Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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Hinzu kam das Dilemma, dass ich meinen Berufsalltag durch die fehlende Balance im Privaten ohnehin überbewertete und mein falsches Selbst nur mittels Anerkennung seinen Durst löschte – anscheinend ein typisches Anzeichen narzisstisch Gestörter, die versuchen, Mängel in ihrer eigenen Kindheit durch Anerkennung, Lob und Bejahung von anderen Menschen ungeschehen zu machen. Und damit diesem Treiben endlich ein Ende gesetzt werden konnte, betätigte die Natur wundersam alle Hebel, ließ die Quelle versiegen und die Kehle aller Lechzenden austrocknen. Heute noch schaue ich voller Ehrfurcht auf den Prozess meiner Destruktion zurück, der mir wie von einer höheren Macht geplant und umgesetzt vorkommt.

      Die Vorbereitung auf die zweite mündliche Doktorprüfung unmittelbar im Anschluss an meinen Aufenthalt in Bhutan bot sich als dankbare Abwechslung an, doch ich hätte mich einer Illusion hingegeben, hier mehr als eine Parallelverschiebung zu erhoffen. Das Bore-out, ein unerträgliches Maß an Unterforderung, holte mich unmittelbar am Abend der erfolgreichen Disputation wieder ein. Aufgrund mangelnder Wertschätzung meiner selbst hatte ich sämtliche Anregungen zu einer Feier schon im Voraus unterdrückt, denn im Grunde manifestierte die Forschung nur einen erneut vergeblichen Versuch einer geistigen Auslastung, die zwar physisch anstrengend, aber nicht kompliziert war. Warum nur bedeuteten mir eigene Leistungen so wenig? Anscheinend fehlte mir eine emotionale Ordnung, um Befriedigung, Stolz und Freude am Erfolg wirklich fühlen zu können. Und als sei ich in den Wochen der Vorbereitung geistig verarmt, zog mich just an diesem Vorweihnachtsabend ein philosophisches Buch, eine Eloge über das Fade im Denken und der Ästhetik Chinas von François Jullien in ihren Bann. Wie bei einer Schnitzeljagd hielt ich damit eine weitere prophetische Botschaft in der Hand: Um zum Wahren vordringen zu können, müsse ich die Dualität der Dinge überwinden und die Mitte halten. Indem wir die Mitte bewahrten, vermieden wir es, auf einen einseitigen Standpunkt zu verfallen, der als solcher jede Möglichkeit, uns mit der Welt in Einklang zu bringen, vereiteln würde. So jedoch erlangten wir jene Neutralität, die für den großen stillen Lauf der Dinge unabdingbar sei und von der seine Selbstregelung und Stetigkeit herrühre.

      Zieleinlauf des falschen Selbst

      Die ersten Monate des neuen Jahres verliefen rasant, erst später sollte deutlich werden, dass ich mich auf einer „Flucht vor dem Ich“ befand, währenddessen die Demaskierung des falschen Selbst unaufhaltsam näher rückte. Im Nachhinein betrachtet, war diese Phase nicht mehr und nicht weniger als die Hinführung zum evolutionären Moment, dem Zusammenbruch meines Körpers zum Zeitpunkt stärkster Spannung, in dem die enge Nussschale, das Diktat, die Welt meines selbstherrlichen Verstandes explodierte und sich leere Weite wie die Ebbe nach einer Jahrhundertflut öffnete. Unwissend, in mangelnder Kenntnis all dieser Vorgänge, vielleicht auch sie ignorierend, steuerte ich in Richtung Exodus.

      Wie im Kinofilm Der Ja-Sager hatte ich mir in den Kopf gesetzt, keine Einladung mehr auszuschlagen, schließlich hatte ich die Pflege von Freundschaften während der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung hintenangestellt. Ich vergaß alles andere und behielt nur ein Wort: Ja. Und es prophezeite sich, was Osho einst gesagt hatte: „,Ja‘, und dein ganzes Wesen kann sich verändern. Es kann eine radikale Veränderung, eine Revolution bewirken.“ Damit begab ich mich – wie sollte es anders sein – von einem Extrem ins andere: Anstelle der Leselampe auf dem Schreibtisch brannten nun Scheinwerfer auf Schaubühnen. Zuvor hatte ich mich bei Abendessen mit Freunden wie in ein Gefängnis gesperrt gefühlt, in dem es kaum möglich war, der Reizüberflutung sowie meinem in Lichtgeschwindigkeit fliegenden Verstand zu entfliehen. Doch das Ende meiner akademischen Forschungstätigkeit glich einem Heißluftballon, der, einiger Sandsäcke entledigt, wieder an Höhe gewann. Ich weiß nicht, wann ich zuvor einmal innerlich so ruhig, so locker, so ganz ohne aufsteigende Hitze gewesen war. Das half, mein „zwischenmenschliches Programm“ zu absolvieren: Über Wochen war ich jeden Abend ohne Pause außer Haus, gab Stelldichein bei Bekannten, ehrenamtlichen Sitzungen und Feiern. Doch nicht genug, der Bogen war wohl noch nicht ausreichend weit gespannt, es musste in allen Bereichen ein „Noch mehr“ passieren, noch exzessiver, noch perverser, noch kraftraubender, wortwörtlich: noch spannender. So trieb es mich am Wochenende in die großen Diskotheken, wo ich ein Ideal nach dem anderen über Bord warf und meine Pubertät im Nachhinein mitsamt One-Night-Stands – wenngleich wenig stereotyper Natur – im Schnelldurchlauf absolvierte. Ich fühlte mich unendlich jung und glaubte, hier mein gedankliches Konstrukt vom „normalen” Leben „normaler” Menschen umzusetzen. Würde ich mich anpassen, so hoffte ich, bestünde die Chance, anerkannt und geliebt zu werden. So wurde ich ein Teil dessen, was mir bislang so fremd und widerwärtig war und das ich bisher so sorgfältig gemieden hatte: Hesses „tief verachtete Welt der Bummler und Vergnügungsmenschen“.

