Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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ich selbst, sondern andere waren also der Maßstab dafür, wie ich leben wollte. Und wenn man sich in allem anders wünscht, dann ist das Gegenteil von dem, wie man ist, das Ideal des stilisierten Normalen (Abstriche erfolgten zum Glück dort, wo ich andere ebenso wenig für normal hielt, etwa bei Menschen, die mir erzählten, wo es die besten Frauen gebe, wie viele sie auf einmal gehabt hätten und eine Auflistung der Nationalitäten folgen ließen). Wie ein Chamäleon versuchte ich mich anzupassen und ließ mich von Menschen beraten, die mein Ideal repräsentierten, mochte dies bei der Einrichtung meiner Wohnung oder bei der Auswahl meiner Kleidung sein. Heute bin ich erschrocken über mich selbst, doch zum damaligen Zeitpunkt hatte das falsche Selbst mein wahres Ich so weit verleugnet, dass ich mich sogar in meinem Freundeskreis umschaute, wessen Leben ich kopieren könnte. Ich war Feuer und Flamme für Menschen, die „meinen“ Traum realisierten, und wie erbost war ich, wenn andere sich kritisch über diese Menschen äußerten.

      Dieser Identitätsdiebstahl war ohne mein Wissen vonstattengegangen. Auch kam ich mir gar nicht angepasst vor – bis der Hahn zweimal krähte und mir zwei Menschen unabhängig voneinander den Spiegel vorhielten und am Fundament meines Kartenhauses rüttelten. Simple Aussagen wie „Du musst doch wissen, was Dir gefällt, Phillip!“ irritierten mich und machten mich bisweilen ärgerlich. Oder „Hör auf, an andere zu denken und Verantwortung für deren Gefühle zu übernehmen!“ Je unnachgiebiger der Appell, nach eigenen Antworten zu suchen, umso mehr wusste ich, dass sie recht hatten und ich das Leben anderer nicht weiter kopieren konnte. Ich musste es selbst wissen – doch wie? Stellte das Leben hier eine Frage an mich, oder war ich die Frage an das Leben? Vielleicht sollte die Herausforderung, hierauf eine Antwort zu finden, der Sinn meiner Existenz sein.

      Der Grad der im Inneren empfundenen gelingenden Anpassung widersprach im Grunde diametral den nach außen sichtbaren Manifestationen Widerstand, Auseinandersetzung und Konfrontation. Was sich vielleicht nicht selten dahinter verbarg, war Angst. Angst vor Nähe und Bedacht auf Distanz als zentrale Merkmale narzisstischer und schizoider Menschen, denn sie dienen ihrem dünnhäutigen und chronisch misstrauischen Wesen als Selbstschutz und begründen sich letztlich in einer richtigen Einschätzung der eigenen Verwundbarkeit, sprich der Angst vor drohender Fragmentierung ihres Ichs, dem Gefühl auseinanderzufallen. „Eintracht im Innern, Friede nach außen“, heißt es in lateinischer Version auf dem Lübecker Holstentor, das früher auf den 50-DM-Scheinen abgebildet war. Wenn man stärker mit sich im Einklang ist, dann ist die Reaktion anderer zweitrangig. Oder umgekehrt: Je schlechter der Zugang zum emotionalen Zentrum, umso stärker die Kopflastigkeit und die Anpassung an kollektive Werte.

      Der Versuch, neutral und ohne anzuecken durch die Welt zu gehen, verlangte von mir indes besondere Stärke oder war zum Scheitern verurteilt. Mit Pseudonymen und getrennten Rufnummern hatte ich in nur wenig Zeit ein Kontaktnetzwerk neben dem beruflichen aufgebaut. Doch in mir hörte ich Stimmen, die fragten, wie ich in meinem Alter ein so exzessives Nachtleben haben könne. Ob dies zu dem beruflichen Image passe? Konnte ich mit solchem Lebenswandel noch als Vorbild gelten und ein Team leiten? Akteur mehrerer Welten, versuchte ich mit horrendem Energieaufwand, diese parallel zu halten – ein unmögliches Unterfangen und Zeichen größter Lebensfremdheit. Wie naiv war es, zu glauben, in dieser kleinen Welt ließen sich menschliche Netzwerke perfekt trennen! Schnell bekam ich zu spüren, dass zu jedem meiner One-Night-Stands ein Mensch gehörte, ein fühlendes Wesen mit Emotionen, Verletzlichkeit und eventuell sogar der Hoffnung auf eine feste Beziehung, während ich schlicht nicht mehr an Einsamkeit leiden und Fürsorge erhalten wollte. Ab und an kam ich mir vor wie in einem Rollenspiel, und jede einzelne Rolle spielte ich mit Präzision und Empathie.

      Doch wollte ich die andere Seite kennenlernen, musste ich lernen, mich emotionalen Schmerzen nicht weiter zu verschließen. Und so ließ ich im Spiel mit dem Feuer Zuneigung zu, kalkulierte allerdings, dass sie zeitlich begrenzt und somit meinem Sicherheitskonzept nicht hinderlich war. Nichtsdestotrotz war der Abschied schmerzhaft, drückte mich wie von mächtiger unsichtbarer Hand nieder und hinterließ neben einem Brief ein Lied, das ich wieder und wieder in meinem Leid hören wollte. Am selben Tag fand die jährliche Vertriebstagung statt. Erschöpft von einem Überangebot an Eindrücken, das ich prophylaktisch mit Baldriantabletten zu benebeln versucht hatte, sowie dem Karaoke bis tief in die Nacht und einer mehrfach medikamentös unterdrückten Erkältung, sollte mein Körper noch immer keine Erholung erhalten, obschon in kaum einer Ader noch Kraft floss.

