Andreas Tank

Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen


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ein.

      Meine Leidenschaft beschwerte sich beim Verstand, dass ich nicht tief liebte, mein Körper hielt ihm mein negatives Körpergefühl vor, mein Bewusstsein das geringe Selbstvertrauen und die niedrige Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten. Was konnte ich schon? Welch geringen Bruchteil an Wissen konnte ich mein Eigen nennen? Wie wenig förderwürdig war ich, um mich für ein Stipendium zu qualifizieren? Wie oberflächlich war die Welt, sich in den Himmel zu loben, wo ich mich selbst über mein Diplom oder meine Doktorarbeit mit Höchstnote nicht freute und mir für Letztere die Urkunde zuschicken ließ, anstatt an der feierlichen Verleihung teilzunehmen. Ein Hoch auf Jungs Tirade über „die Menschen in ihren lächerlichen Kleidern, in ihrer Gemeinheit, Dummheit, Eitelkeit, Lügenhaftigkeit und ihrer abscheulichen Eigenliebe“! Die nachfolgenden Generationen werden, selbst wenn die Mauer in den Köpfen ewig stehen wird, zurückblicken und unseren Entwicklungsstand bemitleiden – was machte ich mir Hoffnungen? Wie selbstgerecht und limitiert sind Erwachsene, wenn sie meinen, vor Kindern die sprachliche Finesse zwischen Größe und Länge zum Besten geben zu müssen! In solch einer selbstherrlichen Gesellschaft leben wir, die Bildung im Grunde nicht fördert; aus Angst, jemand könne am Ende über mehr Wissen und Fähigkeiten verfügen und damit zum gefährlichen Rivalen werden – eine Entwicklung, die es möglichst früh zu unterdrücken gilt. Abgesehen von dem Fall, in dem fremde Förderung gewährt wird, wenn sie der eigenen Eitelkeit von Nutzen ist. Erst am Tagesende finden wir – nach dem altbekannten Abendlied – zurück zur Demut und gestehen, dass wir stolzen Menschenkinder eitel arme Sünder sind und gar nicht viel wissen, Luftgespinste spinnen, viele Künste suchen und weiter vom Ziel abkommen. Mit dem ständigen Bestreben nach Mittelmaß, nicht abzuheben und auf dem Teppich zu bleiben, stehlen wir der Zukunft die heute lebenden Kleists, Goethes oder Nietzsches. Wie schizophren ist es dann, dass Erwachsene – aus dem Gröbsten raus – nur zu oft Frank Sinatra hochhalten und fern jeder Contenance und mit Schaueinlagen geflankt beim Karaoke ein I did it my way zum Besten geben. Eine späte Freiheit, die man Kindern zuvor aberziehen muss, damit sie in dieser Gesellschaft lebensfähig sind? Edgar Allan Poe fragte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, warum man die Flügel der Adler beschneiden müsse, nur weil die Schildkröte einen sicheren Gang habe. Und die Antwort lautet noch heute, dass der Schwächere, statt am Stärkeren zu wachsen, (un-)bewusst versucht, den Stärkeren auf sein Maß zurückzustutzen. Schließlich wird seine Überlegenheit als Gefahr wahrgenommen. Als Erwachsene sehnen wir uns dann zurück in die „guten alten Zeiten“ und singen mit Mary Hopkin Those were the days: „Oh my friend we’re older but no wiser, for in our hearts the dreams are still the same. Those were the days, my friend, we thought they’d never end.“ Und ist es nicht die gleiche Altersgruppe, die Konzerte von Udo Jürgens stürmt und sich von Liedern wie Ich war noch niemals in New York angesprochen fühlt? Sich aus der Enge und Spießigkeit befreien, noch einmal voller Träume, noch einmal verrückt sein, aus allen Zwängen fliehen, einfach gehen für alle Zeit und als Krönung in zerrissenen Jeans die Bürgersteige von San Francisco bevölkern!

      Antiproportional zur Selbstliebe verhielt es sich mit meiner Sehnsucht. Sie träumte von Schutz und einer anderen Welt wie in dem Buch Der geheime Garten von Frances H. Burnett. Wann dürfte ich noch einmal diese Verliebtheit, dieses Fallenlassen und Wohlgefühl spüren wie früher? Wie krank war ich, dass ich nicht mehr nach Hause gehen wollte, weil ich dort genau mit diesem Thema konfrontiert wurde! Die Wurzeln des Problems steckten tief in mir. So hatte ich etwa Mitte der Grundschulzeit meiner Mutter einen Briefumschlag aufs Bett gelegt, darin ein Zettel mit der Frage, ob sie mich noch liebe. Ich erinnere mich genau, wie traurig ich war, als ich den Flur entlang lief. Sollte ich den Zettel wieder zurücknehmen, sollte ich ihn liegen lassen? Vielleicht war es eine drastische Maßnahme, doch sie zeugt schon früh davon, dass es ein gesundes Mittelmaß für mich nicht gab. Auf der heutigen Suche definiere ich vom Minimum kommend: Liebe muss mehr sein als die Angst vor Alleinsein, und Selbstliebe muss mehr sein als die Abwesenheit der Selbstablehnung. War Liebe denn überhaupt deduktiv ableitbar? Ich brauchte kein „Ich liebe dich“ hören, wie komplett wäre die Welt mit einem „Ich liebe mich“! War ein „Ich liebe dich“ am Ende überhaupt eine Liebesbekundung und nicht vielmehr ein Bitten um Liebe? Anstatt in uns nach Liebe zu suchen, begeben wir uns außerhalb auf die Suche. Auf Facebook versuchte ich später, in der Rubrik „in Beziehung mit …“ mich selbst anzuklicken, doch dies war technisch nicht möglich. In meiner Klage über das Leben erhielt ich Fürsprache von Freunden, dass nichts ausweglos sei, und sie rieten, dass ich Liebe annehmen solle, auch wenn ich sie für mich nicht spürte. Und darüber hinaus solle ich die Balance nicht vergessen – doch das Moderate war bislang nun wirklich nicht meins gewesen.