      Ein Verstand mit Gefallzwang ist ein Meister im Maximieren menschlicher Kontakte. Denn „es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen, und es kommen fast allen die Stunden, da sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten.“ (Rilke) Und warum? Um von der „verdammten Isolierung in Einzigartigkeit“ (Jung) loszukommen. Für mich war dieser Drang wie eine Sucht, er kannte keine Grenzen, und zwischen den Abgründen von Liebesverschmelzung und Selbstzerstörung nahm mein Verhalten fast prostituierende Züge an. Mein Verstand wollte meinem Körper diesen Weg zwar verwehren, doch je hochprozentiger der Trank und ungezügelter der Konsum, umso eher ließ sich auch diese Grenze ins Long-Island-Delirium verschieben. Alkohol entmachtete meinen Verstand und ebnete den Weg für Leidenschaft; ich war so ziemlich zu allem fähig. Dabei schien es, als ließe sich der Riss der Einsamkeit in meinem Herzen nur durch einen anderen Riss überdecken. Ich musste erst ganz tief sinken, bevor die Sehnsucht voranzukommen größer war als die Sehnsucht, Schmerz, Angst, Einsamkeit und Fehlschläge zu vermeiden. Eine Passage aus Hesses Demian linderte meine Scham, wo der Protagonist bekennt, er sei ein Kneipenheld gewesen, der über Schmutz, Klebrigkeit und zerbrochene Biergläser gekrochen sei und diesen hässlichen und unsauberen Weg eingeschlagen habe, um einsam zu werden und zwischen ihn und seine Kindheit ein verschlossenes Edentor zu bringen. Hierin habe ein Beginn gelegen, ein Erwachen des Heimwehs nach sich selbst. Alkohol ist auch Hesses Steppenwolf nicht unbekannt; im Gegensatz zu mir ist bei Harry Haller zudem von Kokain die Rede. Dessen Persönlichkeit habe sich im Festrausch wie Salz in Wasser aufgelöst, wie ein von Straßenräubern geplünderter Würdenträger in zerfetzten Hosen habe er ausgesehen. Doch statt die Rolle des Abgerissenen zu lernen, habe er seine Lumpen getragen, als ob noch Orden daran hingen, und seine verlorene Würde weinerlich weiter prätendiert. Kenne ich nur zu gut – Anpassung war der Schlachtruf meines falschen Selbst. Erst viel zu spät merkte ich, dass ich dem Ziel, normal zu sein, nicht näher gekommen war, sondern mich von ihm entfernt hatte.

      Ich wollte anders sein, als ich mich fühlte. Cool und galant wie die „tollen“ Typen, die in den Clubs hübsche Mädchen antanzten und eine nach der anderen abschleppten, während ich zusah und innerlich ethische Debatten führte, mich über jede kratzige Haarspange echauffierte, die man im Tumult ins Gesicht bekam. Wie etwa sollte man einen Menschen gleichzeitig sexuell attraktiv finden und sich mit ihm intellektuell auf gleicher Höhe unterhalten können beziehungsweise ihn für sein Wesen schätzen? Welcher Seite ließ sich der Sexualtrieb überhaupt zuordnen? Eher dem Verstand oder den Emotionen – oder ist er gar eine dritte Kraft? Beeinflussten sich diese Kräfte, konnten sie sich sogar für länger dominieren? Die Hochfreude am platonisch Schönen hatte allem Anschein nach auch ihre hinderliche Seite. „Rangehn”, wie es Nina Hagen im gleichnamigen Lied besingt, sei die Parole, so impfte mir ein Freund ein, doch entsprach gerade dies so gar nicht meinem Naturell.

      Wie groß war der Wunsch, auf einem Foto einmal inmitten der Party-versierten coolen Gleichaltrigen zu sein! Fan eines Fußballclubs zu sein! Oder mit freiem Oberkörper am Strand Volleyball zu spielen! Oder über banale Witze lachen zu können! Oder dem Verzehr von Bier Genuss abzugewinnen! „Warum bin ich nicht einfach so, wie ich es mir wünsche?“ Neben diesen Satz malte ich in meinem Tagebuch ein riesiges Fragezeichen über vier Zeilen. Um das für mein wahres Wesen so Fremde, gleichwohl für mein falsches Selbst so Wünschenswerte zu erreichen, versuchte ich, meinen Freundeskreis zu verjüngen. Schon mein Leben lang hatte ich mir gewünscht, was andere den „besten Freund” oder die „beste Freundin” nannten. Dieser vielbesungene Mensch, der immer bliebe und