Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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leisten, bot seine ganze Kraft auf, doch er war zu schwach. Flehend sah er Toni ins Gesicht.

      „Ich will sie sehen, Toni. Ich will meine Beine sehen! Sofort!“

      „Marco, beruhige dich“, redete Toni mit gesenkter Stimme auf ihn ein, ohne ihn dabei loszulassen, und Marco kam sich vor, wie ein kleines Kind, das man nicht ernst nahm.

      Unwirsch fegte er Tonis Hand von seiner Schulter.

      „Lass mich los, Toni! Sag mir doch endlich, was passiert ist! Ich will einen Arzt sprechen. Ich will wissen, wann das aufhört. Wann kann ich sie wieder spüren?“

      Marco fühlte Zorn in sich aufsteigen. Panischen Zorn, gepaart mit einer Ahnung, der er ganz und gar nicht weiter folgen wollte. Er fühlte sich plötzlich wie ein verwundetes Tier, das in die Ecke gedrängt wurde. Jede Berührung seines Bruders löste den unbändigen Impuls in ihm aus, danach zu schlagen und ihn anzuschreien, als könne es ihm irgendwie helfen, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, in die sein Körper ihn gerade zwang. Seine Lungen bebten, sodass sein Atem zitterte, und sein Herz raste, als wolle es ihm den Brustkorb sprengen.

      Was wäre, wenn er seine Beine nie wieder fühlen können würde? Was wäre dann? Konnte ihm etwas Derartiges widerfahren? Nein!, schrie es in Marco. Nein, das ist nicht möglich! Nicht bei ihm! Bei den anderen, aber doch nicht bei ihm!

      Marco zog weiter an seiner Decke. Er hatte das Gefühl, seine Beine hätten sich bewegt. Ein Zucken vielleicht. Ganz bestimmt! Er wollte es sehen, wollte die Bestätigung, dass sie da waren und dass sie sich bewegten, wenn er das wollte. Er würde sie bewegen können, ganz sicher, wenn er sie nur dabei sehen konnte. Dann würde es klappen!

      Tränen verschleierten seinen Blick, während er unermüdlich die Decke fortzuziehen versuchte.

      „Marco...“, brach schließlich Tonis Stimme in Marcos Verzweiflung, begleitet von seiner Hand, die er seinem kleinen Bruder auf den rechten Unterarm legte, um ihn endlich zu stoppen.

      Mit erregt auf- und absteigender Brust hielt Marco inne und sah Toni in die Augen.

      „Marco, du hattest einen Unfall. Ein Auto hat dich angefahren. Dabei hast du dir... Du hast dir die Wirbelsäule gebrochen...“

      Marco blieb stumm, sein Blick bloß starr auf Toni gerichtet.

      „Die Ärzte sagen, dass du... Naja, dass das Rückenmark verletzt ist.“

      Toni spürte plötzlich eine Trockenheit in seinem Mund, die ihm das Sprechen unmöglich machte. Er konnte es nicht. Er konnte seinem Bruder einfach nicht sagen, dass die Ärzte jegliche Hoffnung auf Genesung ausgeschlossen hatten. Er konnte ihm nicht sagen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.

      Aber er musste es auch nicht, denn Marco nickte bloß. Beinahe schien es, als ginge ihn diese Information auf einmal gar nichts mehr an. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte einfach ins Leere.

      Marco fiel. Er stürzte rücklings in einen gähnenden, schwarzen Abgrund, in den Tonis Worte ihn soeben gestoßen hatten, haltlos, mit einem Schlag seines ganzen Lebens beraubt. Er war einfach entkoppelt, unfähig, seine Gedanken mit seinem Körper zu verbinden, reglos, sprachlos.

      Rückenmark verletzt... Marco kannte das andere Wort dafür: Gelähmt...! Das sollte es nun sein? Das sollte er nun sein? Von einem Tag auf den anderen? Einfach so? Mal eben zum Krüppel geworden?

      Übelkeit kroch ihm die Kehle hinauf und es kostete ihn Mühe, sie wieder herunter zu schlucken, weil die Zunge an seinem Gaumen festklebte.

      Marco versuchte immer wieder, diese Information zu begreifen, sie mit dem Nichts unterhalb seines Bauches zu verbinden, aber er vermochte es nicht. Es war unmöglich! Nein, so einfach konnte das nicht sein! Vor wenigen Tagen war er doch noch gelaufen. Er wusste genau, wie sich das anfühlte, so einfach, so normal, so gewöhnlich. Es war schlicht weg absurd, dass er das nun nicht mehr können sollte!

