Rita Kuczynski

Aber der Himmel war höher


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Gerede über Versicherungsparagrafen nicht wegzudösen. Plötzlich aber war ich hellwach, denn mir schien, dass ich auf dem Hof ein Squirrel, nein, zwei gesehen hatte. Unwillkürlich griff ich nach meiner Jackentasche, in der noch Erdnüsse waren. Aber dann wurde mir klar, dass ich für einige Sekunden doch geschlafen hatte. Ich hoffte, keiner der hier Anwesenden hatte es gemerkt.

      7

      Ich schaltete mein Handy erst wieder ein, nachdem ich das Gebäude der Consultinggesellschaft verlassen hatte. Da war eine SMS von Emmi. Sie habe die Erlaubnis bekommen, im Archiv des Museums of Modern Art zu arbeiten. Sie dürfe alle im Museum noch nicht ausgestellten Krüge fotografieren.

      Es wird Emmi guttun, etwas länger in Washington zu bleiben. Obwohl es gerade die ihr eigene Provinzialität ist, die ihren Charme ausmacht. Denn vor dem Mauerfall kam sie so gut wie nie heraus aus Ostdeutschland. Sie war schon 23 Jahre alt zu dieser Zeit. Und nachdem zwei Jahre später auch noch ihr Vater durch einen Autounfall ums Leben kam, war Emmi total verunsichert. Auf seinen Tod war sie nicht vorbereitet. Ihr Vater war die Konstante und die Zuverlässigkeit in ihrem Leben. Von dem damaligen Schock hat sie sich bis heute nicht erholt. Aber sie weigert sich beharrlich, eine Therapie zu machen. Marion sagt, Emmi könne sich den Verlust noch nicht eingestehen. Stattdessen hänge sie sich an ältere Männer, die ihrem Vater ähnlich sähen. Wenn ich mit Marion streite, dass das so nicht stimme, lacht sie und meint, das liege daran, dass ich von Projektionen nichts verstünde, außer ich male sie, nichts ahnend, dass es Projektionen sind. Dazu aber hätten 90 Prozent der Menschen leider kein Talent.

      Doch dass Emmis Sammelleidenschaft von Krügen wahrscheinlich mit ihrem Vater zusammenhängt, ist nicht von der Hand zu weisen. Denn der erste Krug, den sie bekam, war von ihm. Damals war sie gerade neun Jahre alt. Ihr Vater war es, der ihr erzählt hatte, dass jeder Krug ein Geheimnis in sich trägt, das er erst über die Jahre verrät. Sie müsse die Krüge nur immer wieder zu anderen Krügen stellen und nicht die Geduld verlieren, dann werde sie eines Tages das Geheimnis aller Krüge verstehen.

      Ich schickte Emmi noch auf dem Weg zur U-Bahn eine SMS. Ich sagte ihr, wie sehr ich mich über ihre Nachricht freute und dass ich sie gegen Mitternacht unserer Zeit anrufen werde. Als ich in der Bahn saß, bin ich so fest einschlafen, dass ich zusammenzuckte, als mich ein Mann ansprach und fragte, ob ich auch kein Zuhause mehr habe.

      Desorientiert durch den Tiefschlaf, bekam ich den Ort der Handlung mit der Person, die vor mir stand, nicht auf Anhieb zusammen. Langsam verstand ich, es war der Immobilienhändler, der einen Neuanfang gesucht hatte. Groß und massig stand er vor mir. Ein wenig überfordert von der Situation, starrte ich ihn an. Noch immer etwas benommen, stand ich auf, ich müsse aussteigen. Er bot mir seinen Arm und fragte, ob er mich durch den Berufsverkehr auf der Friedrichstraße schleusen dürfe. Ich hakte mich ein. Eine Geste, die er natürlich missverstehen musste. Aber ich war so schlaftrunkend, dass ich noch kein Gefühl für Distanz hatte oder gar für Widerstand. Untergehakt lief ich mit einem Mann, den ich bereits aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte, die Friedrichstraße entlang. Ich kam erst wieder ganz zu mir, als wir in der Lounge des Hotels Maritim gegenüber vom Buchhaus Dussmann saßen und einen starken Kaffee tranken. Er erzählte etwas von einer Immobilienmesse, die ihn heute in diese Gegend geführt habe. Und er habe Gott zu danken, dass er für den Rückweg ins Hotel die U-Bahn und nicht ein Taxi genommen habe, wie es ursprünglich seine Absicht war. Denn als er mich dann schlafend in der Bahn angetroffen habe, verstand er, seine Entscheidung war ein Wink des Schicksals. Er habe, meinte er, um ehrlich zu sein, nicht verstanden, warum ich bei unserer ersten Begegnung so plötzlich aufgebrochen war. Wir hatten uns doch gut unterhalten. Aber nun sei ich ja glücklicherweise wieder da. Und das sei doch die Hauptsache. Er redete auf mich ein. Wieder hing ich scheinbar an seinen Lippen und sagte kein Wort.

      Also, er habe mächtigen Hunger, unterbrach er irgendwann seinen Redefluß. Auf der Tagung, mit er den ganzen Tag vertan habe, gab es nur diese immergleiche Häppchenparade. Er könne dieses Zeug schon lange nicht mehr ertragen. Deshalb möchte er sich jetzt etwas Feines gönnen, zumal er auch noch mich wieder gefunden habe. Falls ich auch etwas essen möchte, sei ich selbstverständlich sein Gast. Er legte mir die aufgeschlagene Speisekarte vor und bestellte vorab schon mal eine Flasche Champagner.

      Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich las, was es hier zu essen gab. Meine Widerstandskraft für diesen Tag war wohl in der Consultingfirma verbraucht. Und so bestellte ich Riesengarnelen in Weißweinsoße auf Wildreis, obwohl dies beinah das teuerste Gerichte auf der Karte war. Aber nachdem ich sah, der Immobilienhändler hatte die teuerste Flasche Champagner bestellt, dachte ich, die Armut eines pleite gegangenen Immobilienhändler ist wohl relativ, gemessen an dem Einkommen einer Malerin. Er überredete mich schließlich noch zu einer Vorsuppe.

      Nachdem der Champagner gekommen war, stieß er mit mir an. Ich könne ruhig Wolfram zu ihm sagen, meinte er. Dann könne er mich nämlich Anna nennen. Anna, das sei ein wirklich wunderschöner Name. Ich sagte nichts.

      Die Tomatensuppe, die ich bestellt hatte, schmeckte vorzüglich. Sie tat gut nach diesem langen Sitzungstag. Und die Garnelen erst recht. Ich genoß sie und sagte es auch.

      »Na, das freut mich, Anna, dass man Sie mit einem guten Essen aufheitern kann«, sagte der Immobilienhändler und schenkte Champanger nach. Ich winkte ab und bat um Wasser.

      Er erzählt von einem neuen Geschäft, in das er unweit von Berlin einsteigen könne. Deshalb sei er überhaupt auf der Immobilienmesse gewesen. Es handle sich um einen Senioren-Wohnpark und um drei Hotels. Mit etwas Glück und gutem Willen wäre die Finanzierung zu schaffen. Es sei eine ziemlich sichere Sache. Zumal er die beiden Partner noch aus anderen Zeiten gut kenne. Sie wüssten, dass sie sich auf ihn verlassen könnten. In seiner Branche ginge man eben schnell mal pleite, käme aber genau so schnell wieder auf die Beine. Vor fünfzehn Jahren hatte er schon einmal eine Pechsträhne und sei dann aber wieder gut ins Geschäft gekommen. Er redete und redete. Ich sah ihn an, hörte aber nicht mehr hin. Ein bisschen schämte ich mich dafür. Immerhin war ich mit ihm gegangen und verspeiste die Riesengarnelen eine nach der anderen, von denen er noch welche nachbestellt hatte.

      Ich wollte nicht an Max denken. Nicht jetzt und nicht hier. Das kam mir vor wie Verrat. Das klingt pathetisch. Aber mir fällt kein anderes Wort ein. Für die wichtigen Dinge in meinem Leben habe ich keine Wörter. Ich finde ja nicht einmal ihre Farben. Ich dachte an unsere erste Nacht. Sie fand nicht zu Hause statt. Max und ich fuhren mehr als 400 Kilometer fort von Berlin. Als wollten wir durch die Distanz von dem Ort, an dem wir wohnten, den Ausnahmezustand unseres Tuns betonen. Er sollte aufgehoben werden können, sobald wir Berlin wieder erreicht hatten. Was uns natürlich nicht gelang. Im Gegenteil. Wir versetzten bald meine Berliner Wohnung in einen Ausnahmezustand. Max verwandelte die Zimmer mehr und mehr in ein Museum für Geigen, Bratschen und Celli. Tagsüber spielte er mal auf dem einen, dann auf dem anderen Instrument herum. Das Cello spielte er, soweit ich etwas davon verstehe, am besten. Es lag eine gute Stimmung in allen Räumen. Ich malte und malte wie in Trance. Max gab nicht auf, unermüdlich nach den italienischen Meistergeigen und Celli aus den Beständen der abgewickelten volkseigenen DDR-Orchester zu suchen. Ab und zu lud er mal den einen, mal den anderen Konzertmeister zum Essen ein und fragte sie geschickt aus. Sie brachten ihre Instrumente mit und führten sie Max sogar vor. Häufig fuhr Max auf seiner Suche auch in die entlegensten Orte Ostdeutschlands. Als er einsehen musste, dass die Ausbeute geringer war, als er erwartet hatte, dehnte er seine Suche weiter nach Osten aus. Er machte Termine mit berühmten Geigern und Cellisten in der ehemaligen Sowjetunion, wo er mehr Glück hatte. Wenn er eine echte Stradivari ausfindig gemacht hatte, kam er glückselig zurück, umarmte mich, stellvertetend für die ganze Welt, und schrieb nächtelang an einen Verleger in New York, wo er ein Buch über die italienschen Instrumente zugesagt hatte. Nachdem er dem Verleger seine neuesten Nachrichten und Entdeckungen gemailt hatte, holte er oft eines der Celli, die inzwischen in meinem Wohnzimmer standen, weil die Raumtemperatur dort nach Max’ Dafürhalten am besten war, und spielte stundenlang Cello-Sonaten. Manchmal beschwerten sich die Mieter. Aber irgendwie schafften wir es gemeinsam, dass kein wirklicher Knatsch im Hauses entstand.

      In dieser Zeit erfand mich Achim, der Kunsthändler, noch einmal nach seinen Vorstellungen. Ich war erstaunt über die Perfektion