Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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Und so war sie auf Zero gestoßen. Sie mochte seine Texte und er liebte ihre, obgleich sie sich so sehr unterschieden. Aber vielleicht war es auch genau das, was sie verband.

      Bald schon hatten sie sich E-Mails geschickt und als sie darin zufällig entdeckten, dass sie in der gleichen Stadt lebten, war der Beschluss schnell gefasst, sich auch persönlich zu treffen.

      Sarah wusste nicht viel über Zero. Allein seine Texte kannte sie und sein ungefähres Alter. Das aber war auch schon alles. Nicht einmal seinen richtigen Namen hätte sie nennen können, und wie er aussah, konnte sie sich anhand seiner Beschreibung nur ungefähr vorstellen. Aber genau das machte es so reizvoll, so spannend, so aufregend, dass sie nun mit kalten, feuchten Händen neben Tobias auf dem Beifahrersitz saß und mit klopfendem Herz aus dem Fenster starrte, bemüht, gegen ihr inneres Zittern und diese seltsam unheilvolle Ahnung anzukämpfen.

      „Siehst du, Sarah, dort vorne ist schon die Stadt. In fünf Minuten sind wir da und du bist nahezu pünktlich.“ Tobias warf Sarah ein schräges Lächeln zu. Ein für ihn typisches Lächeln. Eines, über das sie sich schon so oft geärgert hatte, weil es bloß seine Fehler überdecken sollte und in diesem Fall seine Unzuverlässigkeit. Nahezu pünktlich. So nannte er also zwanzig Minuten Verspätung. Was, wenn Zero nicht so lange warten wollte? Was, wenn er bereits wieder gegangen war? Hätte sie zwanzig Minuten auf ihr Date gewartet?

      Sarah verzichtete auf eine Antwort und weil Tobias seine Schwester kannte, trat er noch ein wenig fester auf das Gaspedal. Sarah versah ihn daraufhin mit einem kritischen Blick, doch bevor sie zu einem Protest anhob, schaute sie auf die Uhr und entschied sich zu schweigen.

      Sie waren gute zwanzig km/h zu schnell, als sie die Stadtgrenze passierten. Wie ein Wasserfall prasselte der Regen auf die Scheiben und verwandelte die Welt in ein Zerrbild aus Schatten und bunten Lichtern. Sarah sah das gezackte Grün einer Ampel auf sie zufliegen, das sich viel zu früh in ein Orange verwandelte, und während Tobias das Gas der Bremse vorzog, drückte sie instinktiv ihren rechten Fuß auf den Boden; als könne sie damit das Unheil aufhalten, das sich vor ihnen anbahnte, obgleich es noch keiner von ihnen wissen konnte.

      Erst als Tobias die Ampel bei rot überfahren hatte, nahm er seine Geschwindigkeit zurück und bog rechts ab, wobei Sarah sich an den Türgriff klammerte, um der Fliehkraft zu widerstehen. Und da plötzlich tauchte er auf, aus dem Nichts voll Nacht und Regen. Ein geisterhafter Schatten im Augenwinkel, der sich dann jedoch in eine Regenjacke mit Reflektorstreifen verwandelte. Grell warfen sie das Scheinwerferlicht zurück, auf dass es sich in den Regentropfen auf der Scheibe brach und in tausend Splitter zerbarst. Mit einem lauten Fluch stieg Tobias auf die Bremse, die Reifen quietschten, das Auto rutschte über den nassen Asphalt, während Sarah bloß bleich vor Schreck dasaß, die Hände mit aller Kraft gegen das Handschuhfach gestemmt, und in die aufgerissenen Augen des Radfahrers starrte, der unfähig war, dem unvermeidlichen Aufprall zu entgehen.

      Es folgte der Knall, Metall auf Metall, das Rumpeln eines Körpers. Er schlug auf die Motorhaube auf, rollte darüber, glitt seitlich ab und blieb schließlich neben dem Wagen liegen, welcher endlich ebenfalls zum Stehen gekommen war.

      Dann war es still. Erschreckend still. Die Straße war wie ausgestorben, das Bürogebäude und der Supermarkt um diese Uhrzeit ohne Leben, als hätte sich die ganze Welt soeben von diesem Ort abgewandt, um nicht Zeuge jenes Geschehens sein zu müssen. Der Motor des Wagens war verstummt und bloß der Regen hämmerte noch wütend auf das Blech.

      Sarah hatte zuletzt schützend einen Arm vor das Gesicht gehoben und nahm ihn erst jetzt langsam wieder herunter. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, was geschehen war und als sie ihren Bruder von der Seite ansah, blickte er einfach geradeaus, seine Augen leer, die Hände um das Lenkrad gekrallt, als könne es ihm den Halt geben, den er soeben zu verlieren drohte.

      Schließlich besann Sarah sich der Situation, riss die Tür auf, sprang aus dem Auto und lief um die Motorhaube herum, bloß um dann wie versteinert stehen zu bleiben und auf den leblosen Körper eines Mannes zu starren, der unmittelbar vor ihr lag. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er lag auf dem Bauch, das Gesicht abgewandt.

