Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


Скачать книгу

wie Wunder-schön es ist, erlöst von vielen Ängsten mein Leben jenseits des zu Verstehenden zu gestalten und mit dem Gefühl des Angekommen-Seins in mir selbst wahrhaft, frei und in aller Normalität aus dem Vollen zu schöpfen.

      Rekonstruktion einer Selbstdemontage

      Mit dem Einreichen meiner zweiten Dissertationsschrift hatte ich sämtliche mir selbst gesteckten Ziele erreicht, vor allem den Abschluss dieser Promotion mit 29 Jahren. Bereits Monate zuvor suchte ich ein neues Ziel ins Auge zu fassen, doch vergeblich. Eine Lähmung nahm von mir Besitz, das Gefühl, mich dem Bermudadreieck zu nähern, ohne ausweichen zu können, gefangen in einer Traumastarre, die nicht mehr von mir weichen wollte und an die ich ständig erinnert wurde, wenn mir Freunde viel Glück und Erfolg bei der Erreichung meiner Ziele wünschten. Doch: welche Ziele? Der Schlussakkord in meinem Wunschkonzert war längst verklungen. Selbst die Publikation der Ergebnisse meines spannenden Forschungsthemas reizte mich nicht mehr.

      Der Kontakt zu meinem „inneren Kind“ (Chopich/Paul), d. h. zu meinen innersten Gefühlen, war insgesamt denkbar schlecht. Ein bekanntes Sprichwort abwandelnd, hatte ich in meiner Seele weniger Träume, als die Realität zerstören konnte. Ein Freund, der eine nachahmenswerte Karriere macht, mahnte: „Phillip, Du musst Dich nun langsam entscheiden, wie Du beruflich und im Leben fortschreiten willst!“ Was also wollte ich lernen, worin wachsen? Was sollte ich wählen? Zwar war ich überzeugt, dass ich mich in das meiste einarbeiten könnte, und natürlich gab es für den einen oder anderen Bereich Präferenzen, aber vor Langeweile war man nirgendwo gefeit. Und den Glanz einer exponierten Führungsposition in der Wirtschaft – für viele segensreiches Utopia, nach dem jeder in diesem Bereich Tätige strebt, um seinen Erfolg zu krönen – empfand ich als pure Oberfläche. Passte das von meiner Veranlagung überhaupt zu mir? Die Zukunft müsse doch vielmehr etwas Neues, Erfüllendes, Anspruchsvolles und Auslastendes bringen! Die meisten Menschen machten sich anscheinend gar keine Gedanken, wer und was sie sind, was doch eigentlich Bedingung für die sinnvolle Beantwortung der Frage sein muss, wer und was sie werden können. Stattdessen verrennen sie sich einzig in die Frage, was sie sein wollen. Doch mich quälten grundlegendere Sorgen: Wozu sollte ich mich dieser Welt noch mitteilen? Mein Interesse an der Welt reduzierte sich zunehmend. Während sich in meinem Leben bislang Zeichen an Zeichen aneinandergereiht hatten, einer Fackelübergabe in einem Geschwindigkeitslauf vergleichbar, war auf einmal Funkstille.

      Mich so weit wie möglich von der quirligen Umgebung der chinesischen Metropole Shanghai entfernend, in der ich seit mehreren Jahren lebe, begab ich mich im Herbsturlaub in der Leere Bhutans in Klausur, um in Ruhe nach innen zu horchen. Wie sich herausstellte, eine passable Methode, mit der schon Rilke auf Capri gute Erfahrung gesammelt hatte. Mithilfe eines „Emotionalogramms“, der Gegenüberstellung, wie mein Seelenzustand zu verschiedenen Zeitpunkten meines Lebens ausgesehen hatte und was für Gründe dafür infrage kamen, wollte ich Ziele für meine private und berufliche Weiterentwicklung ableiten. Dieses erste Antasten deckte zentrale Defizite auf, woraus sich direkt Wünsche und zielführende Schritte ergaben, und in mancher Hinsicht könnte ich nun direkt ins Endkapitel springen. Im Nachhinein wirkt vieles, was noch kommen sollte, wie von unsichtbarer Hand wunderbar choreographiert, dem aber eine andere Methode, als ich sie im Sinne hatte, zugrunde lag, um die mentale Weite, die ich in den ausgestreckten Tälern des buddhistischen Königreichs gespürt hatte, auch in der gelebten Shanghaier Enge zu realisieren.

      Das Leben erschien mir wie ein Koffer, mit dem ein jeder von der Geburt bis zum Tode reist. Jeder Mensch hat einen, manchmal aber auch einen fremden. Und ich hatte plötzlich Zweifel an meinem Reisegepäck, den unaufgelösten, verdrängten „Requisiten des Kindheitsdramas“, wie es Miller in ihrer altachtundsechziger Ausdrucksweise nennt, durch die ich im Grunde ständig bestimmt würde und die anscheinend in einer mir verborgenen Kammer die Jahre überdauert hatten. Schon Goethe hatte erkannt, dass die „jugendlichen Eindrücke“ nie verlöschen und wir ihnen eine gewisse Anhänglichkeit nie entziehen können.

