Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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schließlich mechanisch und hörte, wie Toni scharf den Atem einsog. Alarmiert sah er zu seinem Bruder auf.

      „Es war gebrochen“, erhielt er darauf zur Antwort, konnte aber einen Ton dabei mitschwingen hören, der noch etwas anderes erzählte.

      „Okay...? Und?“

      Toni wurde etwas fahrig in seinen Gesten.

      „Schwere Trümmerfraktur ... so nannten die Ärzte es.“

      Toni verschwieg, dass er die Ärzte nur mit Mühe davon hatte abhalten können, das Bein zu amputieren. Sie hatten es damit begründet, dass Marco es ohnehin nie wieder brauchen würde und der Bruch zu kompliziert war. Die Risiken einer weiteren Operation, die unweigerlich lange gedauert hätte, wollten sie Marco nicht zumuten. Zumal ihr Erfolg auch zweifelhaft war. Aber Toni hatte darauf bestanden. Er wusste, dass Marco es ihm nie verziehen hätte, wenn er nicht darum gekämpft hätte. Und er hatte recht damit gehabt.

      „Sie haben es mit Platten stabilisiert. Zwei Wochen muss der Gips bleiben, dann ist es wieder so gut wie neu.“ Toni lächelte und war erleichtert, dass seine Aussage Marco zufrieden zu stellen schien. Mit einem Nicken wandte dieser seinen Blick wieder auf sein eingegipstes Bein und blieb zuletzt an seinen Zehen hängen.

      „Eigentlich müsste ich jetzt mit ihnen wackeln...“, stellte er benommen fest. Dann schwieg er, die Augen weiterhin auf seine Füße gerichtet. Toni fragte sich, ob Marco es tatsächlich gerade versuchte, aber die Zehen blieben still. Nicht einmal ein leises Zucken war zu sehen und Toni konnte sich nicht gegen das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend wehren, das diesen Anblick begleitete.

      „Danke“, durchbrach Marco schließlich den Moment der Beklemmung, der sich gerade wie eine schwere Decke über die beiden Brüder legen wollte. Dabei achtete er jedoch sehr genau darauf, Toni bloß auf die Lippen zu schauen. Nicht in die Augen, wo er den Schmerz hätte lesen können, den sein Bruder für ihn fühlte. Und um irgendetwas zu tun, zog er an seiner Bettdecke, um sie wieder über das zu schlagen, was er nicht mehr sehen wollte. Doch er scheiterte. Notgedrungen musste er zusehen, wie Toni daraufhin selbst Hand anlegte und seine tauben Beine endlich unsichtbar wurden.

      Mit einem Schraubstock um die Brust, der bei jedem Atemzug enger wurde, wartete Marco darauf, dass Toni gehen würde, und als dieser zögerte, nickte er ihm aufmunternd zu. Sogar ein Lächeln rang er sich ab. Ein Lächeln, was sagen wollte, dass alles gut war und Toni sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ein Lächeln, wie Marco es seinem Bruder und seiner Mutter schon oft geschenkt hatte, weil sie stets so sehr danach verlangt hatten in ihrem Leben voller Lasten. Dafür hatte er selbst in dem Luxus der Unbeschwertheit groß werden dürfen. Unbeschwertheit, erkämpft mit einem Lächeln und vielen verschwiegenen Gefühlen. Jetzt machte Marco sich diese Errungenschaft von damals wieder zu nutze.

      „Es ist wirklich okay für dich, wenn ich jetzt gehe?“, versicherte Toni sich noch einmal und als Marco abermals nickte, fühlte er sich erleichtert. Das schlechte Gewissen wollte zwar noch nicht gänzlich aus seinen Gedanken weichen, aber zuletzt rang er sich dazu durch, Marcos Aufforderung genüge zu tun. Er tätschelte seinem kleinen Bruder zum Abschied den Arm. Dann ging er zu dem Sessel, hob das Skript auf, steckte es in seine Aktentasche und wandte sich zum Gehen. An der Tür blickte er noch einmal zurück und sah Marco weiterhin lächeln. Zwar wirkte es ein wenig eingefroren, aber bevor Toni daran Anstoß nehmen konnte, winkte Marco ihm zu.

      „Bis morgen.“

      Toni nickte. „Bis morgen, Marco. Wenn etwas ist...“

      „Ja, ich weiß. Ich komm schon klar.“

      Abermals nickte Toni. Dann ging er endlich.

      Marco hielt gerade eben so lange durch, bis der Rücken seines Bruders verschwunden war, dann brach die Welt über ihm zusammen. Er konnte es gar nicht verhindern. Die Tränen bahnten sich einfach ihren Weg, rannen ihm die Wangen herunter und raubten ihm die Luft zum Atmen. Marco versuchte, sie fortzuwischen, doch es kamen nur noch mehr. Schließlich vergrub er sein Gesicht schluchzend in beiden Händen und ließ den Tränen ihren Lauf.

