Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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absurden Gestalten. Das Drachenmädchen. Ja, auch er hatte sie gemocht. Vor dem Absturz. Doch nun mochte er ihr Mitleid nicht. Er mochte ihre mitfühlenden, bekümmerten Worte nicht, weil man so mit einem starken, mächtigen Drachen nicht spricht, nicht mit einem Drachen, den man bewundert.

      Und die Tiere? Ja, was sollte er mit diesen niederen Kreaturen anfangen? Ein Drache war ein Wesen der Lüfte und redete nicht mit den Tieren. Und nun sollte er sich zu ihnen herablassen? Nun, wo er keine Flügel mehr besaß und in den Augen der anderen ein elender Wurm war, dem es bloß noch vergönnt war, auf der Erde zu kriechen?

      Niemals!

      „Geht!“, sagte er zu ihnen. „Ich will alleine sein.“

      Doch sie gingen nicht. Vielmehr wurden ihre Blicke nun noch bekümmerter, noch mitfühlender, noch beharrlicher.

      Die Tiere respektierten den Drachen, ja sie fürchteten ihn sogar. Daher hielten sie Abstand. Doch das Drachenmädchen gab nicht auf. Sie näherte sich ihrem geliebten Drachen und rieb ihren Kopf an seinem.

      „Bitte“, sagte sie, „schicke uns nicht fort, mein Liebster. Wir wollen dir helfen und du brauchst uns!“

      Doch anstatt ihre Worte in sein Herz zu lassen, wo sie ihm hätten Wärme gegen das Erkalten spenden können, stieß er das Drachenmädchen von sich.

      „Geht!“, fauchte er sie an und Rauch trat aus seinen Nüstern. Furchtsam wichen die Tiere zurück und auch das Drachenmädchen bekam nun Angst.

      „Aber...“, wollte sie protestieren, doch da wurde der Drache zornig.

      „Ihr sollt endlich gehen!“, schrie er jetzt und stieß einen Feuerschwall aus. Aber dieser war nicht mehr golden, wie einst, wo er der Leben spendenden Sonne glich. Nein, nun war er rot. Rot wie der glühende Zorn, rot wie das vergehende Blut, rot wie das unerträgliche Leid.

      Wieder und wieder spie der Drache sein rotes Feuer und verbrannte jedes Wesen, das ihm zu nahe kam, jeden Busch und jede Blume, ja sogar die Erde um sich herum; solange bis alle geflohen waren, die sein Feuer überlebt hatten.

      Auch das Drachenmädchen war geflohen. Tief in einen Felsen hatte sie sich verkrochen und ihre Tränen kühlten nun die Brandwunden, die der Drache ihr zugefügt hatte.

      Kapitel 6

      Tatsächlich war Marco müde und doch wollte es ihm nicht recht gelingen, noch mal in den Schlaf zu finden. Er lag auf dem Rücken, hatte den Kopf zur Seite gedreht und starrte auf das Nachtschränkchen, in dessen oberster Schublade seine zurückeroberten Schlüssel und das Portemonnaie lagen. Die Worte seiner Mutter hallten in seinem Kopf nach und lösten eine Lawine voll Erinnerungen aus.

      Marco dachte an die Zeit, als er seine Bude bezogen hatte. Seine erste eigene Wohnung. Er dachte an die Abende, die er dort mit seinen Kumpels verbracht hatte, Bier, Bundesliga, Musik, Prahlereien über Mädchen. Er dachte an seine Ex-Freundin, in die er für ein paar Monate so schrecklich verliebt gewesen war und mit der er wunderschöne Nächte dort verbracht hatte. All das war nun Vergangenheit.

      Er würde seine Wohnung nie wieder sehen, einfach, weil er nicht in der Lage war, auch nur eine Stufe zu bewältigen, geschweige denn vierundvierzig davon. Irgendwer, wahrscheinlich Toni und seine Mutter, würde diese Wohnung nun ausräumen, Marcos Habseligkeiten irgendwo lagern und die leeren Räume an den Vermieter zurückgeben, auf dass ein anderer Student sie bald beziehen und seine eigenen Erinnerungen darin füllen würde.

      Aus einem Impuls heraus griff Marco nach der Schublade, zog sie auf und nahm den Schlüsselbund heraus. Er betrachtete ihn, nahm im Geiste die einzelnen Schlüssel heraus, um damit erst die Haustüre, dann den Briefkasten und schließlich - nach ganz bewusst erklommenen vierundvierzig Stufen - oben die Wohnungstüre zu öffnen. Er ging noch einmal durch die Räume, betrachtete sich die Möbel, das Bücherregal, die CDs, seinen Schreibtisch mit dem PC, schaute aus dem Fenster hinaus in den Hinterhof mit den vielen Balkonen und dem kleinen Kindergarten und verabschiedete sich.