      Auch spürte ich, dass mich die ständige Sorge um die Harmonie der Welt selbst aus dem Gleichgewicht brachte, mir schadete, mich zersetzte und unzufrieden machte. Nun also wollte ich die Blauhelmmission beenden und das machen, was mir wichtig war. Ich wollte die eigene Meinung öfter äußern und Auseinandersetzung und Konfrontation nicht scheuen. Ruhte ich in mir, so mein Gedanke, könnte es mir gleichgültig sein, was andere über mich dachten, und ich bräuchte nicht mehr mit Menschenfurcht durch die Welt zu laufen. Auch Stress sowie nervöse körperliche Symptome, vor allem angesichts der Frage, wie ich mich in welcher Situation verhalten sollte, würden zurückgehen. Und im Umgang mit anderen wäre ich nicht mehr viele, sondern nur noch einer. Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Verstecken und Tiefstapeln sollten ein Ende haben. Ich suchte erquickenden Kontakt mit Menschen, die mir ähnelten und mit denen ich gemeinsam aus dem Kelch der Normalität trinken durfte! Anstatt in einem Sicherheitstrakt mit niedrigem Selbstvertrauen zu leben, wollte ich entgegengebrachtes Lob annehmen dürfen. Ich wollte mehr selbst entscheiden, nicht mehr anderen die Wahl überlassen oder ständig aus kontroversen Strömungen eine konsolidierte allgemeingültige Synthese ableiten.

      Ganz allgemein nahm ich mir vor, stärker in der Gegenwart zu leben und zukünftige Situationen weniger im Voraus zu durchdenken. Dabei spürte ich einen unbändigen, atemberaubenden Antrieb in mir. Nichtsdestotrotz wollte ich in Zukunft Langsamkeit lernen, ruhiger werden. Es konnte nicht besonders weise sein, ständig Sprintgeschwindigkeit beizubehalten, ich wollte nun, das Ziel am Horizont vor Augen, jeden einzelnen Schritt langsam vor den nächsten setzen. Mit mehr innerer Ruhe vermochte ich es vielleicht, Türen nach dem Abschließen nicht noch unendliche Male krankhaft zu kontrollieren, Gleiches galt für mehrere Wecker und Lichtschalter vorm Schlafengehen, für Elektrogeräte, Wasserhähne, Kerzen, selbst Schranktüren beim Verlassen der Wohnung. Zeitweise rückte ich noch Lampenschirme und Handtücher zurecht. – Ich war mir selbst die Behinderung beim Fortschreiten. Innere Unsicherheit manifestiert sich in äußerer Unsicherheit. Die Zeichen waren überdeutlich. Innere Widersprüche wollten sich nicht weiterhin durch Kompromisse beruhigen lassen. Ich nahm mir vor, gelassener zu werden, mehr als gegeben hinzunehmen und meine Pedanterie zurückzufahren. Es beschwerte doch mehr, als es half, mich meiner Unzufriedenheit zu erleichtern und meinen Körper mit positiver Energie zu fluten.

      War mehr Sport ein schmackhaftes Rezept? Doch wie sollte ich mich entscheiden, wenn das Interessenpendel zwischen Meditation und Kampfsport schwingt, der Verstand mich mit Neuem zu motivieren versuchte, doch der Körper lustlos abwiegelte? Oder sollte ich mich wieder verstärkt meinen Musikinstrumenten widmen? Mich der Forschung, dem Fluss des Schreibens hingeben? Vielleicht könnte ich meine Energie auch im Rahmen eines Engagements in der Gesellschaft einbringen? Mehr Fragen als Antworten machten mich niedergeschlagen, das lange Warten auf Zeichen deprimierte mich, und Freunde begannen sich Sorgen zu machen, auf welcher Sparflamme mein Lebenssinn loderte. Wie ein Schiff ohne Motor schwappte ich ziel- und orientierungslos im offenen Meer und hoffte auf einen Seenotkreuzer. Ich hielt es für „Not-wendig“, meiner Vorgesetzten mitzuteilen, dass mir meine Tätigkeit langweilig sei, doch sie konnte dies nicht nachvollziehen. Das Gespräch glich einem Tennisspiel: Jeden Ball, der als Einwand über das Netz auf meine Seite flog, retournierte ich mit einem „Aber”. Impulsiv und sichtlich gereizt erwiderte sie schließlich: „Unterlassen Sie endlich diese Einwände, Herr Walter!“ Auch meine Eltern fanden es unverständlich, wie ich bei den Projekten, von denen ich berichtete, von Unterforderung sprechen konnte. Doch ich unterschied zwischen körperlicher und geistiger Anstrengung.

      Nicht beachtetes intrinsisches Engagement wirkt sich indes destruktiv aus. Ich fühlte mich ausgebremst, reduziert und so unter Potenzial eingesetzt, dass ich an manchen Tagen am liebsten von der Arbeit nach Hause gefahren wäre, um mich mit Sinnvollerem zu beschäftigen. Das Gefühl, nicht gebraucht und ignoriert zu werden, wenn Fragen zu schnell korrekt beantwortet wurden, ließ mich wie ein U-Boot untertauchen und auf bessere Zeiten hoffen. Hatte ich unerreichbare Ideale, indem ich ständig einen intellektuellen Kick erhoffte? Suchte ich quasi spirituelle Erfüllung durch meine Tätigkeit? Doch das schrittweise Annähern an eine Vision wurde täglich durch Bürokratie und zeitraubende Sitzungen korrumpiert. Vielleicht liebte ich allein ein Kraft zehrendes Überführen von Chaos in Strukturen, doch nicht mehr das Arbeiten innerhalb derselben? Ließ sich meine Langeweile etwa nicht allein durch Unterforderung und Demotivation begründen,