Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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um dorthin zu gelangen, bedurfte es einer Korrektur, wie folgende Sätze aus dem Film Phoebe im Wunderland darlegen: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt in deinem Leben, wahrscheinlich, wenn zu viele Jahre schon dahin gezogen sind, wirst du deine Augen öffnen und sehen, wer du wirklich bist. Insbesondere in Bezug auf alles, was dich von den furchtbar Normalen unterschieden hat. Und dann wirst du zu dir sagen: Aber diese Person bin ich. Und in dieser Stellungnahme, dieser Korrektur, wird eine Art von Liebe mitschwingen.“

      Ein Mensch, der für sich keine Emotionen empfindet, ist zu allem fähig und schreckt auch nicht davor zurück, sich Schmerzen zuzufügen. Ist das Innen tot, dann ist der Körper nur die äußere wertlose Hülle. Der gehinderte Lebensfluss in mir staute sich nicht nur an, sondern drängte wie ein Bumerang mit Gewalt zurück und nahm die Richtung der Selbstzerstörung. Schon in jungen Jahren hatte ich keine gesunde Einstellung zu meinem Körper, und besonders die Veränderungen während der Pubertät brachten keine Genesung. Wackelten Zähne, so zog ich sie über dem Waschbecken mit der Eisenzange raus, wobei ich ärgerlich wurde, wenn ich ausrutschte und meine Zunge oder die Wangenhaut schmerzte oder blutete. Ich hatte ein so distanziertes Verhältnis zu meinem Körper, dass ich in einer ärztlichen Konsultation um operative Eingriffe bat. Doch dazu kam es nicht, war ich für den Mediziner schließlich äußerlich vollends gesund.

      Mein niedriges Selbstwertgefühl drückte sich auch und vor allem in Essstörungen aus. Allein nach meiner ersten „Bestandsaufnahme“ in Bhutan hatte ich innerhalb von vier Monaten fast 15 Kilogramm durch willensstarkes Ignorieren des Hungergefühls und Nahrungsrestriktion abgenommen. Meine Hosen musste ich vier Nummern kleiner kaufen, diese Größe trug ich zuletzt, als ich 15 war. Regelmäßig, wenn ich mit mir unzufrieden war, stellte ich die Nahrungszufuhr ein, wobei sich bei längerer Dauer Probleme der Verträglichkeit häuften. Am Ende reagierte mein Magen auf fast alles empfindlich. Oder wenn ich voller Antrieb mit einer Aufgabe beschäftigt war, wie in der Endphase des Schreibens meiner Dissertation, dann ernährte ich mich buchstäblich von Literatur: Buchstabensuppe, geistreich, doch kalorienarm. Der Kühlschrank war leer, der Magen schmerzte, und nur der beherzte „Lieferservice“ einer Freundin brachte Abhilfe.

      In einer späteren Phase war es erneut Hesse, der mich aus geistigem Alleinsein befreite. Auch er habe sich selbst Gewalt angetan, und im Sid­dhartha spricht er von einem sich in die Geistigkeit verkrochenen Ich, das dort saß und wuchs, während er es mit Fasten und Buße zu töten meinte. Schaffer-Suchomel schreibt in Spuren unseres Menschseins in der Sprache, Magersüchtige seien „Mögen-Süchtige“. Der Magersüchtige wolle, dass man ihn liebt. Ein wesentliches Merkmal von Liebe sei Wachsen, Vermehren, also das Zunehmen, wobei die Magersucht die Umkehrung hiervon sei. Essen, so ergänzt Preiter, lege die Bedürftigkeit gegenüber dem Außen bloß. Ein weiterer Grund, es zu meiden. Es zeigt sich sehr deutlich, dass der Kopf hier den Leib töten wollte. Doch der Leib ist am Leben geblieben, indem er wie ein „Kaltblüter seine Temperatur gesenkt und seinen Lebensrhythmus reduziert hat“ (Schellenbaum).

      Dort, wo die Suche missglückt, hängt man in der Sucht. Und erneut ist der Zeitpunkt, an dem sie verstärkt auftrat, kein Zufall. Pure Selbstliebe hätte sich unter dem Regime des falschen Selbst gar nicht aufbauen können, denn die Seele ist intelligent und weiß, dass hier die Kopfliebe eines Diktators namens Verstand am Werk ist. Damit hätte man mich unter ganz falschen Vorzeichen geliebt, was keine glückliche Ausgangslage für eine Beziehung darstellen konnte. Und die Seele muss dies gespürt haben, sonst hätte ich Avancen nicht abgelehnt. Resistent. Immun. Doch interessanterweise gab es auch immer wieder Lichtblicke, in denen ich mich verliebt hatte und das harte Herz weich wurde. Auch wenn dies höchst selten vorkam und mir der Mut für offenbarende Folgeschritte fehlte. Heute frage ich mich, ob diese Gefühle echt oder Einbildung waren und nicht im Entmystifizieren des anderen das größte Interesse lag. Während der Tanzstundenzeit stellte ich sogar ein Foto auf dem Schreibtisch auf und erfreute mich daran, wenn ich Hausaufgaben machte. Nur: Das abgelichtete Mädchen wusste davon nichts. Typisch für eine Fünf im Enneagramm, die eine starke geistige Verbindung aufbauen kann, ohne dass die betroffene Partei weiß, wie zentral sie im Innenleben der Fünf ist. Und so ging es reihenweise. Manche innerlich gefühlte Beziehung – intellektualisiert und abstrakt, aber dadurch nicht weniger real –