      Wie sehr freute ich mich auf meinen mehrmonatigen Besuch aus Deutschland, den ich erwartete. Besuch war für mich oft auch eine Weise, um zu verhindern, dass ich noch eingefahrener lebte. Denn Schrullen, wie ich sie bei Alleinstehenden zu oft beobachtete, wollte ich mir nicht zugestehen. Besuch hieß, ein Eindringen in den Elfenbeinturm bewusst zuzulassen. Doch in diesem Fall war es anders. Wie stark fühlte ich die Sympathie und die Energie nach, die seit dem ersten Moment der Begegnung vor einem Jahr floss! Obwohl meiner Erkältung mit Medikamenten nicht mehr beizukommen war, ging es nur eine Nacht später für einige Tage gemeinsam auf Reisen, und gegen Ende zu den Ausläufern des Himalaya auf über 3 300 Meter, wo wir auf einem sportlichen Rundgang in dünner Luft die lokalen Sehenswürdigkeiten erkundeten, sodass ich abends von paralysierenden Kopfschmerzen heimgesucht wurde, die mich im Sinne des Wortes bewegungsunfähig machten. Am nächsten Abend zurück in Shanghai, hörte ich meine innere Stimme immer kräftiger insistieren, ich solle nicht mehr ausgehen, doch irgendwo hatte ich noch letzte Kraftreserven. Von diesem Zeitpunkt an dauerte es nicht mehr lange, bis mein Gesicht dunkelgelbe Farbschattierungen bekam – und darüber hinaus meine engsten Freunde mir ihren abrupten Wegzug mitteilten, was mich emotional so sehr mitnahm, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben krank meldete. Jahrelang war ich stolz gewesen, noch nie krank gewesen zu sein, ein Soldat am Arbeitsplatz. Dieser Nimbus ward Geschichte. In der Zwischenzeit hatte ich begonnen, Antibiotika einzunehmen – doch was war mit meinem Körper los? Tief in mir spürte ich, dass er mir die Folgsamkeit verweigerte, er nahm gleichsam die Kupplung raus, während ich weiterhin aufs Gaspedal trat: Als ich im Internet nach meinen Symptomen suchte und zahlreiche Krankheitsbilder durchforschte, sackte mein Kreislauf ab, zu stark war die Befürchtung einer Infektion aufgrund meines nachtaktiven Lebens (die allerdings – und das konnte ich mit Gewissheit sagen – unbegründet war). Doch mein Verstand trieb jede recherchierte Krankheit wie eine Sau durchs innere Dorf, ich reagierte immer aufgescheuchter, bis mir blümerant – bleu mourant – vor Augen wurde und ich mich schließlich, dem „ersterbenden Blau“ hingebend, kreidebleich und die Beine hoch, in einem gut besuchten Straßencafé auf den Boden legte.

      Noch einen letzten Gipfel galt es zu erklimmen, die letzte Kurve vor der Zielgeraden zu nehmen: In diesem desolaten und emotional zerrissenen Zustand flog ich zum runden Geburtstag meiner Mutter für drei Tage nach Deutschland. Hier nahm ich einen Arzttermin wahr, denn bis dato hatte ich trotz aller Auffälligkeiten noch keine Fachmeinung eingeholt. Doch die Dame in Weiß konnte nichts Sonderbares feststellen. „Herr Walter, ich gehe bei Ihnen von einer einfachen Grippe aus“, lautete schließlich ihre erfreuliche Diagnose. Müde und geschafft und wie vom Instinkt geleitet, offenbarte ich meinen Eltern, dass ich vorerst nicht beabsichtigte, eine Familie zu gründen, und eine Wohngemeinschaft für mich wohl das Richtige sei. Eine Ehe im Sinne einer lebenslangen Verpflichtung strebe ich nicht an, da ich nicht in der Lage sei, eine derartig einengende und für mich lebensfremde Form zu wählen. Ist die Zukunft eine Illusion, wie viel mehr noch die versprochene Liebe in der Zukunft. Die beunruhigten elterlichen Gesichter haben sich tief eingeprägt, doch im Nachhinein glaube ich, dass derartige Seelenschüsse wahrhaftig sind und nur darauf warten, sich zu bewahrheiten. Ebenso wie die Weisheit, im Fremden zum Eigenen zu finden. Nur äußere Distanz gibt die innere. Mein chinesisches Kulturumfeld, das unserem westlichen so entgegengesetzt ist, schien wie prädestiniert.

      Die Rückreise war sehr beschwerlich, ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten und vegetierte vor mich hin in der Flughafenlounge. Zurück in Shanghai, ging alles sehr schnell. Nachdem ich den Nachtflug überstanden hatte, fuhr ich noch direkt ins Büro, doch beim Gespräch mit Kollegen musste ich mich mittlerweile setzen und brachte kaum mehr lange Sätze ohne Anstrengung heraus. Eine SMS an die Ärztin meines Vertrauens, und am gleichen Abend hatte ich einen Termin. Der Zeitpunkt war gekommen: Meinem Körper, der 29 Jahre wie eine einwandfreie Maschine funktioniert hatte, ging der Motor aus. 22. März, 18:00 Uhr.

      Du kannst vor dem davonlaufen, was hinter dir her ist,