J.L. Stone

Sieben Schwestern - Seranas Rache


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ließ sich Nathalie plötzlich mit angelegten Flügeln wie ein Stein in die Tiefe fallen. Mir stockte der Atem, als ich ihren Sturz verfolgte. Noch ehe ich in irgendeiner Weise reagieren konnte, stoppte sie ihren Fall schon wieder.

      Irgendetwas unter uns schien sie gewaltig aus dem Konzept gebracht zu haben. Sie hatte offensichtlich ganz vergessen, dass wir so schnell wie möglich aus der Heimstatt der Raben verschwinden wollten.

      Obwohl ich angestrengt in die Tiefe spähte, konnte ich immer noch nicht erkennen, was ihre Aufmerksamkeit erregt haben könnte. Außer mickrigen Büschen gab es dort nichts zu sehen.

      In mehreren Etappen sank Nathalie bis fast auf den Boden hinab und begann dann über einer bestimmten Stelle zu kreisen. In deren Zentrum befand sich eine kleine, unscheinbare und nicht sehr tiefe Senke, die nur teilweise von niedrigen Sträuchern bewachsen war und ansonsten keine Besonderheit aufwies.

      Was faszinierte sie nur daran?

      Nur wenig später lenkte mich eine kaum wahrnehmbare Bewegung am Rande meines Blickfeldes im Gras ab. Irritiert wandte ich meinen Blick ab und überließ Nathalie sich selbst. Obwohl ich wusste, dass sich etwas da unten im Steppengras bewegt hatte, konnte ich den Verursacher zuerst nicht ausfindig machen, trotz der scharfen Augen.

      Sekunden später schwankten wieder einige Grasbüschel – nur wesentlich näher an unserem Standort dran, als ich erwartet hatte. Wer oder was auch immer es war, es war verdammt schnell.

      Da entdeckte ich noch weitere Bewegungen, die sich rasend schnell fortpflanzten und in einem breiten Fächer auf die Senke zustrebten. Endlich ging mir ein Licht auf. Tarid und Viktor war es anscheinend gelungen, unsere Spur wieder aufzunehmen und sie hatten Verstärkung erhalten.

      Über das Wie machte ich mir in dem Moment keine Gedanken. Jetzt zählte nur noch eins – schnellstens das Weite zu suchen!

      »Nathalie!« brüllte ich einer Panik nahe. »Verschwinde!«

      Doch sie reagierte nicht und hielt weiter unbeirrt über der Senke Ausschau, nach was auch immer. Anscheinend hatte sie mich nicht gehört. Sie war so sehr von dem gefangen, das sie vermutlich in ihr entdeckt hatte, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnahm. Es musste etwas sehr Aufregendes sein.

      Verzweifelt war ich bestrebt, sie zu warnen. Doch nichts half. Selbst wenn ich mir die Lunge aus dem Leib geschrien hätte, es hätte nichts gebracht. Sie war einfach nicht ansprechbar.

      So sah ich nur noch eine Chance, zumal unsere Verfolger rasend schnell näher kamen.

      Mit einem durchdringenden Schrei zog ich meine Flügel dicht an den Körper und stürzte mich in die Tiefe, direkt auf Nathalie zu. Innerhalb kurzer Zeit überwand ich die Distanz und fiel dicht an ihr vorbei.

      Sofort spreizte ich die Flügel wieder ab und nutzte die hohe Geschwindigkeit, um dicht über dem Boden hinweg zu schießen. Dabei versuchte ich dem von ihr ursprünglich ausgewähltem Pfad zu folgen. Damit hatte ich eindeutig ihr Interesse geweckt.

      »Was?« schrie sie mir hinterher.

      Doch ich war nicht in der Lage, ihr zu antworten, da ich in der Zwischenzeit schon eine viel zu große Strecke zurückgelegt hatte. So konnte ich nur hoffen, dass sie unsere Verfolger selbst entdeckte und mir schnellstens folgen würde.

      Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht.

      Nach etwa einer Minute tauchte sie mit kräftigen Flügelschlägen neben mir auf und überholte mich. Nichtsdestotrotz waren wir noch lange nicht aus dem Schneider, wie mich ein schneller Blick zurück belehrte.

      Tarid und Viktor hatten die Verfolgung noch nicht aufgegeben. Mit höchstem Tempo jagten sie hinter uns her und pflügten durch das hohe Gras. Zum Glück schienen sie dabei ihre Zauberkräfte nicht einsetzen zu können.

      »Schneller!« brüllte ich durch den brausenden Wind und verdoppelte meine Anstrengungen, obwohl ich kaum noch Reserven hatte. »Sie sind immer noch hinter uns her.«

      Trotz all meiner Anstrengungen wurde die Distanz zwischen Nathalie und mir langsam aber sicher immer größer. Sie war eine verdammt geschickte Fliegerin, das musste ich ohne Neid anerkennen.