       dauerte über Jahre, doch obschon in der Realität nichts ersichtlich war, hatten „Trennungen” oder wenn diese mentalen Partnerinnen mit anderen Jungen etwas anfingen, physische Auswirkungen. Gleiches galt, wenn ich eine geistige Abtreibung vornahm und die Luft aus dem mentalen Ballon abließ. Es ist Schicksal, dass die meisten heute glücklich verheiratet sind. Woher sollten sie damals wissen, was in meinem Kopf vorging? Und was war echt? Ein Verstand kann so gut wie alles denken und Theorien aufbauen, er ist emotionslos naiv und billig, was zu irrwitzigen Situationen führen kann. Wie als ich einem Freund eine Packung Schokolade mit Rosenmuster schenkte, als er krank war. Ich hatte die Packung selbst geschenkt bekommen und gab sie ohne Gedanken weiter – bestes Beispiel dafür, wie die Intention beim Sender und die Rezeption beim Empfänger grundverschieden sein können. Gott machte Witze mit mir, denn dieser Freund war Tao, der geschickt worden war, mein Leben aus den Angeln zu heben. Dass das Schicksal den Unbedachten gern einen Streich spielt, hatte ich prägend zur Zeit der ersten Schmetterlinge im Bauch erfahren: Beim öffentlichen Vorlesen des in Lettern gesetzten Flatterns durch den Lehrer und dem anschließenden gemeinsamen Rausschmiss aus dem Unterricht.

      Irgendwann wurde ich hart und herzlos gegen mich und auch gegenüber den Menschen, die mehr als Bekanntschaft erhofften. Ich war kalt, emotionslos, tot, Gefühle wurden durch den Kopf gesteuert. Ich lehnte mich ab – alles oder nur Teile? Nicht lieben zu können war am Ende identisch mit nicht zu sein. Im Rückspiegel sehe ich manch eine schmerzende Erinnerung, doch der Fuß auf dem Gaspedal war aus Blei. Ich hatte mich soweit von Emotionen entfernt, dass ich selbst eine liebe Freundin nicht umarmen konnte, als sie einmal in Tränen ausbrach. Dabei war und ist sie ein so bedeutender Mensch für mich. Heute fühle ich mich abscheulich, wenn ich daran zurückdenke, dass ich mich in dem ABBA-Lied The Name of the Game wiederfand: „I was an impossible case, no one ever could reach me.“ Später fand ich viele Gespräche im Rahmen von Rendezvous sehr langweilig und stellte mir vor, was ich in der Zwischenzeit alles hätte machen können.

      Im Grunde ist es gefährlich, wenn Emotionen intellektualisiert werden. Es erstickt aufkeimendes Leben im Kern. Osho formulierte es in seinem Aufsatz „Weißt Du wirklich, was Liebe ist?” noch drastischer: Die Liebe, die aus dem Ego kommt, sei absolut unecht und gefährlicher als der Hass. Denn der Hass sei unmissverständlich, unmittelbar und unkompliziert, aber Liebe, die mit einer Maske auftrete, sei schwer zu erkennen. Nicht meine Gefühle, sondern der Verstand musste dann überlegen, was andere in dieser oder jener Situation machten. Zwangsweise erfolgte der Blick nach außen, und jeder weitere Schritt war Kopie. Doch gute soziale Anpassung von frühester Kindheit an und die Herausforderung, sich selbst nicht fühlen zu müssen, sind keine Wahl, sondern eine Überlebensstrategie, um mit dem Selbstverlust fertig zu werden (Asper).

      Gleichzeitig ahnte ich, dass Menschen mit emotionalem Richtungsweiser klar im Vorteil waren. Doch wenn dieser überlagert wird, dann fehlt eine wichtige Orientierungshilfe. Wie konnte ich Herz und Verstand voneinander unterscheiden? Mir fehlte der Zugang zu meinen wahren Gefühlen, die Fähigkeit, mit Irrationalität umzugehen, und der Mut, mich nichtsdestotrotz damit auseinanderzusetzen. Dies ist sprachlich gesehen vielleicht wenig verwunderlich, steckt doch im Wort Courage das französische cœur, Herz. Ich befürchtete Enge durch eine Entscheidung, zu sehr sah ich nur das Ergebnis, doch nicht den Prozess. Ich konnte Liebe – egal aus welcher Quelle sie strömte – nicht annehmen. Doch gleichzeitig stieg die Angst vor Menschen, die mich genauso behandeln würden wie ich sie. Mein Verstand hat viele verletzt, auch mich selbst. Heute lasse ich ihn bewusst leiden, und das kann ich mit Gewissheit sagen: Er leidet! War die gewählte Methodik richtig, um zu lernen, meine Kuhhaut zu lieben? Mehr und mehr weiß ich, wer ich bin, und das macht es einfacher zu wissen, was zu mir passt. Das war vorab niemals möglich.

      Ich hielt mir Menschen auf Distanz, dies drückte sich auch in meiner Sprache aus. Mathematisch könnte man es mit x-1 benennen: Für Menschen, die mich umgaben, verwendete ich nie den Ausdruck „Freund“ oder „Freundin“, immer sprach ich von „Bekannten“. Waren andere in einer Partnerschaft, hieß es bei mir Freundschaft oder Zusammenleben. Während andere den Ausdruck Liebe benutzten,