      Er wollte sich abwenden, doch er konnte nicht, denn wenn er es täte, müsste er zurückkehren ins Krankenhaus. Dorthin, wo er sich nicht bewegen konnte, wo er gelagert werden musste, weil er es selbst nicht mehr konnte, wo er gewaschen wurde, wie ein hilfloses Baby, wo jemand dafür sorgte, dass seine Blase und sein Darm geleert wurden, dorthin, wo eine Demütigung die andere ablöste, wo es nichts gab, was ihm Hoffnung oder wenigstens einen Moment Freude schenkte. Zurück an den Ort, den er aus tiefster Seele verabscheute. Sein Innerstes krampfte sich zu einem Knoten aus Düsternis zusammen. Eine Düsternis, die langsam ihre Tentakel nach Marcos Gedanken ausstreckte, um sie mit ihrer lähmenden Dunkelheit zu infizieren. Bloß die Wut war noch in der Lage, diesem Gift zu widerstehen. Sie gewährte Marco noch eine kleine Hintertür, durch die er fliehen konnte.

      Ein scharfer Schmerz in seiner rechten Hand zwang Marco schließlich doch zur Rückkehr. Er hatte seine Faust zu fest um den Schlüsselbund geschlossen, dass die scharfen Kanten der Schlüssel in seine Haut schnitten. Er lockerte den Griff und betrachtete den Bund, als erblicke er ihn zum ersten Mal. Er sah die roten Abdrücke in seiner Handfläche und plötzlich wurde er von einem nie gekannten Zorn überschwemmt. Er überrollte ihn wie eine Sturmflut, der er nicht entrinnen konnte, riss ihn mit sich, sodass er darin zu ertrinken drohte, wenn er nicht mit ihr schwamm. Marco ballte seine Faust erneut um den Schlüsselbund. Diesmal noch fester als zuvor. So fest, dass der Schmerz ihm fast die Tränen in die Augen trieb und selbst dann erhöhte er seinen Druck noch einmal. Und dann holte er aus, soweit, wie es ihm mit seinen beschränkten Mitteln möglich war, und schleuderte den Schlüssel mit seiner ganzen Kraft an die Wand. Er schrie dabei. Schrie seinen ganzen Zorn, seinen Frust, seine Angst und seine Verzweiflung hinaus, bis der Schlüssel laut scheppernd gegen die Wand knallte und zu Boden fiel. Dann war er still, betrachtete die Macke, die der Schlüssel in der Wand hinterlassen hatte und spürte, wie er innerlich einknickte.

      Der Zorn wurde von Tränen davon gespült. Ein scheinbar nie enden wollender Strom, der sich täglich neu seinen Weg über Marcos Wangen bahnte und zuletzt stets eine angenehme Taubheit in seinen Gedanken hinterließ. Allerdings meist nur von kurzer Dauer.

      Wie nur, dachte Marco verzweifelt, wie nur soll es denn jetzt weiter mit mir gehen? Wie soll ich das jemals schaffen? Wieso darf ich meine Beine nie wieder fühlen, nie wieder bewegen? Wieso habe ich das Fahrrad genommen und nicht dieses verdammte Auto?!

      Endlos bohrten sich diese Fragen durch Marcos Kopf, dicht gefolgt von Selbstvorwürfen. Wut löste Tränen ab und Tränen die Wut. Marco fühlte sich hilflos und allein, ausgeliefert und hoffnungslos. Er suchte irgendeinen Halt, doch er fand nichts, keine Idee, kein Ziel, kein Gefühl, das ihm helfen konnte, sich aus dem Morast seiner niederschmetternden Situation herauszuziehen.

      Das Knarren der Türklinke ließ Marco schließlich aus seinem finsteren Brüten erwachen. Erschöpft blickte er Richtung Tür und sah teilnahmslos dabei zu, wie sie sich zaghaft öffnete.

      Es dauerte einen Moment und Marco wurde schon beinahe neugierig, als endlich eine junge Frau das Zimmer betrat. Marco hatte sie noch nie zuvor gesehen und da sie keine Arbeitskleidung trug, konnte er ausschließen, dass sie zu dem Pflegepersonal oder den Physiotherapeuten gehörte – die einzigen Menschen, die sich täglich mehrfach in sein Zimmer verirrten, um irgendetwas mit ihm anzustellen. Möglicherweise gehörte sie zum Sozialdienst oder – Marco schluckte – sie war eine Psychologin... Doch eigentlich, so dachte er bei näherer Betrachtung, war sie dafür zu jung. Wer aber war sie und was wollte sie von ihm?

      Schüchtern blieb die Frau an der Tür stehen und erwiderte Marcos fragenden Blick. Röte überzog plötzlich ihre Wangen und bevor sie ein Wort sagte, räusperte sie sich.

      „Hallo...“, brachte sie schließlich heraus. Mehr allerdings auch nicht.

      „Hallo“, gab Marco zurück und wartete.

      Wieder räusperte sich die Frau.

      „Entschuldigung, bin ich hier bei Marco Wingert?“

      „Ja, da sind Sie richtig. Ich bin das.“ Skeptisch kniff Marco seine Augen