      Plötzlich war Marco überzeugt, ja ganz sicher, dass dieses Horrorszenario bald vorbei sein würde. Hab Geduld, sagte er sich, in ein paar Wochen wirst du hier rausgehen und es als die furchtbarste Erinnerung deines Lebens abhaken. Marco wusste, dass es so kommen würde. Anders konnte es gar nicht sein, gleich, was die Ärzte sagen würden. Ganz gleich. Sie kannten Marco nicht. Doch er, Marco, er wusste, dass er bald wieder laufen würde.

      Er nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich wieder Toni zu. Müde sah sein Bruder aus. Erschöpft. Und in seinen Augen stand Mitleid. Marco fluchte innerlich, denn das Mitleid galt unmissverständlich ihm. Mitleid... Wie er diesen Ausdruck auf einmal hasste! Er hasste ihn, weil er ihm das Gefühl gab, sein Leben sei plötzlich nichts mehr wert, das Gefühl, als sei das Urteil nun endgültig, ein Gefühl, dass ihm jede Hoffnung zu rauben drohte. Seine kleine, mühsam an sich gerissene, mit aller Kraft festgehaltene Hoffnung.

      Marco wollte nicht, dass Toni ihn so ansah! Er ertrug es nicht.

      „Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen“, sagte er schließlich, bemüht, nach außen die Fassung zu wahren, und stellte erleichtert fest, dass er mit diesen Worten soeben Tonis Mitleid in Überraschung verwandelt hatte. Ein flüchtiges Lächeln glitt über Tonis Züge und er nickte.

      „Warum gehst du nicht nach Hause und legst dich ins Bett?“

      Toni schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Er wollte seine Hand ausstrecken, um Marco durch das Haar zu streichen, aber Marcos mahnender Blick hielt ihn zurück.

      „Später“, antwortete er stattdessen.

      „Nein, Toni, ich glaube, es täte dir gut, jetzt zu gehen.“

      Irritiert blickte Toni auf seinen Bruder herunter, der plötzlich eine eigentümliche Entschlossenheit in seinen Zügen trug. Sollte dies etwa eine Aufforderung sein?

      „Hilf mir nur noch kurz, die Decke beiseite zu nehmen, damit ich meine Beine endlich richtig sehen kann. Dann kannst du gehen.“

      Konsterniert stand Toni da, während Marco sich wieder umständlich an seiner Decke zu schaffen machte. Schließlich griff er selbst danach, schlug sie zur Seite und half Marco, den Kopf anzuheben.

      „Nein, ich will sitzen, Toni“, protestierte er, umklammerte Tonis Hand plötzlich ganz fest und wollte sich daran hochziehen, doch dieser hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.

      „Die Ärzte haben gesagt, du sollst noch für zwei Wochen flach liegen bleiben, bis die Wirbelsäule belastbar ist.“

      Wütend ließ Marco Tonis Hand wieder los und funkelte ihn an.

      „Du machst wohl immer nur, was man dir von oben vorschreibt, oder? Es ist mir egal, was die Ärzte sagen! Ich will jetzt sitzen!“

      Toni bedachte seinen Bruder mit einem unnachgiebigen Blick und schüttelte den Kopf, sodass dieser gezwungen war, sich wohl oder übel mit der Entscheidung der Ärzte abzufinden.

      Grimmig betrachtete Marco somit das, was er aus seiner bescheidenen Position heraus erkennen konnte und der Anblick tat ihm weh. Leblos lagen seine Beine da, das linke von oben bis unten in einen Gips gehüllt und das rechte mit einem Schaumstoffpolster um die Ferse versehen, um Druckstellen zu verhindern, wie er noch aus der Pflege während des Zivildienstes wusste. Allerdings hatten da die alten, bettlägerigen Patienten so etwas getragen...

      Marcos Magen krampfte sich zu einem kalten Stein zusammen und er wollte einfach nicht glauben, was er sah. Oder vielmehr, er wollte nicht glauben, dass das, was er sah, seine Beine waren. Seine Beine... Abermals versuchte er, sie zu bewegen, so wie er es seit jeher getan hatte, so wie er es seit jeher kannte. Aber es tat sich nichts. Sein Befehl, sein sehnlichster Wunsch verpuffte in dem Vakuum seines gelähmten Köpers. Immer wieder sandte Marco den Impuls aus und hoffte inständig, er möge nun endlich sein Ziel erreichen. Er lauschte in sich hinein, auf der Suche nach einer Antwort, und sei sie noch so leise, doch es herrschte Stille. Bloß die Verzweiflung hallte zurück und nistete sich in Marcos Herzen ein. Mühsam schluckte er gegen den Knoten an, der ihm die Kehle zuschnürte, und versuchte, seine Gefühle nicht zu beachten, ihnen irgendwie zu entkommen.