Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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der Tat! Woher weißt du das bloß?“

      „Nun ja, ist so meine Erfahrung in der letzten Zeit...“ Wieder ein Lächeln. Marco war schon beinahe von sich selbst beeindruckt.

      „Ne, jetzt aber im Ernst, Marco: Wie geht es Dir?“, wagte Sven schließlich die entscheidende Frage und machte diesmal Marco etwas betreten. Wenn er die Wahrheit hätte sagen wollen, hätte er Worte wie „Hölle“ oder „grausam“ oder „nur beschissen“ gewählt. Aber diese Wahrheit ging niemanden etwas an. Was sollten seine Freunde denn damit anfangen? Marco hatte Angst, sie würden bloß die Flucht ergreifen.

      „Naja, gut ist anders...“, wich er schließlich aus und erntete drei mitfühlende Blicke, was ihn beinahe imperativ zu seinem nächsten Lächeln führte, dieses allerdings mehr schlecht als recht glaubwürdig.

      „Okay. Klar... Ich meine“, druckste Dirk herum, „es ist scheiße, was passiert ist. Richtige Scheiße! Oh Mann...“

      Marco nickte bloß, denn Dirk hatte es auf den Kopf getroffen. Was blieb ihm dazu also noch zu sagen?

      „Wie ist das denn überhaupt passiert?“, fiel Sven ein, zuckte aber fast unmerklich dabei zusammen, als bereue er seine Frage sofort. Zu gerne hätte Marco ihm gesagt, dass er ruhig fragen könne, was er wissen wolle. Es würde die ganze Sache möglicherweise leichter machen. Und dennoch hielt er sich zurück mit seinem Angebot; aus einer unbestimmten Furcht heraus, die ihm einflüsterte, er wäre vielleicht noch nicht so weit, diese Fragen dann auch alle beantworten zu können.

      „Naja, Zweikampf mit nem Auto... Hab verloren...“

      Ein verhaltenes Lachen war die Reaktion seiner Freunde. Dabei fand Marco seinen Witz gelungen. Er hätte sich darüber gefreut, sie damit zum Lachen zu bringen. Zu einem richtigen Lachen. Eines, das die Situation für einen kurzen Moment nur halb so schlimm gemacht hätte, eines, das sie wieder miteinander verbunden hätte. Aber wie es schien, verboten seine Kumpels sich dieses Lachen. Über Behinderte machte man keine Witze und diese Erkenntnis traf Marco wie ein Schlag ins Gesicht.

      Wieder wollte das Schweigen sich wie eine graue Spinne zwischen sie hocken, doch diesmal kam Jan dem zuvor.

      „Ach, wir haben dir übrigens was mitgebracht“, sagte er und zog ein in buntes Papier geschlagenes Geschenk aus der geräumigen Innentasche seiner Jacke, um es Marco zu reichen.

      „Wir dachten, es ist immer gut, ein Ziel zu haben.“

      Marco nahm es mit einem „Danke“ entgegen und hielt es unentschlossen in seinen Händen. Eigentlich war er erfreut und neugierig, doch das Wort Ziel machte ihm Angst.

      „Willst du es nicht auspacken?“, fragte Jan, der Marcos Zögern bemerkte.

      Eilig nickte Marco und begann, das Geschenk langsam von dem Papier zu befreien. Seine Hände zitterten dabei. Leicht zwar und für die anderen drei nicht sichtbar. Aber ihm selbst genügte es, um sich unwohl zu fühlen.

      Riss um Riss kam unter dem bunten Papier ein buntes Buch zum Vorschein. Neuseeland stand ganz oben als Überschrift. Reiseführer direkt darunter.

      Marco zwang sich zu einem dankbaren Lächeln.

      „Cool. Danke“, war alles, was er herausbrachte, und er wollte es rasch auf den Nachtschrank legen, da kam Sven ihm dazwischen.

      „Du hast doch immer von Neuseeland geträumt, weißt du noch?“

      „Mhm.“ Marco nickte.

      „Wir haben gedacht, es könnte ein Ziel sein. Du verstehst?“

      Wieder nickte Marco. „Ja, verstehe.“

      Sven sah ihn erwartungsvoll an und als keine weitere Antwort folgte, machte sich Enttäuschung in seiner Miene breit.

      „Du magst das Geschenk nicht, oder?“

      „Doch, doch! Es ist nett von euch. Vielen Dank!“

      Sven zog eine Augenbraue hoch und warf Jan einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder an Marco wandte.