      Inmitten dieses ntwicklungsstadiums teilte mir meine Mutter mit, welchen Typ von Partnerin sie für mich passend fände und dass es schade sei, dass ich noch nicht bereit für eine feste Beziehung sei. Es war ein von Herzen gut gemeinter Wunsch, doch angesichts meiner inneren Konstitution traf er mein Herz wie ein Dolch.

      Wundersame Vorahnungen

      Die Fremdheit, die mich so lange von der Welt getrennt hatte, war mir auf einmal bewusst. Wer war ich? Und wie sollte ich mich selbst finden, wenn mir jeglicher Anhaltspunkt fehlte? Hinzu kam, dass mir der Identitätsverlust und meine Unsicherheit höchst unangenehm waren. Um schnellstmöglich wieder zu einem Bild zu kommen, begann ich bei Freunden nachzufragen: Was wussten sie von mir, und wie nahmen sie mich wahr? Wie bei einem Mosaik sammelte ich mühsam Steinchen für Steinchen, die Gespräche kosteten mich jedes Mal viel Kraft. Und meine Fragen mussten zwangsweise zu Irritationen führen – z. B. als ich mich bei einem Freund nach meiner Sexualität erkundigte. Seine Antwort verstärkte indes das Fragezeichen in meinem Herzen. Unsicherheit, gepaart mit dem Schmerz, den die offen geäußerten Wünsche meiner Mutter ausgelöst hatten, drängte mich in die Offensive. So öffnete ich mich ihr gegenüber und schilderte meinen seelischen Zustand. Ich holte sie mit an Bord, was es emotional nicht einfacher machte. Mit Verblüffung fand ich auch hier eine Parallele bei Jung; ein erneuter Anhaltspunkt, wie sagenhaft vorgeplant meine Durchgangszustände waren: Er schreibt, ein Erwachsener, dem zu viele Illusionen zerstoben seien, werde sich wohl nur gezwungenerweise zur inneren Erniedrigung und Preisgebung bequemen und die Ängste des Kindes nochmals über sich ergehen lassen. Es sei keine kleine Sache, zwischen einer Tagwelt von erschütterten Idealen und unglaubhaft gewordenen Werten und einer Nachtwelt von anscheinend sinnloser Fantastik zu stehen. Das Unheimliche dieses Standpunktes sei tatsächlich so groß, dass es wohl niemanden gebe, der nicht nach einer Sicherheit greifen würde, selbst wenn es ein „Griff rückwärts“ wäre – zum Beispiel zur Mutter. Was für ein unbeschreiblicher, bis zur Atemlosigkeit beklemmender und bedrückender Moment im Leben eines Kindes, in dem man fühlt, dass er die friedlichen Wünsche und Hoffnungen der Eltern zerbrechen und eine neue Zeitrechnung einleiten wird. Und tatsächlich: Es kostete mich viel Überwindung, mit meiner Mutter zu reden. Während des Gesprächs ließ ich dann die Intuition sprechen, die in entscheidenden Momenten Wahrhaftiges aus dem tiefsten Inneren hervorbringt. Ich sagte, es könne sein, dass ich eines Jahres mit einer Begleiterin oder einem Begleiter zum Weihnachtsfest komme.

      Nach meiner Krankheit verstand ich das Leben endlich als Prozess, und ich fürchtete, dass erneutes Ignorieren zu wiederholter und noch gewaltsamerer Krankheit führen könnte. Und dieses neue Gefühl fühlte sich wie ein gewaltiger Fluss an, der es mir unmöglich machte, etwas auf den Punkt zu bringen. Denn ein Punkt war ein Ergebnis, einengend, und ein solches widersprach meiner neuen Auffassung vom Leben. In diesem Fall gab es eigentlich nichts zu erzählen, weil sich alles stets verändern kann – eine universale und lebenslange Dynamik, welche sich lediglich mit Entscheidungen des Verstandes einschränken, in Wege leiten und beeinflussen lässt. Wozu aber? Über Tätigkeiten lässt sich in dieser Dynamik einiges erzählen, und da konnte ich reich und ständig berichten, aber bereits die einfache Frage „Wie geht es dir?“ war in ihrer Ganzheit kaum zu beantworten, zumal sie von den meisten Menschen nicht ehrlich gemeint war, da jeder im Grunde mit sich selbst beschäftigt ist. Ein „Wie geht es dir?“ setzt der Gegenwart die Pistole auf die Brust. Vielleicht könnte ein „Was geht in dir vor?” mehr Auskünfte herauslocken. Wer war ich also? „Bin“ ist ein Ergebnis, „Sein“ ein Prozess. Ich stand vor der unfassbaren Vielfalt und Tiefe des Lebens. Wie in einem Supermarkt stand ich vor einem Regal mit unendlich vielen Produkten und sollte mich einschränken? Das war fatal. Ich konnte