Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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sei.

      Es blieb indes die Frage, ob eine positive Antwort meinem Alleinsein vielleicht ein Ende setzen könnte. Außerdem verlangte mein Verstand nach Definitionen und Fakten. Was genau meinte er? Wie lange war er noch vor Ort? Auch: Hatte er ein vergleichbares Gehalt? Doch vor allem beschäftigte mich eines: Wie sollte ich sein beharrliches „Warum nicht?” beantworten? Ihm und nicht zuletzt mir selbst gegenüber.

      Während eines Wochenendausflugs mit Freunden war ich mit dem Ennea­gramm in Berührung gekommen. Hier hoffte ich nun Antworten zu finden und analysierte mit Feuer und Flamme meinen und daneben auch gleich Taos Typ, das Atmosphärische wurde somit einer vom Verstand kontrollierten Analyse unterzogen. Mich selbst betreffend, kam ich zu dem Urteil, dass ich bislang am ehesten einer Sieben, einem „lustigen Entertainer und Optimisten“, glich und vor allem wohl auch so wahrgenommen wurde. Doch emo­tional spürte ich, war ich eigentlich eine Fünf, der „Beobachter und Denker“. Hier tauchte ein weiteres Stück des Puzzles auf: Mir wurde bewusst, dass ich einen vollends entgegengesetzten Typus gelebt hatte! Und das hatte mich körperlich ruiniert, weil es meiner Schöpfung widersprach. Ich hatte doch tatsächlich probiert, einen anderen Grund zu legen als den, der gelegt ist – und damit auf Sand gebaut. Für Fünfen, so hieß es, von Gefühlen getrennt und nach persönlichen Beziehungen hungernd, sei es nicht unnormal, viel Zeit und Mühe damit zu verbringen, ein intellektuelles Band zurück zum eigenen Menschsein zu finden. Weil sie ihren Verstand in den Mittelpunkt ihres Daseins gerückt hätten, versuchten sie, diese Verbindung durch Modelle, Systeme, die allgemeingültige, universelle Prinzipien der Interaktion und insbesondere des menschlichen Verhaltens erklären, herzustellen. Für Fünfen sei es charakteristisch, dass sie sich zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Gefühl verpflichteten (Palmer).

      Tao hingegen war meiner Recherche nach tatsächlich eine Sieben und verkörperte somit das Ideal, den Mustermenschen, dem ich noch immer hinterher hing: Ich beneidete ihn um sein Wesen, wie tief er in sich ruhte, zufrieden und rundum ausgeglichen. Sehnsucht danach, ebenfalls über ein solches Gemüt zu verfügen, kam in mir auf – ein Ziel in unendlich weiter Ferne.

      Siebenen und Fünfen ergänzen sich und sind reziprok. Was der eine nicht hat, bringt der andere mit. Während die Fünf auf der positiven Seite Tiefe, Beobachtungsschärfe, objektive Urteilskraft, Unabhängigkeit, Autarkie und oftmals einen skurrilen Humor mitbringt, sind es bei der Sieben Flinkheit und Spontanität, von einen auf den anderen Moment etwas zu beginnen, sei es eine Theaterkarte zu buchen oder die Möbel in der Wohnung zu verrücken. Siebenen sind unabhängig, obwohl sie gerne Menschen um sich haben, mit denen sie Spaß und ein stetiges Streben nach Freude teilen. Sie sind großzügig, extravagant, optimistisch, gesellig, aus sich herausgehend auch gegenüber Fremden, oftmals der Angelpunkt von Feiern. Fünfen sind dagegen privat und ruhig im Umgang mit Fremden, obwohl sie auch sehr lustig sein können, wenn sie sich sicher fühlen und die andere Person besser kennen. Fünfen geben Siebenen Tiefe, Seriosität, während sie umgekehrt lernen, Neues auszuprobieren und mehr soziale Kontakte zu knüpfen. Kurz ausgedrückt, liegt hier eine gegensätzliche, aber sich ausgleichende Konstellation mit abweichenden Vorstellungen über das Leben vor, auch bezüglich der Frage, wie man sich am besten selbst realisieren kann. Fünfen sagen: „Das Leben ist kurz, erwarte nicht zu viel“, Siebenen: „Das Leben ist kurz, versuche alles“.

      Bald formulierte Tao die Hoffnung, dass ich ihn eines Tages voll Vertrauen und Offenheit so lieben könnte wie er mich, dass mein Entkommen aus dem Alleinsein nicht der einzige Grund unseres Zusammenseins bliebe und ich mich nicht erneut verschließen würde. Was erwartete er? Woher sollten denn auf einmal solche Gefühle kommen? Mein Leben hatte bis dato aus Büchern bestanden, und meine Emotionen waren nicht mehr als ein zu studierendes Phänomen in diesem Forscher- und Beobachterdasein. Unter anderem hatte ich ein Lexikon gestartet, in dem ich alle Gedanken mit Datum unter bestimmten Stichwörtern sortierte. So konnte ich bei Bedarf nachschlagen, wozu ich mir welche Gedanken gemacht hatte und wie sich diese eventuell wandelten. Mir war dabei bewusst, dass Emotionen zwangsweise kalt und geerdet erscheinen mussten. War ich in diesen Belangen wirklich unfähig? Teilte ich nicht eher mit Balzac die Furcht vor dem eigenen Ungestüm, mit Tolstoi vor dem Übermaß der eigenen Blutüberfüllung? Als Tao kurze Zeit später für drei Wochen ins Ausland flog, fühlte ich mich allein und wünschte, er wäre da.