      Ungerührt stürzte der Regen auf Sarah nieder, durchnässte ihr Haar, ihre Jacke, ihre Schuhe, drang bis auf ihre Haut. Sie hätte frieren müssen, doch ihr war heiß. Viel zu heiß. Ihr Herz raste. Ihre Gedanken rasten und kamen doch zu keinem sinnvollen Ziel.

      Lebte der Mann noch? Oder hatten sie ihn umgebracht?

      Sarah versuchte zu erkennen, ob der Brustkorb sich bewegte, doch es war zu dunkel und sie wagte es nicht, sich dem Mann zu nähern. Gleichzeitig aber schalt sie sich deswegen. Sie wollte in dreieinhalb Monaten mit dem Medizinstudium beginnen, schoss es ihr durch den Kopf. Dann musste sie doch in solchen Situationen zu handeln in der Lage sein und durfte nicht tatenlos herumstehen.

      Unwillig schüttelte sie den Kopf, als erwache sie gerade aus einem seltsamen Traum. Rasch drehte sie sich um, eilte zur Fahrertür, öffnete sie und lugte hinein. Tobias saß noch immer da, bloß dass er diesmal ihren Blick erwiderte. Stumm, mit dem schieren Entsetzen auf seinen Zügen.

      „Tobias, hast du dein Handy dabei?“ Tobias gehörte zu den Ersten in Sarahs Umfeld, die ein Handy besaßen. Natürlich! Sie hatte ihn immer deswegen belächelt und ihn damit aufgezogen, wozu gerade er das denn bräuchte. Er sei viel zu unwichtig, um immer erreichbar sein zu müssen... Doch nun war sie dankbar dafür. Unendlich dankbar.

      Tobias nickte, blieb aber weiter reglos.

      „Na, dann gib es mir!“, forderte sie ihn ungeduldig auf. „Wir müssen einen Krankenwagen holen!“

      Wie ein Automat griff Tobias in seine Jackentasche, zog das klobige Handy heraus und reichte es Sarah. Sie schnappte es sich und tippte mit zittrigen Fingern die Notrufnummer ein.

      Als gefühlte Stunden später das Blaulicht am Ende der Straße auftauchte, fiel Sarah eine drückende Last von der Seele. Sie konnte im Nachhinein gar nicht genau sagen, was sie in der Zwischenzeit gemacht hatte; bloß, dass ihr die Zeit quälend lang erschienen war und sie sich derweil irgendwie dazu durchgerungen hatte, ihrem Pflichtgefühl zu gehorchen, zu dem Mann zu gehen und ihn anzusprechen.

      Er war jung, das konnte sie aus der Nähe erkennen. Nicht viel älter als sie selbst, was ihr einen schmerzhaften Stich versetzte. Doch er reagierte nicht auf ihre Ansprache. Die Augen hatte er geschlossen. Zum Glück, dachte Sarah. Wären sie offen gewesen und der Tod hätte sie womöglich daraus angestiert, es hätte sie wohl ihren ganzen Lebtag verfolgt. Aber der Mann war nicht tot, wie sie ebenfalls feststellte, denn er atmete.

      Zwischenspiel

      Der Drache besaß Mut. Mut, genährt aus dem goldenen Feuer, das in ihm brannte, heiß, voll Kraft und Leidenschaft, strahlender als die Sonne selbst. Der Funke all dessen aber lag in seiner Brust, geborgen in einem Herzen aus Glas. Bunt war es, bunt wie der Regenbogen, stark gegen die Hitze, und doch zerbrechlich.

      Als der Sturm zu seinem entscheidenden Schlag gegen den jungen Drachen ausholte, war ihm dessen Herz gleichgültig, wie dem Zufall das Schicksal gleichgültig ist. Ohne Mitleid zerriss er dem Drachen die Flügel, brach sie, und sah zu, wie dieser haltlos der Erde entgegen stürzte.

      Kapitel 2

      Marco wollte seine Augen aufschlagen, aber sie weigerten sich. Schwer wie Blei lagen sie auf seinen Augäpfeln und es kostete ihn wirklich Kraft, sie zu heben. Daher wartete er noch einen langen, müden Moment, um es dann abermals zu probieren. Diesmal gelang es ihm und ein verschwommenes Spektrum aus kalkweißem Licht und schwarzen Schatten erklärte ihm, dass er nicht zu Hause war, wie er zunächst gehofft hatte.

      Er ließ die Lider wieder sinken, tat einen tiefen Atemzug, als könne dieser ihm helfen, seine Gedanken zu klären, und versuchte mühsam, seine Erinnerung zu sortieren. Ein dumpfes Pochen in seinem Schädel hielt ihn allerdings davon ab, weiter in die Tiefe vorzudringen; und hatte er einmal einen Bilderfetzen vor Augen, so zerstob er alsbald wieder in dem grauen Nebel des Vergessens.

      So