      „Und nun das Aber...“

      Marco wand sich innerlich. Stöhnend stieß er die Luft aus.

      „Nein, Sven, es ist wirklich sehr aufmerksam von euch... Aber...“ Marco unterbrach sich, weil er unsicher war, ob er die Wahrheit sagen sollte. Eine Wahrheit, die ihm Sorge machte, weil es ihn ein weiteres Stück von seinen Freunden trennte. „Naja, ich habe davon geträumt. Damals. Vor dem Unfall. Jetzt aber...“ Marco zögerte, worauf Sven ihm etwas unwirsch das Wort abnahm.

      „Was: jetzt aber... Was willst du damit sagen?“

      „Jetzt ist das Vergangenheit!“, gab er schließlich zur Antwort und es kam so entschieden, dass wieder nur Stille darauf folgte.

      „Warum?“, fragte schließlich Jan.

      Marco sah ihn an. Lange und traurig, aber Jan wich dem Blick nicht aus.

      „Mit einem Rollstuhl ist das scheiße.“ Das war es. Das war das, was Marco fühlte und was ihm wie eine Faust um sein Herz lag. Ein Leben im Rollstuhl war scheiße. Und so wollte er sich keine Träume mehr erfüllen.

      „Weißt du was?“, fasste Sven schließlich seinen ganzen Mut zusammen. „Deine Einstellung ist scheiße!“ Und damit drehte er sich um und verließ den Raum.

      Fassungslos starrte Marco ihm hinterher. Ebenso wie Jan und Dirk.

      „Scheiße!“, fluchte Dirk und eilte Sven hinterher, sodass nur noch Jan vor Marcos Bett stand und auf ihn nieder blickte.

      „Warum sagst du so etwas, Marco? Wir hatten uns echt Gedanken gemacht. Dreh das Buch doch mal um!“

      Resigniert tat Marco, was Jan von ihm forderte, und las den Klappentext. Als er damit fertig war, taten ihm seine Worte leid. Betreten ließ er das Buch sinken.

      „Es ist von einem Rollstuhlfahrer verfasst worden. Er hat die Reise selber gemacht und wir hatten uns überlegt, mit dir zusammen dort hinzufahren. Wir alle vier. Wie immer.“

      Marco spürte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Er wagte es nicht, sich Jans Blick zu stellen. Ein Schauer durchlief seine Brust und er musste schlucken.

      „Danke“, brachte er schließlich heiser hervor. „Es tut mir leid...“

      „Mir auch... Wir hatten uns den Besuch anders vorgestellt. Wir wollten dir einfach eine Freude machen, weißt du?“

      Marco zog die Nase hoch und sah Jan nun doch in die Augen.

      „Sorry... vielleicht habt ihr einfach nur einen schlechten Tag erwischt...“

      „Fast glaube ich das, Marco. Hey, ich kann mir vorstellen, wie es dir geht. Wir sind alle geschockt. Aber weißt du, schau dir das Buch doch einfach in Ruhe mal an. Denk drüber nach. Wir machen die Reise auf jeden Fall. Termin offen. Und wenn du willst, fährst du mit, okay?“

      Marco nickte, während er seine Tränen niederkämpfte, und Jan knuffte ihn gegen den Oberarm.

      „Ich lauf mal den anderen beiden hinterher. Wir sehen uns die Tage wieder, okay? Bis dahin solltet ihr vielleicht noch mal telefonieren, Sven, Dirk und du.“

      „Klar... Danke, Jan. Und sag den beiden bitte, dass es mir leid tut, ja? Bis zum nächsten Besuch arbeite ich an meiner Einstellung, versprochen...“

      Diesmal lachte Jan ein ehrliches Lachen.

      „Ich nehme dich beim Wort, Marco! Bis denne.“ Jan winkte Marco noch einmal zu und verließ dann ebenfalls das Zimmer.

      Neuseeland. Marco hatte das Buch noch einmal hochgehoben, um es sich zu betrachten. Neuseeland im Rollstuhl. Die Vorstellung wog wie ein unüberwindlich großer Stein in Marcos Brust und drückte ihm beinahe die Luft ab. Er konnte sich schon nicht vorstellen, da draußen in der Welt der Gesunden mit einem Rollstuhl herum zu kurven, sich zwischen ihnen hindurch zu schieben, wo man grundsätzlich