      Ehe ich mich versehen konnte, war er bei mir eingezogen, und damit beendete ich nicht nur mein Alleinsein, sondern ließ mich von der Realität überrennen. Zwar zog ich alle Register eines Menschen mit Beziehungsangst, provozierte und testete, wie weit ich gehen konnte, doch mein auf Distanz ausgelegtes Weltbild zerbrach: Ohne Grenze fiel das zuvor Gegenüberstehende in mich hinein und fusionierte mit mir. Die Diskrepanz ging verloren, und mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, Informationen stimmig zu verarbeiten: Wieder einmal von einem Extrem ins andere. Ließen sich Extreme auf der einen Seite nur durch Extreme auf der anderen kompensieren?

      Mein Inneres war zugleich zerrissen und wie eine stark befestigte Burg mit vielen Mauern umgeben. Versuchte jemand einzudringen, dann ergänzte ich den Wall und fühlte mich in meiner Stärke bestätigt. Doch was beschützte diese Burg? Innere Leere? Und aus den Luken schoss ich mit Kanonen auf Spatzen und sah den Balken im eigenen Auge nicht, dass meine Mauern mein emotionales Wachstum erschwerten oder verhinderten. So kritisierte ich Tao für Begebenheiten seiner Welt, mit der er im Einklang war und die ich selbst nicht nachempfinden konnte. Zeigte sich in dieser Kritik nicht vielmehr meine eigene Unvollkommenheit? Nach all dem, was ich ihm in jenen Wochen vor die Stirn schleuderte, war es ein Wunder, dass er mich nicht fallen ließ. Ein weiteres Indiz, dass gerade er und nicht ein anderer Mensch zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben auftauchen sollte. Ein rebellischer Verstand versuchte sich im Dolchstoß und setzte alles daran, wieder allein zu sein und den Fokus von Herz und Seele abzulenken – wohl aus Angst, dass ich aufdeckte, was der wahre Grund meines und seines Verhaltens war: fehlende Selbstliebe. Hier lag der zentrale Machtkampf mit mir selbst. Verlor ich ihn, hätte der Verstand weiterhin die Oberhand, lernte ich Gefühle, würde ich ein vollständig neuer, glücklicher Mensch, mein Körper würde gesunden, und die alte Herrschaft wäre Geschichte.

      Die Kriegserklärung meinem Verstand gegenüber war ausgesprochen, und ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich soweit wie möglich das Gegenteil von dem tun musste, was er sich wünschte, ich musste ihn dehnen und foltern, bis er in seinem persönlichen Waterloo kapitulieren würde. Wie ein Hase würde er durch die Buxtehuder Heide rennen, vom Igel verschmitzt mit „Ick bün al dor!“ begrüßt, und schließlich bei der 74. Revanche erschöpft zusammenbrechen. Ein für allemal hieß es, den königlichen Höhenflug des Spatzen im Adlerkostüm zu beenden. Ich musste mit der Zerstörung dessen, was ich früher für meine Persönlichkeit hielt, fortschreiten. Ohnehin war das, womit ich mich früher fraglos identifiziert hatte, schon tot. Doch unterschätzte ich naiv die Stabilität meiner alten Sinnstrukturen. Dabei spürte ich, dass mein Geist keinem Kleingewehrfeuer erliegen würde, sondern dass hier schwerere Geschütze aufgefahren werden mussten, um den Granitbunker zu sprengen.

      Meine strikte Ablehnung damals auf Taos Frage per SMS lag vor allem in mangelnder Selbstliebe und geringem Selbstwertgefühl begründet, das typisch ist für narzisstisch Verwundete, die sich in der Tiefe nicht annehmen können und Schwierigkeiten haben, sich mit sich selber identisch zu fühlen und der eigenen Identität habhaft zu werden. Dies Phänomen war das erste, wonach ich im Internet suchte – meine Intuition hatte mich zum Kern geführt: Wie sollte ich Liebe geben, wenn ich sie für mich selbst nicht spürte? Und wie sollte ich Liebe annehmen für eine Existenz, die ich nicht als liebenswert erachtete?

      Was für ein seltsamer Mensch, so dachte ich, war Tao, der mir so viel Liebe schenkte, nicht mehr von meiner Seite wich, im Urlaub Postkarten schickte und mir riet, weder mich noch die Welt zu hassen! Ich müsse mich lieben und akzeptieren, so wie ich sei. Was gäbe ich dafür! Während in der Bibel die Rede davon ist, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, wirft ein Blick auf die Gesellschaft und das niedrige Niveau an Nächstenliebe die Frage auf, wer sich denn selbst liebt. Das scheinen ja die wenigsten zu sein! Aber wie kann man dann anderen Liebe geben? Das Bibelgebot, diese Gleichung, klingt so leicht, aber sie geht sehr schwer auf. Leider war ich einer von denen, die dies beweisen. Nie hatte ich so sein wollen, wie ich bin, und habe stets etwas Neues zum Ablehnen gesucht. „Mein Herr“, schreibt Goethe in Wilhelm Meister, „wie selten ist der