den ich wenige Monate zuvor kennengelernt hatte. So direkt hatte ich diese Frage niemals zuvor gehört: Ob ich mir vorstellen könne, ihn zu „daten“.

      Was sollte ich antworten? Die SMS stand im diametralen Gegensatz zu allem, wie ich mir mein Leben vorstellte. Was ich bislang im Sinn hatte, war, die Traumfrau fürs Leben zu treffen, und bitte gleich im ersten Anlauf. Ein Date mit einem Mann? Vielleicht sogar eine Beziehung aufbauen? Nie hatte ich einen Gedanken an einen Prozess verschwendet! Wie funktioniert das überhaupt mit der Anbahnung? Ganz zu schweigen von Verlauf und Trennung. Ein Kollege empfahl mir einst, erst mindestens sieben oder acht Freundinnen zu „probieren“, um zu wissen, was ich wolle und welche die richtige sei. Und eine Freundin erzählte, sie habe bei manchen ihrer Beziehungen