      Zwischenspiel

      Der Drache lag am Boden, während der Sturm sich über ihm schlafen legte. Beinahe zärtlich kräuselte der Wind nun über den geschundenen Körper, verfing sich in den Fetzen, die von den einst stolzen Flügeln übrig geblieben waren, und zupfte daran. Als der Drache seine Augen aufschlug, konnte er sehen, wie sich die zarte Haut darunter hin und herbewegte, ohne dass sie seinem Willen gehorchte. Ein Schmerz durchzog seine Brust, schneidend und blutend, denn sein gläsernes Herz hatte einen Sprung erlitten. Er gab seinen Schwingen den Befehl, sich auszubreiten, doch sie blieben reglos und tot.

      „Gut“, sagte er sich, „ich will warten. Sie werden heilen, brauchen bloß Zeit. Solange werde ich warten.“

      Der Wind lachte über die Gedanken des Drachen. Hoffnung, welch seltsame Eigenschaft...

      Kapitel 3

      Sarah schrieb:

      „Hi Zero,

      wie soll ich beginnen, damit Du mir glaubst? Es ist kompliziert... Ach, selbst das klingt schon wieder so abgedroschen. Aber diesmal ist es tatsächlich kompliziert.

      Vorab: ich wollte kommen. Wirklich!

      Wie Du gemerkt haben wirst, war ich dennoch nicht da. Es tut mir so leid, aber bevor Du jetzt denkst, ich suche bloß nach Ausreden, so lies, was der Grund dafür war.

      Ich war zu spät, was nicht einmal meine Schuld war. Mein Bruder hatte das Auto und er hatte mir versprochen, es mir pünktlich zu übergeben. Natürlich hat er das nicht. Er bestand darauf, mich zum „Knülle“ zu fahren und er war verdammt schnell. Zu schnell. Ich will es nicht länger machen, als es ist. Kurz: er war zu schnell und hat einen Radfahrer übersehen. Er hat ihn angefahren.

      Zum Glück hat der Mann überlebt, aber er war bewusstlos und ich glaube, auch schwer verletzt. Ich habe den Krankenwagen gerufen, der ihn dann gleich in die Klinik gebracht hat. Marco heißt er. Marco Wingert. Sein Portemonnaie hatte auf der Straße gelegen und ich habe es aufgehoben und hinein gesehen. Da war sein Ausweis... Zero, stell Dir vor, er war... nein, ist erst dreiundzwanzig. Und auf dem Foto sah er nett aus. Irgendwie unbeschwert...

      Das hat mich völlig fertig gemacht. Kannst Du das nachvollziehen? Ich weiß nicht, was mit ihm genau geschehen ist. Aber es muss etwas Schlimmeres gewesen sein, denn als ich ihn am nächsten Tag im Krankenhaus besuchen wollte, um mich zu entschuldigen, erfuhr ich, dass er direkt verlegt worden ist, in die Unfallklinik. Ich bin dann sogar dorthin gefahren, aber er lag auf der Intensivstation und ich durfte nicht rein. Nur Angehörigen ist das erlaubt.

      Zero, es ist so schrecklich, aber über dem Gebäudeabschnitt, in dem er lag, hing ein Schild. Abteilung für Rückenmarksverletzungen und Wirbelsäulenchirurgie.

      Ich habe Angst. Angst, dass wir diesem Marco das Leben zerstört haben. Ich habe Angst, weil wir Schuld sind und ich damit niemals leben kann, wenn er einen dauerhaften Schaden erlitten hat. Ich würde es so gerne wieder gut machen oder ihm wenigstens etwas geben, ihm helfen oder irgendetwas. Aber ich fühle mich so hilflos!

      Es tut mir leid, dass ich Dich damit jetzt so überfalle, aber ich musste es loswerden, mit jemandem teilen. Und Du warst der erste, der mir einfiel, obwohl wir uns doch kaum kennen. Vielleicht ja auch genau deshalb.

      Meinem Bruder geht es noch viel schlechter als mir. Meine Mutter hat ihn schon zum Psychologen geschleppt. Mit ihm kann ich zur Zeit überhaupt nicht darüber reden.

      Zero, sag mir, was soll ich tun? Soll ich noch einmal versuchen, diesen Marco zu besuchen? Oder ist das total verkehrt? Er wird mich hassen! Aber ich kann nicht anders, ich möchte einmal mit ihm sprechen, ihm wenigstens sagen, dass es mir leid tut. Ach, Zero, ich bin wirklich verzweifelt!

      Ich hoffe auf eine Antwort von Dir!

      Die Blaue Rose“

      Sarah saß noch lange vor