Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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konnte es nicht mehr zurücknehmen. Aber es war ihr lieber so, denn die Schuldgefühle plagten sie Tag und Nacht und sie musste sie einfach jemandem anvertrauen. Bei Zero, so dachte sie, war sie da wirklich am Besten aufgehoben. Das sagte ihr ein Gefühl.

      Doch es kam keine Antwort. Nicht am ersten Tag und auch nicht am zweiten. Nach einer Woche war sie es leid, wie eine Getriebene ständig ihren E-Mail-Account zu prüfen. Hatte Zero sie tatsächlich fallen gelassen? Hatte sie sich so in ihm getäuscht? Oder hatte er ihre Mail gar nicht mehr gelesen, weil er ihr Nicht-Erscheinen als Desinteresse gedeutet und innerlich mit ihr abgeschlossen hatte?

      Zu Sarahs Schuldgefühlen gesellte sich nun auch noch eine Unruhe, die sie nur schwer auszuhalten vermochte. Sie wollte endlich eine Entscheidung treffen. Sollte sie gehen und Marco besuchen? Sollte sie ihm vor die Augen treten und sich entschuldigen, so platt und nutzlos es ihr auch vorkam?

      Sie fragte schließlich eine Freundin um Rat, sogar mehrere. Doch alle gaben ihr die gleiche Antwort. Sie sollte es sein lassen. Und je öfter Sarah diese Antwort erhielt, desto entschlossener wurde sie. Sie würde ihn besuchen!

      Zwischenspiel

      Die anderen Drachen vermissten ihren Freund, den sie zuletzt gesehen hatten, als er hoch in den Wolken ins Trudeln geriet. Ein Aufschrei hatte sich aus ihren Kehlen gelöst und sie hatten um sein Leben gebangt. Sie hatten geglaubt, er trieb bloß sein Spiel mit dem Sturm, doch dann war er plötzlich verschwunden.

      Notgedrungen warteten sie, bis der Wind sich beruhigt hatte, um sich dann eilig auf die Suche nach ihm zu begeben. Und bald fanden sie ihn. Erschöpft lag er am Boden und beachtete sie kaum. Als sie neben ihm landeten, spielerisch leicht, hob er bloß kurz seinen Kopf und sah sie teilnahmslos an. Seine Flügel hingen zerrissen und schlaff an ihm herab. Die Drachen konnten nicht anders, als sie anzustarren. Betroffen, erschrocken, voller Mitleid. Sie bekundeten ihr Mitgefühl, wollten ihn trösten, doch der Drache wandte sich bloß ab. Er wollte alleine sein, denn er war keiner mehr von ihnen.

      Kapitel 4

      Es herrschte nächtliche Ruhe auf dem Flur der Intensivstation, als Marco erwachte. Er lag auf dem Rücken und starrte auf seiner Flucht vor seinem verletzten Körper an die Decke, folgte den Konturen der Schatten, die sich dort in dem Schein einer kleinen Nachtlampe abzeichneten, und suchte nach immer neuen Figuren darin. Gedanken drängten an sein Bewusstsein, wollten gehört werden, doch er beachtete sie nicht. Es kostete ihn Konzentration, den Damm gegen sie aufrecht zu halten, und Kraft, denn die Wucht ihrer Wellen nagte unermüdlich an der Basis und drohte sie zu untergraben.

      Marcos Rücken war es schließlich, der sein Bollwerk zum Einsturz brachte. Er schmerzte. Dort, wo sein Gefühl ins Leere lief, hämmerte es. Es pochte, zog und brannte, sodass Marcos Nerven bald dem Zerreißen nah waren. Er hätte sich gerne gedreht, ja er hätte es gerne versucht, aber er wusste nicht wie. Die Muskeln, die er dazu brauchte, existierten für seinen Willen nicht mehr. So sehr er es immer und immer wieder probierte, so versagte er doch immer und immer wieder dabei. Als er zuletzt mit einer Hand das Bettgitter packte und sich daran auf die Seite ziehen wollte, ließ der Schmerz ihn schnell wieder loslassen. Er fluchte, ungläubig, wie wenig er seinem Körper noch abverlangen konnte. Es war doch eigentlich eine lächerliche Kleinigkeit, sich im Bett zu drehen, und doch war er einfach nicht in der Lage dazu. Es war nicht zu fassen, aber er konnte sich nicht einmal selber drehen...

      Notgedrungen musste Marco einsehen, dass er ohne Hilfe nicht weiterkommen würde. Frustriert hielt er nach dem Klingelknopf Ausschau. Er fand ihn schließlich an einem Kabel, das nicht weit von ihm entfernt um den Griff eines Nachtschranks gewickelt war. Doch als er seinen Arm danach ausstreckte, war dieser ein Stück zu kurz. Seine Finger verfehlten den Knopf um wenige Zentimeter.