      Wie schaffte sie das nur?

      Woher nahm sie all die Kraft und Zähigkeit?

      Wahrscheinlich hatte sie eine wesentlich größere Übung darin als ich und sie hatte das schon des Öfteren gemacht, mit dieser Routine, die sie an den Tag legte. Schließlich flog ich heute zum ersten Mal selbst. Ihrem Beispiel folgend, strengte ich mich noch verbissener an.

      Ich musste mit ihr das Tor erreichen – komme, was da wolle. Ohne sie war ich hier gefangen und Tarid und Konsorten hilflos ausgeliefert. Und was dann mit mir geschehen würde, das wollte ich mir lieber nicht ausmalen.

      Auf keinen Fall wollte ich in einem dieser komischen Stasisfeldern mein restliches Leben verbringen – wie immer das dann auch aussehen mochte.

      Inzwischen konnten wir aber auch stetig den Abstand zu unseren Verfolgern ausbauen, was mich etwas froher stimmte. Sie konnten unser hohes Tempo nicht mithalten. Das würde uns etwas Zeit am Portal verschaffen. Hoffentlich konnte es Nathalie ohne größere Probleme öffnen.

      Die Steppe war nur noch als undeutliche Schlieren zu erkennen, so schnell sausten wir in diesen Augenblicken dahin. Nicht das kleinste Detail konnte ich mehr ausmachen, was ich kaum fassen konnte.

      Konnten Falken wirklich so schnell fliegen?

      Daher hatte ich auch keine Vorstellung mehr davon, wie weit die Pforte noch entfernt war. Ich hoffte nur, dass wir sie bald erreichen würden, denn lange würde ich dieses enorme Tempo nicht mehr durchhalten.

      In diesem Moment überflog ich den Rand eines dieser dunklen Wälder, die entlang der Tarnsphäre der Heimstatt wuchsen. Jetzt konnte es nicht mehr allzu weit sein. Mir entwich ein Seufzer der Erleichterung aus meinem Schnabel, als ich endlich den goldenen Schimmer des Tores vor mir ausmachen konnte.

      Nathalie hatte es tatsächlich aktivieren können!

      Wie ihr das bei dem rasanten Flug gelungen war, war mir ein Rätsel, zumal sie kaum langsamer geworden war. Doch ich hatte nicht vor, dem jetzt auf den Grund zu gehen. Ich wollte nur noch raus hier.

      Kurz vor der Pforte verlangsamte sie doch noch etwas ihr Tempo, was mir zeigte, dass sie mich nicht vergessen hatte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hatte ich zu ihr aufgeschlossen.

      Ehe wir uns in das Portalfeld stürzten, warf sie mir noch einen aufmunternden Blick zu. Hinter uns konnte ich nur noch einen mehrstimmigen Schrei der Enttäuschung vernehmen, als ich mit einem erleichterten Aufatmen das Feld durchstieß.

      Auf der anderen Seite freute ich mich schon darauf, mich auf einem Baum ausruhen zu können, um herauszufinden, wo wir uns befanden, und um Kraft für den Heimflug zu tanken.

      Doch Nathalie hatte nicht vor, mich oder sich selbst zu schonen. Ganz im Gegenteil. Sie erhöhte wieder ihre Geschwindigkeit und schoss dicht über dem Boden rasend schnell davon.

      »Nathalie!« versuchte ich ihr hinterher zu schreien, doch ich keuchte es nur.

      So war es kein Wunder, dass sie überhaupt nicht reagierte. Stur flog sie weiter und hatte nur ein Ziel – so viel Abstand wie möglich zwischen uns und der Pforte zu bringen, ehe Tarid und ihre Freunde es ebenfalls erreichten und durchstießen.

      Was nur zu verständlich war. Denn nur wenn uns das gelang, standen die Aussichten nicht schlecht, das Refugium vom Wolf-Clan ungeschoren zu erreichen. Und das musste unser vordringlichstes Ziel sein.

      So musste ich mich wohl oder übel in mein Schicksal fügen und weiterhin meine gepeinigten Muskeln dazu bewegen, mich weiter hinter ihr her zu tragen. Das war wiederum leichter gesagt als getan, denn es fiel mir immer schwerer.

      Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust und ich konnte kaum noch Atem durch den weit aufgerissenen Schnabel schöpfen. Alles in mir schrie nach einem Ende dieser Tortur. Solch eine körperliche Belastung hatte ich noch nie erlebt – bei dem entspannten Leben, das ich sonst führte.