      Marco schimpfte und reckte seinen Arm so weit er konnte. Vergebens. Schließlich zog er sich unter Schmerzen an das Bettgitter heran. Allerdings gelang es ihm mehr schlecht als recht und als er seine Hand abermals nach dem Knopf ausstreckte, konnte er ihn zwar mit seinen Fingerspitzen berühren, aber es genügte nicht, um die Klingel zu bedienen.

      „Verdammte Kacke!“, stieß er zornig aus und schlug mit seiner Hand auf die Bettdecke. Dabei spürte er seinen Oberschenkel unter der Handfläche, was ihn zutiefst irritierte. Er hatte sich gerade selbst geschlagen, so fest, dass es noch ein wenig in der Handfläche kribbelte, doch er hatte es nicht ansatzweise gefühlt.

      Betroffen hielt Marco inne. Er vergaß die Klingel, ja sogar die Rückenschmerzen. Plötzlich war er wie erstarrt. Bloß ein Gedanke blinkte unermüdlich vor ihm auf: Er würde im Rollstuhl sitzen. Für immer!

      Der Arzt hatte es ihm heute Nachmittag mitgeteilt.

      Ein paar Stunden hatte Marco diese Tatsache ausblenden und mit blinder Hoffnung überdecken können, doch nun war diese Gewissheit wieder da.

      „Herr Wingert“, hatte der Arzt zu ihm gesagt. „Bei dem Unfall wurde Ihr Rückenmark auf der Höhe Th10 verletzt. In der Bildgebung hat sich gezeigt, dass es komplett durchtrennt worden ist. Das bedeutet, dass Sie unterhalb des Bauchnabels weder Gefühl haben noch in der Lage sind, sich zu bewegen. Sie werden den Rest Ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen sein.“

      „Gibt es denn gar keine Möglichkeit, das zu reparieren?“, hatte Marco gefragt, weil er sich diese Endgültigkeit nicht vorstellen konnte. „Vielleicht irgendetwas, das noch in der Probephase ist? Irgendein neues Verfahren? Ich wäre auch bereit, mich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen!“ Doch der Arzt hatte den Kopf geschüttelt.

      „Finden Sie sich damit ab, Herr Wingert. Das ist das einzige, was Sie tun können.“

      „Gibt es wirklich nichts?“, hatte Marco trotzdem noch einmal nachgehakt, diesmal aber schon kleinlauter, und seine Stimme erstarb letztlich ganz, als darauf nur wieder ein klares „Nein“ folgte.

      Das war es. Und doch weigerte Marco sich, es zu akzeptieren, denn das war alles, was ihm noch blieb. Verweigerung.

      Der Arzt hatte ihm noch in groben Zügen den weiteren Verlauf seines stationären Aufenthalts sowie die Möglichkeiten und Ziele der anschließenden Reha erklärt, doch seine Worte verklangen, noch bevor sie Marcos Bewusstsein erreicht hatten. Er hatte bloß durch den Arzt hindurch geblickt, als sei er ein Trugbild. Irreal und bedrohlich, nur dazu da, einen in die Irre zu führen. Und in diesem Zustand zwischen Wirklichkeit und Albtraum hatte Marco den restlichen Tag verbracht, war irgendwann unbemerkt eingeschlafen und nun in der Nacht erst wieder aufgewacht.

      Aufgewacht inmitten zahlloser Gespenster, die heulend durch seinen Kopf spukten.

      „Du bist behindert“, schrien sie. „Nichts mehr wert.“ „Eine Randgestalt.“ „Der Mann im Rollstuhl, mehr nicht.“ Sie schrien es immerzu und immer lauter, bis Marco die Tränen in die Augen traten, gejagt von Wut, die das Schicksal verfluchte. Eine Wut, die schließlich schützend aufbegehrte. Sie war Marcos letzter Freund, hielt zu ihm und rief den Stimmen entgegen: „Ihr habt keine Ahnung! Er ist immer noch Marco und der besteht nicht bloß aus Beinen! Er ist viel, viel mehr!“

      Schneller und schneller kreisten die Stimmen durch Marcos Kopf, der sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um sie endlich nicht mehr hören zu müssen. Er wäre gerne aufgestanden und einfach davon gelaufen, und damit war er wieder dort, wo er angefangen hatte. Gelähmt in seinem Bett, mit einem Damm, den er mühsam errichtet hatte und der kurz darauf wieder brach wegen Rückenschmerzen; die Heil bringende Klingel so nah und doch unerreichbar für ihn.

      „Hallo!“, rief er schließlich und brachte damit die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen. Er wartete und als niemand kam, rief er wieder, diesmal allerdings lauter. Er hatte beschlossen, nie wieder mit dem Rufen aufzuhören, solange, bis jemand kommen und ihn aus seiner Rückenlage befreien würde.

      So einsam, wie er geglaubt hatte, war Marco gar nicht. Schon nach seinem dritten Ruf eilte eine Schwester herbei, die ihn endlich in die gewünschte Seitenlage brachte. Es war eigenartig, von einer jungen, noch dazu hübschen Frau im Bett gewälzt zu werden, wie ein nutzloses Stück